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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Znkunftsfragon des Parlamentarismus

Wahlrecht besteht, aber von einem so gänzlichen Auseinanderlaufen der Grund¬
linien des politischen Lebens kann man sich schwer eine Vorstellung machen.
Mindestens würde die Politik dadurch zu einer verwickelteren Sache gemacht
werden, als sie es ohnehin schon ist. Aber das mag immerhin noch als einer
der geringsten Einwände gelten.

Nach dem bisher Gesagten könnte es scheinen, als sei ich ein so entschiedener
Gegner der Vorschläge des Grafen Stolberg, daß kaum noch Berührungspunkte
übrig bleiben. Daß das meine Meinung nicht ist, habe ich durch die Wahl
des Gleichnisses angedeutet, mit dem ich den ersten der hier erhobenen Ein¬
wände eingeleitet habe. Das Flugproblem ist gelöst, nachdem die Automobil¬
technik geeignete Motoren hergestellt hatte, mit anderen Worten: nachdem viele
auf dem Gebiet der gesamten Technik tätige Kräfte zusammengewirkt hatten, um
die im Prinzip richtige Lösung auch zu einer ausführbaren zu machen. Beides
deckt sich von vornherein nicht. Aber es ist keineswegs unwesentlich, ob -- ab¬
gesehen von den Verbindungen der praktischen Ausführbarkeit -- der zur Lösung
führende Weg rechtzeitig und richtig erkannt wird oder nicht. In dieser Be¬
ziehung ist jeder Versuch und jede Anregung nützlich und wichtig, wodurch die
Erkenntnis der wahren Schwierigkeiten des Problems gefördert, dieses selbst
scharf formuliert und vor allem auf brauchbare Grundlagen gestellt, auf geeignete
Ausgangspunkte hingeführt wird. Darin erkenne ich das Hauptverdienst der
Schrift des Grafen Stolberg. In einer Zeit, die ganz unter der Herrschaft
des Schlagwortes steht, ist es wertvoll, daß zunächst einmal einzelne den Mut
finden, Begriffe richtigzustellen, die die meisten als Kennzeichen einer längst
versunkenen und verklungenen Zeit betrachten, ohne ihre Bedeutung recht zu
prüfen und vor allem ohne zu wissen, daß diese Begriffe sich ohne unser Zutun
vor unseren Augen umgestalten und mit neuem Inhalt füllen. Ein solcher Be¬
griff ist der der "Stände", ein Wort, bei dessem Klang unseren Zeitgenossen
sogleich das sogenannte "finstere" Mittelalter mit allem Zubehör vor dem geistigen
Auge aufsteigt. Und wenn es nicht das Mittelalter ist, so doch die "vormärzliche"
Zeit, die den Menschen unserer Zeit beinahe den gleichen Schauder erregt als
eine Zeit der Enge, der Beschränkung, der Rückständigkeit. Darüber verschließt
fast jedermann die Augen vor der Tatsache, daß wir mitten in einer neuen
ständischen Entwicklung drinstehen.

Natürlich sind es nicht die alten "Stände" in ihrer Starrheit. Abgeschlossenheit
und Enge, in ihrer Anlehnung an einen Ursprung, der auf überwundene,
sinnlos gewordene Lebensordnungen einer früheren Zeit hindeutet. Aber überall


Znkunftsfragon des Parlamentarismus

Wahlrecht besteht, aber von einem so gänzlichen Auseinanderlaufen der Grund¬
linien des politischen Lebens kann man sich schwer eine Vorstellung machen.
Mindestens würde die Politik dadurch zu einer verwickelteren Sache gemacht
werden, als sie es ohnehin schon ist. Aber das mag immerhin noch als einer
der geringsten Einwände gelten.

Nach dem bisher Gesagten könnte es scheinen, als sei ich ein so entschiedener
Gegner der Vorschläge des Grafen Stolberg, daß kaum noch Berührungspunkte
übrig bleiben. Daß das meine Meinung nicht ist, habe ich durch die Wahl
des Gleichnisses angedeutet, mit dem ich den ersten der hier erhobenen Ein¬
wände eingeleitet habe. Das Flugproblem ist gelöst, nachdem die Automobil¬
technik geeignete Motoren hergestellt hatte, mit anderen Worten: nachdem viele
auf dem Gebiet der gesamten Technik tätige Kräfte zusammengewirkt hatten, um
die im Prinzip richtige Lösung auch zu einer ausführbaren zu machen. Beides
deckt sich von vornherein nicht. Aber es ist keineswegs unwesentlich, ob — ab¬
gesehen von den Verbindungen der praktischen Ausführbarkeit — der zur Lösung
führende Weg rechtzeitig und richtig erkannt wird oder nicht. In dieser Be¬
ziehung ist jeder Versuch und jede Anregung nützlich und wichtig, wodurch die
Erkenntnis der wahren Schwierigkeiten des Problems gefördert, dieses selbst
scharf formuliert und vor allem auf brauchbare Grundlagen gestellt, auf geeignete
Ausgangspunkte hingeführt wird. Darin erkenne ich das Hauptverdienst der
Schrift des Grafen Stolberg. In einer Zeit, die ganz unter der Herrschaft
des Schlagwortes steht, ist es wertvoll, daß zunächst einmal einzelne den Mut
finden, Begriffe richtigzustellen, die die meisten als Kennzeichen einer längst
versunkenen und verklungenen Zeit betrachten, ohne ihre Bedeutung recht zu
prüfen und vor allem ohne zu wissen, daß diese Begriffe sich ohne unser Zutun
vor unseren Augen umgestalten und mit neuem Inhalt füllen. Ein solcher Be¬
griff ist der der „Stände", ein Wort, bei dessem Klang unseren Zeitgenossen
sogleich das sogenannte „finstere" Mittelalter mit allem Zubehör vor dem geistigen
Auge aufsteigt. Und wenn es nicht das Mittelalter ist, so doch die „vormärzliche"
Zeit, die den Menschen unserer Zeit beinahe den gleichen Schauder erregt als
eine Zeit der Enge, der Beschränkung, der Rückständigkeit. Darüber verschließt
fast jedermann die Augen vor der Tatsache, daß wir mitten in einer neuen
ständischen Entwicklung drinstehen.

Natürlich sind es nicht die alten „Stände" in ihrer Starrheit. Abgeschlossenheit
und Enge, in ihrer Anlehnung an einen Ursprung, der auf überwundene,
sinnlos gewordene Lebensordnungen einer früheren Zeit hindeutet. Aber überall


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[0257] Znkunftsfragon des Parlamentarismus Wahlrecht besteht, aber von einem so gänzlichen Auseinanderlaufen der Grund¬ linien des politischen Lebens kann man sich schwer eine Vorstellung machen. Mindestens würde die Politik dadurch zu einer verwickelteren Sache gemacht werden, als sie es ohnehin schon ist. Aber das mag immerhin noch als einer der geringsten Einwände gelten. Nach dem bisher Gesagten könnte es scheinen, als sei ich ein so entschiedener Gegner der Vorschläge des Grafen Stolberg, daß kaum noch Berührungspunkte übrig bleiben. Daß das meine Meinung nicht ist, habe ich durch die Wahl des Gleichnisses angedeutet, mit dem ich den ersten der hier erhobenen Ein¬ wände eingeleitet habe. Das Flugproblem ist gelöst, nachdem die Automobil¬ technik geeignete Motoren hergestellt hatte, mit anderen Worten: nachdem viele auf dem Gebiet der gesamten Technik tätige Kräfte zusammengewirkt hatten, um die im Prinzip richtige Lösung auch zu einer ausführbaren zu machen. Beides deckt sich von vornherein nicht. Aber es ist keineswegs unwesentlich, ob — ab¬ gesehen von den Verbindungen der praktischen Ausführbarkeit — der zur Lösung führende Weg rechtzeitig und richtig erkannt wird oder nicht. In dieser Be¬ ziehung ist jeder Versuch und jede Anregung nützlich und wichtig, wodurch die Erkenntnis der wahren Schwierigkeiten des Problems gefördert, dieses selbst scharf formuliert und vor allem auf brauchbare Grundlagen gestellt, auf geeignete Ausgangspunkte hingeführt wird. Darin erkenne ich das Hauptverdienst der Schrift des Grafen Stolberg. In einer Zeit, die ganz unter der Herrschaft des Schlagwortes steht, ist es wertvoll, daß zunächst einmal einzelne den Mut finden, Begriffe richtigzustellen, die die meisten als Kennzeichen einer längst versunkenen und verklungenen Zeit betrachten, ohne ihre Bedeutung recht zu prüfen und vor allem ohne zu wissen, daß diese Begriffe sich ohne unser Zutun vor unseren Augen umgestalten und mit neuem Inhalt füllen. Ein solcher Be¬ griff ist der der „Stände", ein Wort, bei dessem Klang unseren Zeitgenossen sogleich das sogenannte „finstere" Mittelalter mit allem Zubehör vor dem geistigen Auge aufsteigt. Und wenn es nicht das Mittelalter ist, so doch die „vormärzliche" Zeit, die den Menschen unserer Zeit beinahe den gleichen Schauder erregt als eine Zeit der Enge, der Beschränkung, der Rückständigkeit. Darüber verschließt fast jedermann die Augen vor der Tatsache, daß wir mitten in einer neuen ständischen Entwicklung drinstehen. Natürlich sind es nicht die alten „Stände" in ihrer Starrheit. Abgeschlossenheit und Enge, in ihrer Anlehnung an einen Ursprung, der auf überwundene, sinnlos gewordene Lebensordnungen einer früheren Zeit hindeutet. Aber überall

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/257>, abgerufen am 04.01.2025.