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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Weltpolitik, von Frankreich aus gesehen

land militärisch fertig werden zu können, ist der Grad der Bedrohung Deutsch¬
lands von seiner östlichen Grenze her. Auf diesen Punkt ist die französische
Politik zurzeit in höchstem Grade eingestellt. Es wird alles darauf angelegt,
Rußland militärisch möglichst stark, Österreich-Ungarn als Verbündeten Deutsch¬
lands möglichst schwach zu machen. Zu diesem letzteren Zweck sucht man einer¬
seits die Balkanslawen zu benutzen, andererseits die Wühlarbeit in Galizien
zu fördern.

Die Beurteilung der Lage mit Bezug auf die deutsche Ostgrenze war in
Frankreich bis vor ganz kurzer Zeit folgende: Rußland wird mit seiner
Mobilisierung so spät fertig werden, daß der weitaus überwiegende Teil der
deutschen Landmacht mit voller Wucht auf Frankreich wird drücken können.
Erst nach der in diesem Fall zu gewärtigenden Niederschmetterung des
französischen Heeres könnte Deutschland dann in aller Ruhe die Säuberung
seiner Ostgrenze vornehmen, darüber hinaus sich eines Teils von Russisch-Polen
bemächtigen und am Ende gar Rußland noch weiter treffen, indem es dem
gesamten Kleinrussentum zur Selbständigkeit verhilft und die 25 bis 30 Millionen
Ukrainer ein eigenes Staatswesen bilden läßt. Das ist ein Plan, den namentlich
polnische Politiker und ihre französischen Freunde Deutschland seit langem zu¬
schreiben, und aus dieser Idee erklärt sich auch der große Eifer, der augenblicklich
polnischerseits entfaltet wird, um die völlig harmlosen Beziehungen zwischen
dem Deutschen Ostmarkenverein und den galizischen Ruthenen -- die sich lediglich
auf die Heranziehung ruthenischer Wanderarbeiter nach Deutschland erstrecken --
zu einem Hochverratsversuch umzuprägen.

Neben der bisherigen Langsamkeit des russischen Mobilmachungsoerfahrens
war es die Gefahr einer Revolution in Russisch-Polen im Kriegsfall, von der
man eine ernste Schwächung des russischen Auftretens gegen Deutschland auf
französischer Seite befürchtete. Die französische Politik hat sich seit Anbeginn
der französisch-russischen Bündnisbeziehungen aus diesem Grunde angelegen sein
lassen, auf eine wesentliche Besserung des Verhältnisses zwischen Russen und
Polen hinzuwirken. Insbesondere war es gelungen, den verstorbenen Minister¬
präsidenten Stolnpin diesem Plan dienstbar zu machen. Er hatte, wie kürzlich
durch das Organ seines Bruders ausgeplaudert worden ist, ein russisch-polnisches
Übereinkommen ausgearbeitet, das nicht nur die russischen, sondern auch die
galizischen Polen für Rußland gewinnen sollte. Die von Rußland aus mit
den verschiedensten Mitteln betriebenen Wühlereien sind in letzter Zeit ja hin¬
länglich bekannt geworden. Man braucht nur an den galizischen Auswanderungs¬
skandal zu denken und an die von Rußland aus unter den galizischen Ruthenen
betriebene Agitation auf kirchlichem Gebiet. In dem für alle Korruption so
zugänglichen galizischen Lande rollte der russische Rubel während der letzten
Jahre in ausgedehntesten Maße.

Die von französischer Seite unternommenen Versuche, eine russisch-polnische
Annäherung -- sei es durch gutes Zureden, sei es durch Drohungen -- zu


Weltpolitik, von Frankreich aus gesehen

land militärisch fertig werden zu können, ist der Grad der Bedrohung Deutsch¬
lands von seiner östlichen Grenze her. Auf diesen Punkt ist die französische
Politik zurzeit in höchstem Grade eingestellt. Es wird alles darauf angelegt,
Rußland militärisch möglichst stark, Österreich-Ungarn als Verbündeten Deutsch¬
lands möglichst schwach zu machen. Zu diesem letzteren Zweck sucht man einer¬
seits die Balkanslawen zu benutzen, andererseits die Wühlarbeit in Galizien
zu fördern.

Die Beurteilung der Lage mit Bezug auf die deutsche Ostgrenze war in
Frankreich bis vor ganz kurzer Zeit folgende: Rußland wird mit seiner
Mobilisierung so spät fertig werden, daß der weitaus überwiegende Teil der
deutschen Landmacht mit voller Wucht auf Frankreich wird drücken können.
Erst nach der in diesem Fall zu gewärtigenden Niederschmetterung des
französischen Heeres könnte Deutschland dann in aller Ruhe die Säuberung
seiner Ostgrenze vornehmen, darüber hinaus sich eines Teils von Russisch-Polen
bemächtigen und am Ende gar Rußland noch weiter treffen, indem es dem
gesamten Kleinrussentum zur Selbständigkeit verhilft und die 25 bis 30 Millionen
Ukrainer ein eigenes Staatswesen bilden läßt. Das ist ein Plan, den namentlich
polnische Politiker und ihre französischen Freunde Deutschland seit langem zu¬
schreiben, und aus dieser Idee erklärt sich auch der große Eifer, der augenblicklich
polnischerseits entfaltet wird, um die völlig harmlosen Beziehungen zwischen
dem Deutschen Ostmarkenverein und den galizischen Ruthenen — die sich lediglich
auf die Heranziehung ruthenischer Wanderarbeiter nach Deutschland erstrecken —
zu einem Hochverratsversuch umzuprägen.

Neben der bisherigen Langsamkeit des russischen Mobilmachungsoerfahrens
war es die Gefahr einer Revolution in Russisch-Polen im Kriegsfall, von der
man eine ernste Schwächung des russischen Auftretens gegen Deutschland auf
französischer Seite befürchtete. Die französische Politik hat sich seit Anbeginn
der französisch-russischen Bündnisbeziehungen aus diesem Grunde angelegen sein
lassen, auf eine wesentliche Besserung des Verhältnisses zwischen Russen und
Polen hinzuwirken. Insbesondere war es gelungen, den verstorbenen Minister¬
präsidenten Stolnpin diesem Plan dienstbar zu machen. Er hatte, wie kürzlich
durch das Organ seines Bruders ausgeplaudert worden ist, ein russisch-polnisches
Übereinkommen ausgearbeitet, das nicht nur die russischen, sondern auch die
galizischen Polen für Rußland gewinnen sollte. Die von Rußland aus mit
den verschiedensten Mitteln betriebenen Wühlereien sind in letzter Zeit ja hin¬
länglich bekannt geworden. Man braucht nur an den galizischen Auswanderungs¬
skandal zu denken und an die von Rußland aus unter den galizischen Ruthenen
betriebene Agitation auf kirchlichem Gebiet. In dem für alle Korruption so
zugänglichen galizischen Lande rollte der russische Rubel während der letzten
Jahre in ausgedehntesten Maße.

Die von französischer Seite unternommenen Versuche, eine russisch-polnische
Annäherung — sei es durch gutes Zureden, sei es durch Drohungen — zu


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[0304] Weltpolitik, von Frankreich aus gesehen land militärisch fertig werden zu können, ist der Grad der Bedrohung Deutsch¬ lands von seiner östlichen Grenze her. Auf diesen Punkt ist die französische Politik zurzeit in höchstem Grade eingestellt. Es wird alles darauf angelegt, Rußland militärisch möglichst stark, Österreich-Ungarn als Verbündeten Deutsch¬ lands möglichst schwach zu machen. Zu diesem letzteren Zweck sucht man einer¬ seits die Balkanslawen zu benutzen, andererseits die Wühlarbeit in Galizien zu fördern. Die Beurteilung der Lage mit Bezug auf die deutsche Ostgrenze war in Frankreich bis vor ganz kurzer Zeit folgende: Rußland wird mit seiner Mobilisierung so spät fertig werden, daß der weitaus überwiegende Teil der deutschen Landmacht mit voller Wucht auf Frankreich wird drücken können. Erst nach der in diesem Fall zu gewärtigenden Niederschmetterung des französischen Heeres könnte Deutschland dann in aller Ruhe die Säuberung seiner Ostgrenze vornehmen, darüber hinaus sich eines Teils von Russisch-Polen bemächtigen und am Ende gar Rußland noch weiter treffen, indem es dem gesamten Kleinrussentum zur Selbständigkeit verhilft und die 25 bis 30 Millionen Ukrainer ein eigenes Staatswesen bilden läßt. Das ist ein Plan, den namentlich polnische Politiker und ihre französischen Freunde Deutschland seit langem zu¬ schreiben, und aus dieser Idee erklärt sich auch der große Eifer, der augenblicklich polnischerseits entfaltet wird, um die völlig harmlosen Beziehungen zwischen dem Deutschen Ostmarkenverein und den galizischen Ruthenen — die sich lediglich auf die Heranziehung ruthenischer Wanderarbeiter nach Deutschland erstrecken — zu einem Hochverratsversuch umzuprägen. Neben der bisherigen Langsamkeit des russischen Mobilmachungsoerfahrens war es die Gefahr einer Revolution in Russisch-Polen im Kriegsfall, von der man eine ernste Schwächung des russischen Auftretens gegen Deutschland auf französischer Seite befürchtete. Die französische Politik hat sich seit Anbeginn der französisch-russischen Bündnisbeziehungen aus diesem Grunde angelegen sein lassen, auf eine wesentliche Besserung des Verhältnisses zwischen Russen und Polen hinzuwirken. Insbesondere war es gelungen, den verstorbenen Minister¬ präsidenten Stolnpin diesem Plan dienstbar zu machen. Er hatte, wie kürzlich durch das Organ seines Bruders ausgeplaudert worden ist, ein russisch-polnisches Übereinkommen ausgearbeitet, das nicht nur die russischen, sondern auch die galizischen Polen für Rußland gewinnen sollte. Die von Rußland aus mit den verschiedensten Mitteln betriebenen Wühlereien sind in letzter Zeit ja hin¬ länglich bekannt geworden. Man braucht nur an den galizischen Auswanderungs¬ skandal zu denken und an die von Rußland aus unter den galizischen Ruthenen betriebene Agitation auf kirchlichem Gebiet. In dem für alle Korruption so zugänglichen galizischen Lande rollte der russische Rubel während der letzten Jahre in ausgedehntesten Maße. Die von französischer Seite unternommenen Versuche, eine russisch-polnische Annäherung — sei es durch gutes Zureden, sei es durch Drohungen — zu

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/304>, abgerufen am 04.01.2025.