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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Zukunftsfragen des Parlamentarismus

Unsere Parteien sind bereits Jnteressenverbände, die nur unter falscher Flagge
segeln; es kann unserem öffentlichem Leben nur zum Vorteil gereichen, wenn
unser Wahlsystem die große Lüge unserer Parteipolitik überflüssig und sinnlos
macht und die Parteien deutlicher als das erscheinen läßt, was sie wirklich sind.
Ich darf hier nicht zu ausführlich werden und kann daher meinen Widerspruch
gegen diese Auffassung nur kurz andeuten. Allerdings wurzeln die Partei¬
unterschiede ganz vorzugsweise in den Verschiedenheiten der Gesellschaftsgruppen
und in deren wirtschaftlichen Ursachen, aber infolge der freieren Gestaltung
unserer Gesellschaftsordnung wurzeln sie daneben zu einem wesentlichen Teil auch
in Ursachen persönlicher Art, die ganz und gar auf geistigem Gebiet liegen.
Die Sonderung der Parteien nach politischen Grundanschauungen allgemeiner
und idealer Art ist keine Lüge, mit der man treuherzige Idealisten einfängt,
oder denen, die sich schämen, einen nackten Klassenegoismus offen zu bekennen,
einen geeigneten Vorwand an die Hand gibt; sondern die Parteiideale sind eine
in der Menschennatur begründete Notwendigkeit, die sich nicht willkürlich beiseite
schieben läßt. Wollte man ein Wahlsystem einführen, das sich ganz und gar
auf das Prinzip der Interessenvertretung gründet, so würde, wie schon erwähnt,
die Folge sein, daß die Parteien noch mehr als bisher bemüht sein müßten,
sich auf Klasseninteressen zu stützen und dem Klassenegoismus den Mantel eines
Parteiideals umzuhängen. Damit würde die Lüge nicht beseitigt, es sei denn,
daß es gelänge, die Stände vollständig an die Stelle der Parteien zu setzen.
Das könnte aber nur die Frucht einer längeren Entwicklung sein, die nur dann
als heilsam angesehen werden könnte, wenn sie eine vollständige Durchdringung
der Parteiinteressen und ständischen Interessen zustande brächte. Ob das möglich
sein wird, wissen wir noch nicht und können es auch nicht wissen. Aber das
eine scheint mir unzweifelhaft, daß eine Wahlreform -- noch dazu eine Wahl¬
reform in einem einzelnen Bundesstaat, und sei es auch der größte und führende, --
ein solches Ergebnis nicht herbeiführen kann. Meiner Ansicht nach kann ein
Wahlsystem überhaupt nicht die Entwicklung in eine bestimmte Bahn leiten oder
Mißstände beseitigen, sondern umgekehrt: eine Wahlreform kann nur dann
glücken, wenn die Volksvertretung sich einer unabhängig verlaufenen Entwicklung
anpaßt und das Wahlsystem ihr richtiger Ausdruck wird.

Wie man sich die Entwicklung der Parteien im Reich zu denken hätte,
falls Preußen sich vorzeitig auf eine Wahlreform im ständischen Sinne festlegte,
ist nicht ganz deutlich. Es ist gewiß nicht nötig, daß -- wie es ja vielfach
gefordert wird -- Übereinstimmung zwischen dem preußischen und dem Reichs-


Zukunftsfragen des Parlamentarismus

Unsere Parteien sind bereits Jnteressenverbände, die nur unter falscher Flagge
segeln; es kann unserem öffentlichem Leben nur zum Vorteil gereichen, wenn
unser Wahlsystem die große Lüge unserer Parteipolitik überflüssig und sinnlos
macht und die Parteien deutlicher als das erscheinen läßt, was sie wirklich sind.
Ich darf hier nicht zu ausführlich werden und kann daher meinen Widerspruch
gegen diese Auffassung nur kurz andeuten. Allerdings wurzeln die Partei¬
unterschiede ganz vorzugsweise in den Verschiedenheiten der Gesellschaftsgruppen
und in deren wirtschaftlichen Ursachen, aber infolge der freieren Gestaltung
unserer Gesellschaftsordnung wurzeln sie daneben zu einem wesentlichen Teil auch
in Ursachen persönlicher Art, die ganz und gar auf geistigem Gebiet liegen.
Die Sonderung der Parteien nach politischen Grundanschauungen allgemeiner
und idealer Art ist keine Lüge, mit der man treuherzige Idealisten einfängt,
oder denen, die sich schämen, einen nackten Klassenegoismus offen zu bekennen,
einen geeigneten Vorwand an die Hand gibt; sondern die Parteiideale sind eine
in der Menschennatur begründete Notwendigkeit, die sich nicht willkürlich beiseite
schieben läßt. Wollte man ein Wahlsystem einführen, das sich ganz und gar
auf das Prinzip der Interessenvertretung gründet, so würde, wie schon erwähnt,
die Folge sein, daß die Parteien noch mehr als bisher bemüht sein müßten,
sich auf Klasseninteressen zu stützen und dem Klassenegoismus den Mantel eines
Parteiideals umzuhängen. Damit würde die Lüge nicht beseitigt, es sei denn,
daß es gelänge, die Stände vollständig an die Stelle der Parteien zu setzen.
Das könnte aber nur die Frucht einer längeren Entwicklung sein, die nur dann
als heilsam angesehen werden könnte, wenn sie eine vollständige Durchdringung
der Parteiinteressen und ständischen Interessen zustande brächte. Ob das möglich
sein wird, wissen wir noch nicht und können es auch nicht wissen. Aber das
eine scheint mir unzweifelhaft, daß eine Wahlreform — noch dazu eine Wahl¬
reform in einem einzelnen Bundesstaat, und sei es auch der größte und führende, —
ein solches Ergebnis nicht herbeiführen kann. Meiner Ansicht nach kann ein
Wahlsystem überhaupt nicht die Entwicklung in eine bestimmte Bahn leiten oder
Mißstände beseitigen, sondern umgekehrt: eine Wahlreform kann nur dann
glücken, wenn die Volksvertretung sich einer unabhängig verlaufenen Entwicklung
anpaßt und das Wahlsystem ihr richtiger Ausdruck wird.

Wie man sich die Entwicklung der Parteien im Reich zu denken hätte,
falls Preußen sich vorzeitig auf eine Wahlreform im ständischen Sinne festlegte,
ist nicht ganz deutlich. Es ist gewiß nicht nötig, daß — wie es ja vielfach
gefordert wird — Übereinstimmung zwischen dem preußischen und dem Reichs-


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[0256] Zukunftsfragen des Parlamentarismus Unsere Parteien sind bereits Jnteressenverbände, die nur unter falscher Flagge segeln; es kann unserem öffentlichem Leben nur zum Vorteil gereichen, wenn unser Wahlsystem die große Lüge unserer Parteipolitik überflüssig und sinnlos macht und die Parteien deutlicher als das erscheinen läßt, was sie wirklich sind. Ich darf hier nicht zu ausführlich werden und kann daher meinen Widerspruch gegen diese Auffassung nur kurz andeuten. Allerdings wurzeln die Partei¬ unterschiede ganz vorzugsweise in den Verschiedenheiten der Gesellschaftsgruppen und in deren wirtschaftlichen Ursachen, aber infolge der freieren Gestaltung unserer Gesellschaftsordnung wurzeln sie daneben zu einem wesentlichen Teil auch in Ursachen persönlicher Art, die ganz und gar auf geistigem Gebiet liegen. Die Sonderung der Parteien nach politischen Grundanschauungen allgemeiner und idealer Art ist keine Lüge, mit der man treuherzige Idealisten einfängt, oder denen, die sich schämen, einen nackten Klassenegoismus offen zu bekennen, einen geeigneten Vorwand an die Hand gibt; sondern die Parteiideale sind eine in der Menschennatur begründete Notwendigkeit, die sich nicht willkürlich beiseite schieben läßt. Wollte man ein Wahlsystem einführen, das sich ganz und gar auf das Prinzip der Interessenvertretung gründet, so würde, wie schon erwähnt, die Folge sein, daß die Parteien noch mehr als bisher bemüht sein müßten, sich auf Klasseninteressen zu stützen und dem Klassenegoismus den Mantel eines Parteiideals umzuhängen. Damit würde die Lüge nicht beseitigt, es sei denn, daß es gelänge, die Stände vollständig an die Stelle der Parteien zu setzen. Das könnte aber nur die Frucht einer längeren Entwicklung sein, die nur dann als heilsam angesehen werden könnte, wenn sie eine vollständige Durchdringung der Parteiinteressen und ständischen Interessen zustande brächte. Ob das möglich sein wird, wissen wir noch nicht und können es auch nicht wissen. Aber das eine scheint mir unzweifelhaft, daß eine Wahlreform — noch dazu eine Wahl¬ reform in einem einzelnen Bundesstaat, und sei es auch der größte und führende, — ein solches Ergebnis nicht herbeiführen kann. Meiner Ansicht nach kann ein Wahlsystem überhaupt nicht die Entwicklung in eine bestimmte Bahn leiten oder Mißstände beseitigen, sondern umgekehrt: eine Wahlreform kann nur dann glücken, wenn die Volksvertretung sich einer unabhängig verlaufenen Entwicklung anpaßt und das Wahlsystem ihr richtiger Ausdruck wird. Wie man sich die Entwicklung der Parteien im Reich zu denken hätte, falls Preußen sich vorzeitig auf eine Wahlreform im ständischen Sinne festlegte, ist nicht ganz deutlich. Es ist gewiß nicht nötig, daß — wie es ja vielfach gefordert wird — Übereinstimmung zwischen dem preußischen und dem Reichs-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/256>, abgerufen am 04.01.2025.