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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Neichsregierung will die Kontrahenten an sich herankommen lassen und wartet
darum mit verdeckten Karten ab, was man von uns haben will. Selbstver¬
ständlich ist man in den Reichsämtern nicht müßig, wenn man auch seine
Trümpfe nicht zeigt.

Um was sich die Kämpfe in Parlament und Presse drehen werden, haben
die neuntägigen Aussprachen im Reichstag gezeigt: die Landwirte werden ihre
Getreidezölle zu verteidigen haben und noch mehr die Einfuhrscheine; die In¬
dustrie trachtet nach Erhöhung der Zölle ganz allgemein. Zwischen diesen
Extremen wird die Regierung einen Mittelweg finden müssen. Ob sie es können
wird, ohne, wie der Staatssekretär meinte, eine Revision des Tarifs vornehmen
zu brauchen, muß die Zukunft lehren. Jedenfalls darf Dr. Böttgers Hinweis
auf das Entstehen neuer Industrien und auf eine im Jahre 1902 noch nicht
erwartete Entwicklung alter nicht unbeachtet bleiben; eine Verschiebung ist tat¬
sächlich in allen Gewerben eingetreten und ihr muß der Zolltarif Rechnung
tragen. -- Harte Kämpfe werden um das Einfuhrsystem gekämpft werden. Die
Leser der Grenzboten sind über die Frage von Freunden und Gegnern unter¬
richtet worden; auch einer russischen Stimme habe ich Gehör verschafft. Und
gerade die russischen Ausführungen, die einem russischen Publikum nachweisen sollten,
wieviel die deutsche Volkswirtschaft durch dies Einfuhrscheinsystem an Rußland
verdient, sind es, die mich zu der Überzeugung führen, daß das System im
Prinzip gesund ist und der Allgemeinheit zum Nutzen gereicht. Das gibt auch
der ostelbische Freisinn unumwunden zu (s. Königsberger Hartungsche Zeitung).
Wenn aber nur ein Bruchteil des Volks unter dem System leidet, so soll man
trachten, diesen Bruchteil auf andere Weise zu entschädigen, nicht aber das Kind
mit dem Bade auszuschütten.

Ein Wort sei bei dieser Gelegenheit der Landarbeiterfrage gewidmet. In
der agrarischen Presse sind in letzter Zeit Artikel erschienen, die auf die Mög¬
lichkeit hinweisen, Rußland könne, um auf die Handelsvertragsverhandlungen
besonders einzuwirken, den Landarbeitern das Verlassen des Reichs in westlicher
Richtung verbieten. Die Herren, die solches als Möglichkeit hinstellen, scheinen
keine rechte Vorstellung von dem Können der russischen Verwaltung zu haben,
aber sie haben auch keinen Begriff davon, welchen Nutzen Rußland aus den
Wanderarbeitern zieht. Ein generelles Verbot zu erlassen, auf Wander¬
arbeit zu gehen, ist die russische Regierung seit dem Jahre 1905 außer stände.
Was denkbar wäre, ist die Erhöhung der Paßgebühr. Gegenwärtig kostet der
reguläre Bauernpaß 15 Rubel; für die Wanderarbeiter ist aber der Preis des


Reichsspiegel

Neichsregierung will die Kontrahenten an sich herankommen lassen und wartet
darum mit verdeckten Karten ab, was man von uns haben will. Selbstver¬
ständlich ist man in den Reichsämtern nicht müßig, wenn man auch seine
Trümpfe nicht zeigt.

Um was sich die Kämpfe in Parlament und Presse drehen werden, haben
die neuntägigen Aussprachen im Reichstag gezeigt: die Landwirte werden ihre
Getreidezölle zu verteidigen haben und noch mehr die Einfuhrscheine; die In¬
dustrie trachtet nach Erhöhung der Zölle ganz allgemein. Zwischen diesen
Extremen wird die Regierung einen Mittelweg finden müssen. Ob sie es können
wird, ohne, wie der Staatssekretär meinte, eine Revision des Tarifs vornehmen
zu brauchen, muß die Zukunft lehren. Jedenfalls darf Dr. Böttgers Hinweis
auf das Entstehen neuer Industrien und auf eine im Jahre 1902 noch nicht
erwartete Entwicklung alter nicht unbeachtet bleiben; eine Verschiebung ist tat¬
sächlich in allen Gewerben eingetreten und ihr muß der Zolltarif Rechnung
tragen. — Harte Kämpfe werden um das Einfuhrsystem gekämpft werden. Die
Leser der Grenzboten sind über die Frage von Freunden und Gegnern unter¬
richtet worden; auch einer russischen Stimme habe ich Gehör verschafft. Und
gerade die russischen Ausführungen, die einem russischen Publikum nachweisen sollten,
wieviel die deutsche Volkswirtschaft durch dies Einfuhrscheinsystem an Rußland
verdient, sind es, die mich zu der Überzeugung führen, daß das System im
Prinzip gesund ist und der Allgemeinheit zum Nutzen gereicht. Das gibt auch
der ostelbische Freisinn unumwunden zu (s. Königsberger Hartungsche Zeitung).
Wenn aber nur ein Bruchteil des Volks unter dem System leidet, so soll man
trachten, diesen Bruchteil auf andere Weise zu entschädigen, nicht aber das Kind
mit dem Bade auszuschütten.

Ein Wort sei bei dieser Gelegenheit der Landarbeiterfrage gewidmet. In
der agrarischen Presse sind in letzter Zeit Artikel erschienen, die auf die Mög¬
lichkeit hinweisen, Rußland könne, um auf die Handelsvertragsverhandlungen
besonders einzuwirken, den Landarbeitern das Verlassen des Reichs in westlicher
Richtung verbieten. Die Herren, die solches als Möglichkeit hinstellen, scheinen
keine rechte Vorstellung von dem Können der russischen Verwaltung zu haben,
aber sie haben auch keinen Begriff davon, welchen Nutzen Rußland aus den
Wanderarbeitern zieht. Ein generelles Verbot zu erlassen, auf Wander¬
arbeit zu gehen, ist die russische Regierung seit dem Jahre 1905 außer stände.
Was denkbar wäre, ist die Erhöhung der Paßgebühr. Gegenwärtig kostet der
reguläre Bauernpaß 15 Rubel; für die Wanderarbeiter ist aber der Preis des


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[0246] Reichsspiegel Neichsregierung will die Kontrahenten an sich herankommen lassen und wartet darum mit verdeckten Karten ab, was man von uns haben will. Selbstver¬ ständlich ist man in den Reichsämtern nicht müßig, wenn man auch seine Trümpfe nicht zeigt. Um was sich die Kämpfe in Parlament und Presse drehen werden, haben die neuntägigen Aussprachen im Reichstag gezeigt: die Landwirte werden ihre Getreidezölle zu verteidigen haben und noch mehr die Einfuhrscheine; die In¬ dustrie trachtet nach Erhöhung der Zölle ganz allgemein. Zwischen diesen Extremen wird die Regierung einen Mittelweg finden müssen. Ob sie es können wird, ohne, wie der Staatssekretär meinte, eine Revision des Tarifs vornehmen zu brauchen, muß die Zukunft lehren. Jedenfalls darf Dr. Böttgers Hinweis auf das Entstehen neuer Industrien und auf eine im Jahre 1902 noch nicht erwartete Entwicklung alter nicht unbeachtet bleiben; eine Verschiebung ist tat¬ sächlich in allen Gewerben eingetreten und ihr muß der Zolltarif Rechnung tragen. — Harte Kämpfe werden um das Einfuhrsystem gekämpft werden. Die Leser der Grenzboten sind über die Frage von Freunden und Gegnern unter¬ richtet worden; auch einer russischen Stimme habe ich Gehör verschafft. Und gerade die russischen Ausführungen, die einem russischen Publikum nachweisen sollten, wieviel die deutsche Volkswirtschaft durch dies Einfuhrscheinsystem an Rußland verdient, sind es, die mich zu der Überzeugung führen, daß das System im Prinzip gesund ist und der Allgemeinheit zum Nutzen gereicht. Das gibt auch der ostelbische Freisinn unumwunden zu (s. Königsberger Hartungsche Zeitung). Wenn aber nur ein Bruchteil des Volks unter dem System leidet, so soll man trachten, diesen Bruchteil auf andere Weise zu entschädigen, nicht aber das Kind mit dem Bade auszuschütten. Ein Wort sei bei dieser Gelegenheit der Landarbeiterfrage gewidmet. In der agrarischen Presse sind in letzter Zeit Artikel erschienen, die auf die Mög¬ lichkeit hinweisen, Rußland könne, um auf die Handelsvertragsverhandlungen besonders einzuwirken, den Landarbeitern das Verlassen des Reichs in westlicher Richtung verbieten. Die Herren, die solches als Möglichkeit hinstellen, scheinen keine rechte Vorstellung von dem Können der russischen Verwaltung zu haben, aber sie haben auch keinen Begriff davon, welchen Nutzen Rußland aus den Wanderarbeitern zieht. Ein generelles Verbot zu erlassen, auf Wander¬ arbeit zu gehen, ist die russische Regierung seit dem Jahre 1905 außer stände. Was denkbar wäre, ist die Erhöhung der Paßgebühr. Gegenwärtig kostet der reguläre Bauernpaß 15 Rubel; für die Wanderarbeiter ist aber der Preis des

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/246>, abgerufen am 01.01.2025.