Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Für Indien den Preis!

"diese Erkenntnis selbst ist schon die Erlösung." So treffen wir auf dem
Gipfel indischen Denkens einen kühnen, großgearteten Idealismus, der Er¬
gebnisse der Kantischen und Schopenhauerschen Philosophie um Jahrtausende vor¬
ausnimmt. Eine metaphysische Erkenntnis wie diese -- von der Deussen mit Recht
sagt: "Soll eine Lösung des großen Rätsels, als welches die Natur der Dinge, je
mehr wir davon erkennen, nur um so deutlicher sich dem Philosophen darstellt,
überhaupt möglich sein, so kann der Schlüssel zur Lösung dieses Rätsels nur da
liegen, wo allein das Naturgeheimnis sich uns von innen öffnet, das heißt in
unserem eigenen Innern. Hier fanden ihn zum ersten Male die ewig preis¬
würdigen Urheber der Upanishadgedanken" -- eine solche Erkenntnis war nicht
dazu angetan, sich ohne Zugeständnisse und Ungleichungen an bestehende Vor¬
stellungen zu halten. Die Welt außer uns in ihrer sinnenhaften Vielheit er¬
zwang sich ihr Recht. Es ist unendlich lehrreich, aber viel zu weit führend, die
Abwandlung dieses Idealismus in ihren verschiedenen Stadien, die in der
europäischen Geistesgeschichte späterer Jahrhunderte Parallelen genug haben,
näher zu verfolgen. Sie beginnt mit der Gleichsetzung von Atman und Welt,
dem Pantheismus; sie bildet diese mißverstandene Identität, die ja auch in so
vielen europäischen Köpfen heimisch ist, kausal um und macht den Atman zur
Weltursache; der nächste Schritt ist die Verpersönlichung des Atman zum Welt¬
schöpfer im Theismus; von da gelangt sie zur Sankhyalehre, die die schöpfe¬
rischen und beweglichen Kräfte von Gott in die Materie verlegt, also atheistisch
und materialistisch ist, und endigt im Buddhismus, der auch der Seele und
ihrer Unsterblichkeit nicht mehr bedarf. Alle diese und zahlreiche andere
Systeme der Weltanschauung entwickeln sich teils neben- teils nacheinander. Will
man sich einen Begriff vom Umfang der gesamten, nicht nur vedischen, philo¬
sophischen Literatur der Inder machen, so muß mau sich vergegenwärtigen,
daß ein orthodoxer Brahmane, etwa aus dem siebzehnten Jahrhundert unserer
Zeitrechnung, achtzehn Wissenschaftsmethoden der positiven, sechs der negativen
Denker aufzählt, die in sich alles befassen, von den tiefsinnigsten Philo-
sophemen des Veda über alle Wissenszweige, als da sind Musik und Gram-
matik. Anatomie und Pferdebehandlung usw., bis zu den Lehrbüchern der
Erotik.

Poesie und Prosa sind in der indischen Literatur nicht eigentlich geschieden.
Jeder Gegenstand, mag er der Dichtung oder irgendeiner Wissenschaft zu-
gehören, wird in der einen wie in der anderen Form behandelt. Die deutsche
Teilnahme für indische Literatur und im besonderen indische Dichtkunst ist
zuerst von den Romantikern, voran den Brüdern Schlegel, geweckt worden; sie
erhielten an Wilhelm von Humboldt einen begeisterten Bundesgenossen. Bei
dem Umfang des Materials müssen auch hier einige Richtlinien, Hinweise,
Stichproben genügen. Auf die Bedeutung des Rigveda. als des ältesten
Denkmals indischer Literatur, ist schon hingewiesen worden. In seinen Liedern
spiegelt sich der alte Volksglaube der arischen Inder. Die Sänger sind wohl


Für Indien den Preis!

„diese Erkenntnis selbst ist schon die Erlösung." So treffen wir auf dem
Gipfel indischen Denkens einen kühnen, großgearteten Idealismus, der Er¬
gebnisse der Kantischen und Schopenhauerschen Philosophie um Jahrtausende vor¬
ausnimmt. Eine metaphysische Erkenntnis wie diese — von der Deussen mit Recht
sagt: „Soll eine Lösung des großen Rätsels, als welches die Natur der Dinge, je
mehr wir davon erkennen, nur um so deutlicher sich dem Philosophen darstellt,
überhaupt möglich sein, so kann der Schlüssel zur Lösung dieses Rätsels nur da
liegen, wo allein das Naturgeheimnis sich uns von innen öffnet, das heißt in
unserem eigenen Innern. Hier fanden ihn zum ersten Male die ewig preis¬
würdigen Urheber der Upanishadgedanken" — eine solche Erkenntnis war nicht
dazu angetan, sich ohne Zugeständnisse und Ungleichungen an bestehende Vor¬
stellungen zu halten. Die Welt außer uns in ihrer sinnenhaften Vielheit er¬
zwang sich ihr Recht. Es ist unendlich lehrreich, aber viel zu weit führend, die
Abwandlung dieses Idealismus in ihren verschiedenen Stadien, die in der
europäischen Geistesgeschichte späterer Jahrhunderte Parallelen genug haben,
näher zu verfolgen. Sie beginnt mit der Gleichsetzung von Atman und Welt,
dem Pantheismus; sie bildet diese mißverstandene Identität, die ja auch in so
vielen europäischen Köpfen heimisch ist, kausal um und macht den Atman zur
Weltursache; der nächste Schritt ist die Verpersönlichung des Atman zum Welt¬
schöpfer im Theismus; von da gelangt sie zur Sankhyalehre, die die schöpfe¬
rischen und beweglichen Kräfte von Gott in die Materie verlegt, also atheistisch
und materialistisch ist, und endigt im Buddhismus, der auch der Seele und
ihrer Unsterblichkeit nicht mehr bedarf. Alle diese und zahlreiche andere
Systeme der Weltanschauung entwickeln sich teils neben- teils nacheinander. Will
man sich einen Begriff vom Umfang der gesamten, nicht nur vedischen, philo¬
sophischen Literatur der Inder machen, so muß mau sich vergegenwärtigen,
daß ein orthodoxer Brahmane, etwa aus dem siebzehnten Jahrhundert unserer
Zeitrechnung, achtzehn Wissenschaftsmethoden der positiven, sechs der negativen
Denker aufzählt, die in sich alles befassen, von den tiefsinnigsten Philo-
sophemen des Veda über alle Wissenszweige, als da sind Musik und Gram-
matik. Anatomie und Pferdebehandlung usw., bis zu den Lehrbüchern der
Erotik.

Poesie und Prosa sind in der indischen Literatur nicht eigentlich geschieden.
Jeder Gegenstand, mag er der Dichtung oder irgendeiner Wissenschaft zu-
gehören, wird in der einen wie in der anderen Form behandelt. Die deutsche
Teilnahme für indische Literatur und im besonderen indische Dichtkunst ist
zuerst von den Romantikern, voran den Brüdern Schlegel, geweckt worden; sie
erhielten an Wilhelm von Humboldt einen begeisterten Bundesgenossen. Bei
dem Umfang des Materials müssen auch hier einige Richtlinien, Hinweise,
Stichproben genügen. Auf die Bedeutung des Rigveda. als des ältesten
Denkmals indischer Literatur, ist schon hingewiesen worden. In seinen Liedern
spiegelt sich der alte Volksglaube der arischen Inder. Die Sänger sind wohl


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0025" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327491"/>
          <fw type="header" place="top"> Für Indien den Preis!</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_38" prev="#ID_37"> &#x201E;diese Erkenntnis selbst ist schon die Erlösung." So treffen wir auf dem<lb/>
Gipfel indischen Denkens einen kühnen, großgearteten Idealismus, der Er¬<lb/>
gebnisse der Kantischen und Schopenhauerschen Philosophie um Jahrtausende vor¬<lb/>
ausnimmt. Eine metaphysische Erkenntnis wie diese &#x2014; von der Deussen mit Recht<lb/>
sagt: &#x201E;Soll eine Lösung des großen Rätsels, als welches die Natur der Dinge, je<lb/>
mehr wir davon erkennen, nur um so deutlicher sich dem Philosophen darstellt,<lb/>
überhaupt möglich sein, so kann der Schlüssel zur Lösung dieses Rätsels nur da<lb/>
liegen, wo allein das Naturgeheimnis sich uns von innen öffnet, das heißt in<lb/>
unserem eigenen Innern. Hier fanden ihn zum ersten Male die ewig preis¬<lb/>
würdigen Urheber der Upanishadgedanken" &#x2014; eine solche Erkenntnis war nicht<lb/>
dazu angetan, sich ohne Zugeständnisse und Ungleichungen an bestehende Vor¬<lb/>
stellungen zu halten. Die Welt außer uns in ihrer sinnenhaften Vielheit er¬<lb/>
zwang sich ihr Recht. Es ist unendlich lehrreich, aber viel zu weit führend, die<lb/>
Abwandlung dieses Idealismus in ihren verschiedenen Stadien, die in der<lb/>
europäischen Geistesgeschichte späterer Jahrhunderte Parallelen genug haben,<lb/>
näher zu verfolgen. Sie beginnt mit der Gleichsetzung von Atman und Welt,<lb/>
dem Pantheismus; sie bildet diese mißverstandene Identität, die ja auch in so<lb/>
vielen europäischen Köpfen heimisch ist, kausal um und macht den Atman zur<lb/>
Weltursache; der nächste Schritt ist die Verpersönlichung des Atman zum Welt¬<lb/>
schöpfer im Theismus; von da gelangt sie zur Sankhyalehre, die die schöpfe¬<lb/>
rischen und beweglichen Kräfte von Gott in die Materie verlegt, also atheistisch<lb/>
und materialistisch ist, und endigt im Buddhismus, der auch der Seele und<lb/>
ihrer Unsterblichkeit nicht mehr bedarf. Alle diese und zahlreiche andere<lb/>
Systeme der Weltanschauung entwickeln sich teils neben- teils nacheinander. Will<lb/>
man sich einen Begriff vom Umfang der gesamten, nicht nur vedischen, philo¬<lb/>
sophischen Literatur der Inder machen, so muß mau sich vergegenwärtigen,<lb/>
daß ein orthodoxer Brahmane, etwa aus dem siebzehnten Jahrhundert unserer<lb/>
Zeitrechnung, achtzehn Wissenschaftsmethoden der positiven, sechs der negativen<lb/>
Denker aufzählt, die in sich alles befassen, von den tiefsinnigsten Philo-<lb/>
sophemen des Veda über alle Wissenszweige, als da sind Musik und Gram-<lb/>
matik. Anatomie und Pferdebehandlung usw., bis zu den Lehrbüchern der<lb/>
Erotik.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_39" next="#ID_40"> Poesie und Prosa sind in der indischen Literatur nicht eigentlich geschieden.<lb/>
Jeder Gegenstand, mag er der Dichtung oder irgendeiner Wissenschaft zu-<lb/>
gehören, wird in der einen wie in der anderen Form behandelt. Die deutsche<lb/>
Teilnahme für indische Literatur und im besonderen indische Dichtkunst ist<lb/>
zuerst von den Romantikern, voran den Brüdern Schlegel, geweckt worden; sie<lb/>
erhielten an Wilhelm von Humboldt einen begeisterten Bundesgenossen. Bei<lb/>
dem Umfang des Materials müssen auch hier einige Richtlinien, Hinweise,<lb/>
Stichproben genügen. Auf die Bedeutung des Rigveda. als des ältesten<lb/>
Denkmals indischer Literatur, ist schon hingewiesen worden. In seinen Liedern<lb/>
spiegelt sich der alte Volksglaube der arischen Inder.  Die Sänger sind wohl</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0025] Für Indien den Preis! „diese Erkenntnis selbst ist schon die Erlösung." So treffen wir auf dem Gipfel indischen Denkens einen kühnen, großgearteten Idealismus, der Er¬ gebnisse der Kantischen und Schopenhauerschen Philosophie um Jahrtausende vor¬ ausnimmt. Eine metaphysische Erkenntnis wie diese — von der Deussen mit Recht sagt: „Soll eine Lösung des großen Rätsels, als welches die Natur der Dinge, je mehr wir davon erkennen, nur um so deutlicher sich dem Philosophen darstellt, überhaupt möglich sein, so kann der Schlüssel zur Lösung dieses Rätsels nur da liegen, wo allein das Naturgeheimnis sich uns von innen öffnet, das heißt in unserem eigenen Innern. Hier fanden ihn zum ersten Male die ewig preis¬ würdigen Urheber der Upanishadgedanken" — eine solche Erkenntnis war nicht dazu angetan, sich ohne Zugeständnisse und Ungleichungen an bestehende Vor¬ stellungen zu halten. Die Welt außer uns in ihrer sinnenhaften Vielheit er¬ zwang sich ihr Recht. Es ist unendlich lehrreich, aber viel zu weit führend, die Abwandlung dieses Idealismus in ihren verschiedenen Stadien, die in der europäischen Geistesgeschichte späterer Jahrhunderte Parallelen genug haben, näher zu verfolgen. Sie beginnt mit der Gleichsetzung von Atman und Welt, dem Pantheismus; sie bildet diese mißverstandene Identität, die ja auch in so vielen europäischen Köpfen heimisch ist, kausal um und macht den Atman zur Weltursache; der nächste Schritt ist die Verpersönlichung des Atman zum Welt¬ schöpfer im Theismus; von da gelangt sie zur Sankhyalehre, die die schöpfe¬ rischen und beweglichen Kräfte von Gott in die Materie verlegt, also atheistisch und materialistisch ist, und endigt im Buddhismus, der auch der Seele und ihrer Unsterblichkeit nicht mehr bedarf. Alle diese und zahlreiche andere Systeme der Weltanschauung entwickeln sich teils neben- teils nacheinander. Will man sich einen Begriff vom Umfang der gesamten, nicht nur vedischen, philo¬ sophischen Literatur der Inder machen, so muß mau sich vergegenwärtigen, daß ein orthodoxer Brahmane, etwa aus dem siebzehnten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, achtzehn Wissenschaftsmethoden der positiven, sechs der negativen Denker aufzählt, die in sich alles befassen, von den tiefsinnigsten Philo- sophemen des Veda über alle Wissenszweige, als da sind Musik und Gram- matik. Anatomie und Pferdebehandlung usw., bis zu den Lehrbüchern der Erotik. Poesie und Prosa sind in der indischen Literatur nicht eigentlich geschieden. Jeder Gegenstand, mag er der Dichtung oder irgendeiner Wissenschaft zu- gehören, wird in der einen wie in der anderen Form behandelt. Die deutsche Teilnahme für indische Literatur und im besonderen indische Dichtkunst ist zuerst von den Romantikern, voran den Brüdern Schlegel, geweckt worden; sie erhielten an Wilhelm von Humboldt einen begeisterten Bundesgenossen. Bei dem Umfang des Materials müssen auch hier einige Richtlinien, Hinweise, Stichproben genügen. Auf die Bedeutung des Rigveda. als des ältesten Denkmals indischer Literatur, ist schon hingewiesen worden. In seinen Liedern spiegelt sich der alte Volksglaube der arischen Inder. Die Sänger sind wohl

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/25
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/25>, abgerufen am 29.12.2024.