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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Reichsspiegel

Passes auf 3 Rubel herabgesetzt worden, und zwar auf Drängen des da¬
maligen Finanzministers Witte, der auf die Ersparnisse der Wanderarbeiter
spekulierte. Daß die Spekulation richtig war. ergibt die einfache Tatsache,
daß allein im Weichselgebiete (der Leser findet darüber ausführliche An¬
gaben im ersten Bande meiner Zukunft Polens) die Ersparnisse aus bäuerlichen
Kreisen zwanzig und mehr Millionen Mark pro Jahr betragen. Zieht man
noch die litauischen und kleinrussischen Wanderarbeiter in Betracht, so dürfte
die Ersparnissumme noch erheblich höher ausfallen. Hat die russische Regierung
aber ein Interesse daran, solchen Nutzen aufs Spiel zu setzen? Das aber
würde geschehen, wenn sie die Paßgebühr fühlbar erhöhen wollte.

Auch eine Ableitung der Binnenwanderung, wozu die Preußengänger ge¬
zählt werden müssen, nach dem Innern Rußlands wäre nicht recht denkbar.
Der ganze Süden Rußlands wird aus dem Nordosten mit Erntearbeitern ver¬
sorgt, die Kiewer Zuckerrübenplantagen erhalten im Frühjahr die notwendigen
weiblichen Arbeitskräfte aus Podolien, Bessarabien, Tschernigow. Der Pole
und Litauer geht nach Westen über die Grenze und an seine Stelle tritt der
Weißrusse. Schon aus nationalpolitischen Gründen hätte die russische Re¬
gierung kein Interesse daran, den Strom umzukehren und den Einfluß der
polnischen Magnaten in Westrußland durch polnische Arbeiter zu verstärken.
Schließlich könnte Rußland noch durch verstärkte Eisenbahnbauten polnische
Arbeiter im Lande zurückhalten. Zwei Milliarden Mark sind ja für die nächste
Zeit dafür ausgeworfen. Rückwirken auf die Wanderarbeit könnte das aber
nur, wenn die Bahnen in Westrußland und Polen gebaut würden. Davon ist
bisher nichts bekannt geworden, wohl aber weiß man, daß Rußland seine großen
Zufuhrbahnen im Süden und Osten ausbauen will.

Was also im schlimmsten Falle geschehen könnte, ist, daß die Paßgebühr
für Preußengänger um einen oder gar zwei Rubel erhöht wird, ein Zoll, der
unsere Landwirtschaft mit ein bis zwei Millionen Mark belasten würde, den
wir aber um so leichter illusorisch machen könnten, je mehr Arbeiter wir aus
Österreich-Ungarn beziehen. In keinem Falle dürfte die angebliche Drohung
Rußlands mit dem Landarbeiteroerbot uns irgendwie in unsrer Haltung dem
G. Lleinow Einfuhrscheinsystem gegenüber beirren. Bange machen gilt nicht!




Reichsspiegel

Passes auf 3 Rubel herabgesetzt worden, und zwar auf Drängen des da¬
maligen Finanzministers Witte, der auf die Ersparnisse der Wanderarbeiter
spekulierte. Daß die Spekulation richtig war. ergibt die einfache Tatsache,
daß allein im Weichselgebiete (der Leser findet darüber ausführliche An¬
gaben im ersten Bande meiner Zukunft Polens) die Ersparnisse aus bäuerlichen
Kreisen zwanzig und mehr Millionen Mark pro Jahr betragen. Zieht man
noch die litauischen und kleinrussischen Wanderarbeiter in Betracht, so dürfte
die Ersparnissumme noch erheblich höher ausfallen. Hat die russische Regierung
aber ein Interesse daran, solchen Nutzen aufs Spiel zu setzen? Das aber
würde geschehen, wenn sie die Paßgebühr fühlbar erhöhen wollte.

Auch eine Ableitung der Binnenwanderung, wozu die Preußengänger ge¬
zählt werden müssen, nach dem Innern Rußlands wäre nicht recht denkbar.
Der ganze Süden Rußlands wird aus dem Nordosten mit Erntearbeitern ver¬
sorgt, die Kiewer Zuckerrübenplantagen erhalten im Frühjahr die notwendigen
weiblichen Arbeitskräfte aus Podolien, Bessarabien, Tschernigow. Der Pole
und Litauer geht nach Westen über die Grenze und an seine Stelle tritt der
Weißrusse. Schon aus nationalpolitischen Gründen hätte die russische Re¬
gierung kein Interesse daran, den Strom umzukehren und den Einfluß der
polnischen Magnaten in Westrußland durch polnische Arbeiter zu verstärken.
Schließlich könnte Rußland noch durch verstärkte Eisenbahnbauten polnische
Arbeiter im Lande zurückhalten. Zwei Milliarden Mark sind ja für die nächste
Zeit dafür ausgeworfen. Rückwirken auf die Wanderarbeit könnte das aber
nur, wenn die Bahnen in Westrußland und Polen gebaut würden. Davon ist
bisher nichts bekannt geworden, wohl aber weiß man, daß Rußland seine großen
Zufuhrbahnen im Süden und Osten ausbauen will.

Was also im schlimmsten Falle geschehen könnte, ist, daß die Paßgebühr
für Preußengänger um einen oder gar zwei Rubel erhöht wird, ein Zoll, der
unsere Landwirtschaft mit ein bis zwei Millionen Mark belasten würde, den
wir aber um so leichter illusorisch machen könnten, je mehr Arbeiter wir aus
Österreich-Ungarn beziehen. In keinem Falle dürfte die angebliche Drohung
Rußlands mit dem Landarbeiteroerbot uns irgendwie in unsrer Haltung dem
G. Lleinow Einfuhrscheinsystem gegenüber beirren. Bange machen gilt nicht!




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[0247] Reichsspiegel Passes auf 3 Rubel herabgesetzt worden, und zwar auf Drängen des da¬ maligen Finanzministers Witte, der auf die Ersparnisse der Wanderarbeiter spekulierte. Daß die Spekulation richtig war. ergibt die einfache Tatsache, daß allein im Weichselgebiete (der Leser findet darüber ausführliche An¬ gaben im ersten Bande meiner Zukunft Polens) die Ersparnisse aus bäuerlichen Kreisen zwanzig und mehr Millionen Mark pro Jahr betragen. Zieht man noch die litauischen und kleinrussischen Wanderarbeiter in Betracht, so dürfte die Ersparnissumme noch erheblich höher ausfallen. Hat die russische Regierung aber ein Interesse daran, solchen Nutzen aufs Spiel zu setzen? Das aber würde geschehen, wenn sie die Paßgebühr fühlbar erhöhen wollte. Auch eine Ableitung der Binnenwanderung, wozu die Preußengänger ge¬ zählt werden müssen, nach dem Innern Rußlands wäre nicht recht denkbar. Der ganze Süden Rußlands wird aus dem Nordosten mit Erntearbeitern ver¬ sorgt, die Kiewer Zuckerrübenplantagen erhalten im Frühjahr die notwendigen weiblichen Arbeitskräfte aus Podolien, Bessarabien, Tschernigow. Der Pole und Litauer geht nach Westen über die Grenze und an seine Stelle tritt der Weißrusse. Schon aus nationalpolitischen Gründen hätte die russische Re¬ gierung kein Interesse daran, den Strom umzukehren und den Einfluß der polnischen Magnaten in Westrußland durch polnische Arbeiter zu verstärken. Schließlich könnte Rußland noch durch verstärkte Eisenbahnbauten polnische Arbeiter im Lande zurückhalten. Zwei Milliarden Mark sind ja für die nächste Zeit dafür ausgeworfen. Rückwirken auf die Wanderarbeit könnte das aber nur, wenn die Bahnen in Westrußland und Polen gebaut würden. Davon ist bisher nichts bekannt geworden, wohl aber weiß man, daß Rußland seine großen Zufuhrbahnen im Süden und Osten ausbauen will. Was also im schlimmsten Falle geschehen könnte, ist, daß die Paßgebühr für Preußengänger um einen oder gar zwei Rubel erhöht wird, ein Zoll, der unsere Landwirtschaft mit ein bis zwei Millionen Mark belasten würde, den wir aber um so leichter illusorisch machen könnten, je mehr Arbeiter wir aus Österreich-Ungarn beziehen. In keinem Falle dürfte die angebliche Drohung Rußlands mit dem Landarbeiteroerbot uns irgendwie in unsrer Haltung dem G. Lleinow Einfuhrscheinsystem gegenüber beirren. Bange machen gilt nicht!

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/247>, abgerufen am 29.12.2024.