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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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ZVeltpolitik, von Frankreich aus gesehen

Ostgrenze endgültig zu verzichten, und diesen Verzicht zu verbinden mit dem
Versuch, den stärksten Nachbarn im Osten zu einer Beschäftigung der britischen
Flotte zu veranlassen, die Frankreich freie Hand für die Fortführung der Mittel¬
meerpolitik hätte bieten können; oder aber die Ziele der Mittelmeerpolitil mußten
zurückgesteckt werden, um England zur Beihilfe zu gewinnen, wenn Frankreich
die weitere Verschiebung seiner Ostgrenze zu verfolgen nicht aufhören wollte.
Das damalige Wiederaufflammen der traditionellen englisch - französischen Gegen¬
sätze knüpfte an den inzwischen durch englische Höflichkeit von der Landkarte
verschwundenen Namen "Faschoda" an. Es gelang Frankreich nicht, den für
eine kurze Zeitspanne erwogenen Plan durchzuführen, Deutschland als Sturm¬
bock gegen England zu benutzen; es mußte der andere Weg gewählt werden,
die Verständigung mit England gegen Deutschland und über die Mittelmeer¬
politik.

Die durch ein volles Jahrhundert geträumten französischen Ägnptentrüume,
denen die Welt das große Kulturwerk des Suezkanals verdankt, waren end¬
gültig ausgeträumt. Die afrikanische Nordküste sollte zwischen Frankreich und
England geteilt werden dergestalt, daß England seine ägyptische Position nun¬
mehr nicht im Gegensatz zu Frankreich, sondern mit französischem Einverständnis
und dem Hintergedanken behaupten konnte, sie nach Ost und West und Süd
noch weiter auszubauen, Frankreich dagegen zu Algier und Tunis auch noch
Marokko mit Ausnahme des Gibraltar gegenüberliegenden Küstenstreifens und
die Aussicht auf östliche Ausdehnung erhielt. Allerdings war es, um im
Mittelmeer nicht weiter gestört zu werden, notwendig, auch die Einwilligung
Italiens in die französischen Marokkopläne zu erkaufen durch das Zugeständnis
freier Hand für Italien in Tripolis. Aber die hierüber getroffenen Verein¬
barungen hinderten Frankreich und England nicht, sich im Hinterkante an die
Anknabberung von Tripolis zu machen, wodurch Italien sich veranlaßt sah, viel
zeitiger, als man es in Frankreich erwartet hatte, tatsächlich an die Einholung
der französtscherseits nur als Fata Morgana betrachteten Tripolisbeute zu gehen.
England für seinen Teil verstand ja noch während der italienischen Aktion eine
westliche Abrundung seiner Nordasrikastellung herbeizuführen.

Mit England ist Frankreich über die Mittelmeerfrage vorläufig nun so
ziemlich im Reinen, aber eben nur so ziemlich und nur vorläufig. Es ist ihm
nicht gelungen, wie es vor kurzer Zeit vorübergehend gehofft, von England die
Ausübung der vollen Polizeigewalt im Mittelmeer eingeräumt zu bekommen.
Es ist ihm trotz theoretischer Zugeständnisse praktisch auch noch nicht gelungen,
mit Englands Einwilligung dahin zu gelangen, daß die Flotte des verbündeten
Nußland zur Unterstützung der französischen im Mittelmeer freien Durchgang
durch die Dardanellen erhält. England hat feine maritime Mittelmeerposition
nicht aufgegeben, sondern ist wieder dabei, sie weiter auszubauen. Auch im
Hinblick auf Vorderasten sind die alten englisch-französischen Gegensätze nicht
ganz geschwunden. Frankreich geht zwar nicht ohne englische Einwilligung seinen


ZVeltpolitik, von Frankreich aus gesehen

Ostgrenze endgültig zu verzichten, und diesen Verzicht zu verbinden mit dem
Versuch, den stärksten Nachbarn im Osten zu einer Beschäftigung der britischen
Flotte zu veranlassen, die Frankreich freie Hand für die Fortführung der Mittel¬
meerpolitik hätte bieten können; oder aber die Ziele der Mittelmeerpolitil mußten
zurückgesteckt werden, um England zur Beihilfe zu gewinnen, wenn Frankreich
die weitere Verschiebung seiner Ostgrenze zu verfolgen nicht aufhören wollte.
Das damalige Wiederaufflammen der traditionellen englisch - französischen Gegen¬
sätze knüpfte an den inzwischen durch englische Höflichkeit von der Landkarte
verschwundenen Namen „Faschoda" an. Es gelang Frankreich nicht, den für
eine kurze Zeitspanne erwogenen Plan durchzuführen, Deutschland als Sturm¬
bock gegen England zu benutzen; es mußte der andere Weg gewählt werden,
die Verständigung mit England gegen Deutschland und über die Mittelmeer¬
politik.

Die durch ein volles Jahrhundert geträumten französischen Ägnptentrüume,
denen die Welt das große Kulturwerk des Suezkanals verdankt, waren end¬
gültig ausgeträumt. Die afrikanische Nordküste sollte zwischen Frankreich und
England geteilt werden dergestalt, daß England seine ägyptische Position nun¬
mehr nicht im Gegensatz zu Frankreich, sondern mit französischem Einverständnis
und dem Hintergedanken behaupten konnte, sie nach Ost und West und Süd
noch weiter auszubauen, Frankreich dagegen zu Algier und Tunis auch noch
Marokko mit Ausnahme des Gibraltar gegenüberliegenden Küstenstreifens und
die Aussicht auf östliche Ausdehnung erhielt. Allerdings war es, um im
Mittelmeer nicht weiter gestört zu werden, notwendig, auch die Einwilligung
Italiens in die französischen Marokkopläne zu erkaufen durch das Zugeständnis
freier Hand für Italien in Tripolis. Aber die hierüber getroffenen Verein¬
barungen hinderten Frankreich und England nicht, sich im Hinterkante an die
Anknabberung von Tripolis zu machen, wodurch Italien sich veranlaßt sah, viel
zeitiger, als man es in Frankreich erwartet hatte, tatsächlich an die Einholung
der französtscherseits nur als Fata Morgana betrachteten Tripolisbeute zu gehen.
England für seinen Teil verstand ja noch während der italienischen Aktion eine
westliche Abrundung seiner Nordasrikastellung herbeizuführen.

Mit England ist Frankreich über die Mittelmeerfrage vorläufig nun so
ziemlich im Reinen, aber eben nur so ziemlich und nur vorläufig. Es ist ihm
nicht gelungen, wie es vor kurzer Zeit vorübergehend gehofft, von England die
Ausübung der vollen Polizeigewalt im Mittelmeer eingeräumt zu bekommen.
Es ist ihm trotz theoretischer Zugeständnisse praktisch auch noch nicht gelungen,
mit Englands Einwilligung dahin zu gelangen, daß die Flotte des verbündeten
Nußland zur Unterstützung der französischen im Mittelmeer freien Durchgang
durch die Dardanellen erhält. England hat feine maritime Mittelmeerposition
nicht aufgegeben, sondern ist wieder dabei, sie weiter auszubauen. Auch im
Hinblick auf Vorderasten sind die alten englisch-französischen Gegensätze nicht
ganz geschwunden. Frankreich geht zwar nicht ohne englische Einwilligung seinen


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[0302] ZVeltpolitik, von Frankreich aus gesehen Ostgrenze endgültig zu verzichten, und diesen Verzicht zu verbinden mit dem Versuch, den stärksten Nachbarn im Osten zu einer Beschäftigung der britischen Flotte zu veranlassen, die Frankreich freie Hand für die Fortführung der Mittel¬ meerpolitik hätte bieten können; oder aber die Ziele der Mittelmeerpolitil mußten zurückgesteckt werden, um England zur Beihilfe zu gewinnen, wenn Frankreich die weitere Verschiebung seiner Ostgrenze zu verfolgen nicht aufhören wollte. Das damalige Wiederaufflammen der traditionellen englisch - französischen Gegen¬ sätze knüpfte an den inzwischen durch englische Höflichkeit von der Landkarte verschwundenen Namen „Faschoda" an. Es gelang Frankreich nicht, den für eine kurze Zeitspanne erwogenen Plan durchzuführen, Deutschland als Sturm¬ bock gegen England zu benutzen; es mußte der andere Weg gewählt werden, die Verständigung mit England gegen Deutschland und über die Mittelmeer¬ politik. Die durch ein volles Jahrhundert geträumten französischen Ägnptentrüume, denen die Welt das große Kulturwerk des Suezkanals verdankt, waren end¬ gültig ausgeträumt. Die afrikanische Nordküste sollte zwischen Frankreich und England geteilt werden dergestalt, daß England seine ägyptische Position nun¬ mehr nicht im Gegensatz zu Frankreich, sondern mit französischem Einverständnis und dem Hintergedanken behaupten konnte, sie nach Ost und West und Süd noch weiter auszubauen, Frankreich dagegen zu Algier und Tunis auch noch Marokko mit Ausnahme des Gibraltar gegenüberliegenden Küstenstreifens und die Aussicht auf östliche Ausdehnung erhielt. Allerdings war es, um im Mittelmeer nicht weiter gestört zu werden, notwendig, auch die Einwilligung Italiens in die französischen Marokkopläne zu erkaufen durch das Zugeständnis freier Hand für Italien in Tripolis. Aber die hierüber getroffenen Verein¬ barungen hinderten Frankreich und England nicht, sich im Hinterkante an die Anknabberung von Tripolis zu machen, wodurch Italien sich veranlaßt sah, viel zeitiger, als man es in Frankreich erwartet hatte, tatsächlich an die Einholung der französtscherseits nur als Fata Morgana betrachteten Tripolisbeute zu gehen. England für seinen Teil verstand ja noch während der italienischen Aktion eine westliche Abrundung seiner Nordasrikastellung herbeizuführen. Mit England ist Frankreich über die Mittelmeerfrage vorläufig nun so ziemlich im Reinen, aber eben nur so ziemlich und nur vorläufig. Es ist ihm nicht gelungen, wie es vor kurzer Zeit vorübergehend gehofft, von England die Ausübung der vollen Polizeigewalt im Mittelmeer eingeräumt zu bekommen. Es ist ihm trotz theoretischer Zugeständnisse praktisch auch noch nicht gelungen, mit Englands Einwilligung dahin zu gelangen, daß die Flotte des verbündeten Nußland zur Unterstützung der französischen im Mittelmeer freien Durchgang durch die Dardanellen erhält. England hat feine maritime Mittelmeerposition nicht aufgegeben, sondern ist wieder dabei, sie weiter auszubauen. Auch im Hinblick auf Vorderasten sind die alten englisch-französischen Gegensätze nicht ganz geschwunden. Frankreich geht zwar nicht ohne englische Einwilligung seinen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/302>, abgerufen am 01.01.2025.