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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Goethes Vater

fluß auf mich, der sich späterhin auf mehr als eine Weise lebendig erwies"*).
Diese Worte des Dichters sind eine glänzende Anerkennung der Erziehungs¬
methode des Vaters.

Außer der Beschäftigung mit der Zeichenkunst wurde im Goethischen Hause
eifrig die Musik gepflegt. Sämtliche Familienmitglieder spielten ein Instrument;
der alte Rat selbst verstand außer dem Flötenblasen die Laute zu spielen und
nicht übel zu singen. Aber auch hier durfte es nicht bei einem bloß spielerischen
Zeitvertreib bleiben; denn war einmal etwas angefangen, so verlangte der Rat,
wie von sich, auch von den Kindern, daß es zu Ende gebracht werde. Er
forderte Resultate. Dieser vorzügliche Grundsatz, nach dem allerdings mit
unglaublicher Pedanterie verfahren wurde, hat den Kindern manche unerträgliche
Stunde gebracht.

Goethe erzählt von Winterabenden, an denen die Familie zusammen die
Geschichte der Päpste von Bower las. Sie verzweifelten sämtlich dabei und der
Vater war mitunter der erste, der zu gähnen anfing. "Es war ein fürchter¬
licher Zustand", sagt Goethe, "in dem wenig oder nichts, was in jenen
kirchlichen Verhältnissen vorkommt, Kinder und junge Leute ansprechen kann.
Indessen ist mir bei aller Unachtsamkeit und allem Widerwillen doch von jener
Vorlesung so viel geblieben, daß ich in späterer Zeit manches daran zu knüpfen
imstande war"**). Wir müssen also somit annehmen, daß der kaiserliche Rat
seinen Zweck erreicht hat.

Daß Cornelie, die ohnehin ein unfroher Charakter war, die sich nicht ein¬
mal mit der Mutter verstehen konnte, unter diesen erzieherischen Prinzipien des
Vaters, besonders zu der Zeit litt, als der Bruder in Leipzig weilte, liegt auf
der Hand. Sie hatte niemand, mit dem sie sich aussprechen konnte, sehnte sich
nach dem geliebten Bruder und steigerte durch ihren Widerwillen gegen das
vom Vater Geforderte die Empfindungen des Zwanges bis zur Unerträglichkeit.
Dem Vater war allerdings durch seine übertriebene Selbstzucht das Verständnis
für die Berechtigung jugendlicher Wünsche verlorengegangen. Außerdem fehlte
ihm zu jener Zeit eine zielbewußte Tätigkeit, da die Kinder seinem Unterricht
entwachsen waren. Diese veränderten Verhältnisse anzuerkennen und die Kinder
als selbständige Menschen zu betrachten, fiel ihm deshalb doppelt schwer.

Zu den Lehrmitteln, die der alte Goethe aufgriff, dienten auch seine Lieb¬
habereien und Sammlungen, deren Grundstock er zum Teil auf seiner italienischen
Reise erworben hatte. Es ist falsch zu behaupten, der Aufenthalt in Italien
sei ohne nennenswerten Gewinn für Johann Kaspar Goethe gewesen, wie es
von biographischer Seite geschehen ist***). Diese Behauptung stützt sich auf einige
der wenigen Briefe, die uns von Goethes Vater erhalten sind. Einer von ihnen,
den Merck einen Handwerksburschenbrief genannt hat, schließt mit den Worten:





") Goethe: "Dichtung und Wahrheit".
") Ebenda.
Heinemann: "Goethes Mutter", S. 16.
Goethes Vater

fluß auf mich, der sich späterhin auf mehr als eine Weise lebendig erwies"*).
Diese Worte des Dichters sind eine glänzende Anerkennung der Erziehungs¬
methode des Vaters.

Außer der Beschäftigung mit der Zeichenkunst wurde im Goethischen Hause
eifrig die Musik gepflegt. Sämtliche Familienmitglieder spielten ein Instrument;
der alte Rat selbst verstand außer dem Flötenblasen die Laute zu spielen und
nicht übel zu singen. Aber auch hier durfte es nicht bei einem bloß spielerischen
Zeitvertreib bleiben; denn war einmal etwas angefangen, so verlangte der Rat,
wie von sich, auch von den Kindern, daß es zu Ende gebracht werde. Er
forderte Resultate. Dieser vorzügliche Grundsatz, nach dem allerdings mit
unglaublicher Pedanterie verfahren wurde, hat den Kindern manche unerträgliche
Stunde gebracht.

Goethe erzählt von Winterabenden, an denen die Familie zusammen die
Geschichte der Päpste von Bower las. Sie verzweifelten sämtlich dabei und der
Vater war mitunter der erste, der zu gähnen anfing. „Es war ein fürchter¬
licher Zustand", sagt Goethe, „in dem wenig oder nichts, was in jenen
kirchlichen Verhältnissen vorkommt, Kinder und junge Leute ansprechen kann.
Indessen ist mir bei aller Unachtsamkeit und allem Widerwillen doch von jener
Vorlesung so viel geblieben, daß ich in späterer Zeit manches daran zu knüpfen
imstande war"**). Wir müssen also somit annehmen, daß der kaiserliche Rat
seinen Zweck erreicht hat.

Daß Cornelie, die ohnehin ein unfroher Charakter war, die sich nicht ein¬
mal mit der Mutter verstehen konnte, unter diesen erzieherischen Prinzipien des
Vaters, besonders zu der Zeit litt, als der Bruder in Leipzig weilte, liegt auf
der Hand. Sie hatte niemand, mit dem sie sich aussprechen konnte, sehnte sich
nach dem geliebten Bruder und steigerte durch ihren Widerwillen gegen das
vom Vater Geforderte die Empfindungen des Zwanges bis zur Unerträglichkeit.
Dem Vater war allerdings durch seine übertriebene Selbstzucht das Verständnis
für die Berechtigung jugendlicher Wünsche verlorengegangen. Außerdem fehlte
ihm zu jener Zeit eine zielbewußte Tätigkeit, da die Kinder seinem Unterricht
entwachsen waren. Diese veränderten Verhältnisse anzuerkennen und die Kinder
als selbständige Menschen zu betrachten, fiel ihm deshalb doppelt schwer.

Zu den Lehrmitteln, die der alte Goethe aufgriff, dienten auch seine Lieb¬
habereien und Sammlungen, deren Grundstock er zum Teil auf seiner italienischen
Reise erworben hatte. Es ist falsch zu behaupten, der Aufenthalt in Italien
sei ohne nennenswerten Gewinn für Johann Kaspar Goethe gewesen, wie es
von biographischer Seite geschehen ist***). Diese Behauptung stützt sich auf einige
der wenigen Briefe, die uns von Goethes Vater erhalten sind. Einer von ihnen,
den Merck einen Handwerksburschenbrief genannt hat, schließt mit den Worten:





") Goethe: „Dichtung und Wahrheit".
") Ebenda.
Heinemann: „Goethes Mutter", S. 16.
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[0267] Goethes Vater fluß auf mich, der sich späterhin auf mehr als eine Weise lebendig erwies"*). Diese Worte des Dichters sind eine glänzende Anerkennung der Erziehungs¬ methode des Vaters. Außer der Beschäftigung mit der Zeichenkunst wurde im Goethischen Hause eifrig die Musik gepflegt. Sämtliche Familienmitglieder spielten ein Instrument; der alte Rat selbst verstand außer dem Flötenblasen die Laute zu spielen und nicht übel zu singen. Aber auch hier durfte es nicht bei einem bloß spielerischen Zeitvertreib bleiben; denn war einmal etwas angefangen, so verlangte der Rat, wie von sich, auch von den Kindern, daß es zu Ende gebracht werde. Er forderte Resultate. Dieser vorzügliche Grundsatz, nach dem allerdings mit unglaublicher Pedanterie verfahren wurde, hat den Kindern manche unerträgliche Stunde gebracht. Goethe erzählt von Winterabenden, an denen die Familie zusammen die Geschichte der Päpste von Bower las. Sie verzweifelten sämtlich dabei und der Vater war mitunter der erste, der zu gähnen anfing. „Es war ein fürchter¬ licher Zustand", sagt Goethe, „in dem wenig oder nichts, was in jenen kirchlichen Verhältnissen vorkommt, Kinder und junge Leute ansprechen kann. Indessen ist mir bei aller Unachtsamkeit und allem Widerwillen doch von jener Vorlesung so viel geblieben, daß ich in späterer Zeit manches daran zu knüpfen imstande war"**). Wir müssen also somit annehmen, daß der kaiserliche Rat seinen Zweck erreicht hat. Daß Cornelie, die ohnehin ein unfroher Charakter war, die sich nicht ein¬ mal mit der Mutter verstehen konnte, unter diesen erzieherischen Prinzipien des Vaters, besonders zu der Zeit litt, als der Bruder in Leipzig weilte, liegt auf der Hand. Sie hatte niemand, mit dem sie sich aussprechen konnte, sehnte sich nach dem geliebten Bruder und steigerte durch ihren Widerwillen gegen das vom Vater Geforderte die Empfindungen des Zwanges bis zur Unerträglichkeit. Dem Vater war allerdings durch seine übertriebene Selbstzucht das Verständnis für die Berechtigung jugendlicher Wünsche verlorengegangen. Außerdem fehlte ihm zu jener Zeit eine zielbewußte Tätigkeit, da die Kinder seinem Unterricht entwachsen waren. Diese veränderten Verhältnisse anzuerkennen und die Kinder als selbständige Menschen zu betrachten, fiel ihm deshalb doppelt schwer. Zu den Lehrmitteln, die der alte Goethe aufgriff, dienten auch seine Lieb¬ habereien und Sammlungen, deren Grundstock er zum Teil auf seiner italienischen Reise erworben hatte. Es ist falsch zu behaupten, der Aufenthalt in Italien sei ohne nennenswerten Gewinn für Johann Kaspar Goethe gewesen, wie es von biographischer Seite geschehen ist***). Diese Behauptung stützt sich auf einige der wenigen Briefe, die uns von Goethes Vater erhalten sind. Einer von ihnen, den Merck einen Handwerksburschenbrief genannt hat, schließt mit den Worten: ") Goethe: „Dichtung und Wahrheit". ") Ebenda. Heinemann: „Goethes Mutter", S. 16.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/267>, abgerufen am 04.01.2025.