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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Das romantische Bedürfnis unserer Zeit

den Jdeenkreis des Wandervogels wurden alle Forderungen aufgenommen, die
mit diesem Grundideal in Beziehung standen, z. B. die Forderung der Alkohol¬
uno Nikotinabstinenz, rassenhygienische Forderungen, hygienische Forderungen
in Beziehung auf Ernährung und Kleidung usw. Um das Ideal natürlichen
Lebens, um die Gefühlswerte natürlichen Lebens, d. h. in diesem Falle des
Lebens im engen Zusammenhange mit der Natur, der Jugend bequem zugänglich
zu machen, gründet sich heute der Wandervogel eigene Landheime in Heide
und Wald.

Und heute ist die Wandervogelsaat überall im Aufgehen begriffen. Das
Wandervogelideal, die Gefühlswerte, denen der Wandervogel zustrebt, sind mit
größeren oder kleineren Abänderungen auch das Ziel gleichstrebender Bünde
geworden, z. B. des "Bundes Deutscher Wanderer". Die Wandervögel von
ehemals sind heute vielfach Studenten und bilden ein romantisch bewegliches
und treibendes Element in der Studentenschaft. Die Gedankenzusammenhänge
zwischen Studentenbünden wie der Akademischen Freischar, der Akademischen
Vereinigung u. a. mit dem Wandervogel sind klar nachzuweisen. Sie alle eint
ein Grundgedanke, nämlich das Interesse und die Begeisterung für eine natürliche
und naturechte Kultur, mögen sie nun ihr Ziel auf dem Gebiete der
hygienischen Bestrebungen, der Reform des geselligen Lebens und der Kleidung
oder schließlich auf dem Gebiete der Kunst, ja sogar der Erziehung, zunächst zu
erreichen suchen.

Alle diese Strömungen in der Jugend suchen heute eine Vereinigung. Das
hat der "Freideutsche Jugendtag" auf dem Hohen Meißner bei Kassel am
11. und 12. Oktober 1913 gezeigt. Aus dem romantischen Bedürfnis der Jugend
will sich eine kulturelle Bewegung entwickeln, deren Kraft man nicht unterschätzen
darf und die man mit Interesse beobachten und mit Wohlwollen fördern
sollte, damit sie vor Irrwegen und Irrtümern bewahrt bleibe. Gefahren lauern
genug auf sie.

Das aber scheint mir ein Verdienst der Jugend zu sein, das man ihr
nicht verkleinern darf: sie hat unserer romantisch darbenden Zeit, sie hat der
romantischen Sehnsucht unserer Zeit einen Weg gezeigt, der sie zu neuen Ge¬
fühlswerten, zu neuen Idealen führen kann. Dieser Weg führte die Jugend
über eine unfruchtbare und gefühlsschwärmende Naturromantik zu einer Kultur¬
romantik, zu einer Romantik der Tat. Vielleicht ist das tatsächlich das Ge¬
biet, auf dem wir einen einigermaßen genügenden Ersatz finden können für die
Gefühlswerte, die uns allmählich immer stärker verloren zu gehen scheinen.




Das romantische Bedürfnis unserer Zeit

den Jdeenkreis des Wandervogels wurden alle Forderungen aufgenommen, die
mit diesem Grundideal in Beziehung standen, z. B. die Forderung der Alkohol¬
uno Nikotinabstinenz, rassenhygienische Forderungen, hygienische Forderungen
in Beziehung auf Ernährung und Kleidung usw. Um das Ideal natürlichen
Lebens, um die Gefühlswerte natürlichen Lebens, d. h. in diesem Falle des
Lebens im engen Zusammenhange mit der Natur, der Jugend bequem zugänglich
zu machen, gründet sich heute der Wandervogel eigene Landheime in Heide
und Wald.

Und heute ist die Wandervogelsaat überall im Aufgehen begriffen. Das
Wandervogelideal, die Gefühlswerte, denen der Wandervogel zustrebt, sind mit
größeren oder kleineren Abänderungen auch das Ziel gleichstrebender Bünde
geworden, z. B. des „Bundes Deutscher Wanderer". Die Wandervögel von
ehemals sind heute vielfach Studenten und bilden ein romantisch bewegliches
und treibendes Element in der Studentenschaft. Die Gedankenzusammenhänge
zwischen Studentenbünden wie der Akademischen Freischar, der Akademischen
Vereinigung u. a. mit dem Wandervogel sind klar nachzuweisen. Sie alle eint
ein Grundgedanke, nämlich das Interesse und die Begeisterung für eine natürliche
und naturechte Kultur, mögen sie nun ihr Ziel auf dem Gebiete der
hygienischen Bestrebungen, der Reform des geselligen Lebens und der Kleidung
oder schließlich auf dem Gebiete der Kunst, ja sogar der Erziehung, zunächst zu
erreichen suchen.

Alle diese Strömungen in der Jugend suchen heute eine Vereinigung. Das
hat der „Freideutsche Jugendtag" auf dem Hohen Meißner bei Kassel am
11. und 12. Oktober 1913 gezeigt. Aus dem romantischen Bedürfnis der Jugend
will sich eine kulturelle Bewegung entwickeln, deren Kraft man nicht unterschätzen
darf und die man mit Interesse beobachten und mit Wohlwollen fördern
sollte, damit sie vor Irrwegen und Irrtümern bewahrt bleibe. Gefahren lauern
genug auf sie.

Das aber scheint mir ein Verdienst der Jugend zu sein, das man ihr
nicht verkleinern darf: sie hat unserer romantisch darbenden Zeit, sie hat der
romantischen Sehnsucht unserer Zeit einen Weg gezeigt, der sie zu neuen Ge¬
fühlswerten, zu neuen Idealen führen kann. Dieser Weg führte die Jugend
über eine unfruchtbare und gefühlsschwärmende Naturromantik zu einer Kultur¬
romantik, zu einer Romantik der Tat. Vielleicht ist das tatsächlich das Ge¬
biet, auf dem wir einen einigermaßen genügenden Ersatz finden können für die
Gefühlswerte, die uns allmählich immer stärker verloren zu gehen scheinen.




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[0222] Das romantische Bedürfnis unserer Zeit den Jdeenkreis des Wandervogels wurden alle Forderungen aufgenommen, die mit diesem Grundideal in Beziehung standen, z. B. die Forderung der Alkohol¬ uno Nikotinabstinenz, rassenhygienische Forderungen, hygienische Forderungen in Beziehung auf Ernährung und Kleidung usw. Um das Ideal natürlichen Lebens, um die Gefühlswerte natürlichen Lebens, d. h. in diesem Falle des Lebens im engen Zusammenhange mit der Natur, der Jugend bequem zugänglich zu machen, gründet sich heute der Wandervogel eigene Landheime in Heide und Wald. Und heute ist die Wandervogelsaat überall im Aufgehen begriffen. Das Wandervogelideal, die Gefühlswerte, denen der Wandervogel zustrebt, sind mit größeren oder kleineren Abänderungen auch das Ziel gleichstrebender Bünde geworden, z. B. des „Bundes Deutscher Wanderer". Die Wandervögel von ehemals sind heute vielfach Studenten und bilden ein romantisch bewegliches und treibendes Element in der Studentenschaft. Die Gedankenzusammenhänge zwischen Studentenbünden wie der Akademischen Freischar, der Akademischen Vereinigung u. a. mit dem Wandervogel sind klar nachzuweisen. Sie alle eint ein Grundgedanke, nämlich das Interesse und die Begeisterung für eine natürliche und naturechte Kultur, mögen sie nun ihr Ziel auf dem Gebiete der hygienischen Bestrebungen, der Reform des geselligen Lebens und der Kleidung oder schließlich auf dem Gebiete der Kunst, ja sogar der Erziehung, zunächst zu erreichen suchen. Alle diese Strömungen in der Jugend suchen heute eine Vereinigung. Das hat der „Freideutsche Jugendtag" auf dem Hohen Meißner bei Kassel am 11. und 12. Oktober 1913 gezeigt. Aus dem romantischen Bedürfnis der Jugend will sich eine kulturelle Bewegung entwickeln, deren Kraft man nicht unterschätzen darf und die man mit Interesse beobachten und mit Wohlwollen fördern sollte, damit sie vor Irrwegen und Irrtümern bewahrt bleibe. Gefahren lauern genug auf sie. Das aber scheint mir ein Verdienst der Jugend zu sein, das man ihr nicht verkleinern darf: sie hat unserer romantisch darbenden Zeit, sie hat der romantischen Sehnsucht unserer Zeit einen Weg gezeigt, der sie zu neuen Ge¬ fühlswerten, zu neuen Idealen führen kann. Dieser Weg führte die Jugend über eine unfruchtbare und gefühlsschwärmende Naturromantik zu einer Kultur¬ romantik, zu einer Romantik der Tat. Vielleicht ist das tatsächlich das Ge¬ biet, auf dem wir einen einigermaßen genügenden Ersatz finden können für die Gefühlswerte, die uns allmählich immer stärker verloren zu gehen scheinen.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/222>, abgerufen am 29.12.2024.