Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das romantische Bedürfnis unserer Zeit

dagegen die naturwissenschaftliche Anschauungsweise vor, und der Kampf der
Religion und ihrer Gefühlswerte mit der Naturwissenschaft und ihren Verstandes-
werten wiederholt sich auch in der Schule. Der Religionsunterricht und alle
die ethischen Fächer, die der Jugend Gefühlswerte, Ideale, vermitteln können
und sollen, haben aus der Schule einen noch viel schwereren Stand als im
Leben. Denn hier in der Schule ist der Raum, auf dem der Kampf sich voll¬
zieht, ein unvergleichlich viel engerer, und die Zuschauer, vor denen der Kampf
stattfinden muß, viel weniger urteilsretf. Was Wunder, wenn sich die Jugend
von den Gefühlswerten, die ihr der Religionsunterricht und die übrigen ethischen
Fächer in unseren höheren Schulen zu bieten versuchen, mit Mißtrauen abwendet.

Die Jugend aber kann eine solche Verarmung an Gefühlswerten, zumal
in der Pubertätszeit, der "romantischen" Periode des menschlichen Lebens, am
wenigsten vertragen. Daher hat die Jugend als offenbare Reaktion gegen den
Intellektualismus der Schule eine Flucht in die Romantik unternommen, deren
Tragweite wir erst heute zu übersehen anfangen.

Diese Flucht in die Romantik geschah im Wandervogel. Hans Binder
hat in seinen beiden Bänden "Wandervogel, Geschichte einer Jugendbewegung",
und im Ergänzungsbande dazu "Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches
Phänomen" *) die Wandervogelbewegung als ein Phänomen sexueller Inversion
zu erklären versucht, wobei er die Begriffe sexueller Inversion und Sexualität
im Sinne der Freudschen Schule so weit faßt, daß eigentlich jede Beziehung
zwischen Mensch und Mensch unter diesen Begriff von Sexualität fallen muß**).
Es ist außerdem unmöglich, mit Hilfe dieser Theorie alle Erscheinungen im
Wandervogel, namentlich die Kulturbewegung im Wandervogel, zu erklären. Sie
stellt sich für Blühers Gesichtspunkt als Entartung dar.

Nein, das Grundphänomen des Wandervogels ist vielmehr die romantische
Flucht in ein Selbstgeschaffenes Gefühlsleben aus der intellektuellen Kultur der
Schule. Das romantische Wanderleben der ersten Wandervögel mit seiner An¬
lehnung an das Bacchanten- und Kundenleben gab der Jugend die Gelegenheit
zum Ausleben ihres Gefühlsbedürfnisses, die sie in der Schule nicht finden
konnte. Diese Romantik nahm aber bald etwas rüde Formen an. Man
gefiel sich in der Betonung des Ungebärdigen, Kulturlosen, ja Rohen. Die
Reaktion gegen diese rohe "Kunden- und Verbrecherromantik" führte den Wander¬
vogel weiter, führte ihn weiter auf das Gebiet einer Kulturromantik eigentümlicher
Art. die heute bei ihm in Blüte steht. Man suchte die Kunden- und Verbrecher-
romantik zunächst durch eine Art "Naturmenschenromantik" zu ersetzen. Natur¬
gemäßes Wandern, naturgemäßes Leben wurde jetzt Wandervogelideal. In




*) Alle drei Bände bei Berus. Weise, Berlin - Tempelhof, 1912 (vgl. die Grenzboten
1913, Heft 31 Seite 236).
"*) Eine sehr eingehende Kritik der Freudschen Auffassung im allgemeinen und des
Blüherschen Buches im besonderen liefert W. Stern: "Die Anwendung der Psychoanalyse
auf Kindheit und Jugend". Ein Protest. Zeitschr. f. anaew, Psychol., VIII, 1 u. 2.
Grenzboten I 1914 ^
Das romantische Bedürfnis unserer Zeit

dagegen die naturwissenschaftliche Anschauungsweise vor, und der Kampf der
Religion und ihrer Gefühlswerte mit der Naturwissenschaft und ihren Verstandes-
werten wiederholt sich auch in der Schule. Der Religionsunterricht und alle
die ethischen Fächer, die der Jugend Gefühlswerte, Ideale, vermitteln können
und sollen, haben aus der Schule einen noch viel schwereren Stand als im
Leben. Denn hier in der Schule ist der Raum, auf dem der Kampf sich voll¬
zieht, ein unvergleichlich viel engerer, und die Zuschauer, vor denen der Kampf
stattfinden muß, viel weniger urteilsretf. Was Wunder, wenn sich die Jugend
von den Gefühlswerten, die ihr der Religionsunterricht und die übrigen ethischen
Fächer in unseren höheren Schulen zu bieten versuchen, mit Mißtrauen abwendet.

Die Jugend aber kann eine solche Verarmung an Gefühlswerten, zumal
in der Pubertätszeit, der „romantischen" Periode des menschlichen Lebens, am
wenigsten vertragen. Daher hat die Jugend als offenbare Reaktion gegen den
Intellektualismus der Schule eine Flucht in die Romantik unternommen, deren
Tragweite wir erst heute zu übersehen anfangen.

Diese Flucht in die Romantik geschah im Wandervogel. Hans Binder
hat in seinen beiden Bänden „Wandervogel, Geschichte einer Jugendbewegung",
und im Ergänzungsbande dazu „Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches
Phänomen" *) die Wandervogelbewegung als ein Phänomen sexueller Inversion
zu erklären versucht, wobei er die Begriffe sexueller Inversion und Sexualität
im Sinne der Freudschen Schule so weit faßt, daß eigentlich jede Beziehung
zwischen Mensch und Mensch unter diesen Begriff von Sexualität fallen muß**).
Es ist außerdem unmöglich, mit Hilfe dieser Theorie alle Erscheinungen im
Wandervogel, namentlich die Kulturbewegung im Wandervogel, zu erklären. Sie
stellt sich für Blühers Gesichtspunkt als Entartung dar.

Nein, das Grundphänomen des Wandervogels ist vielmehr die romantische
Flucht in ein Selbstgeschaffenes Gefühlsleben aus der intellektuellen Kultur der
Schule. Das romantische Wanderleben der ersten Wandervögel mit seiner An¬
lehnung an das Bacchanten- und Kundenleben gab der Jugend die Gelegenheit
zum Ausleben ihres Gefühlsbedürfnisses, die sie in der Schule nicht finden
konnte. Diese Romantik nahm aber bald etwas rüde Formen an. Man
gefiel sich in der Betonung des Ungebärdigen, Kulturlosen, ja Rohen. Die
Reaktion gegen diese rohe „Kunden- und Verbrecherromantik" führte den Wander¬
vogel weiter, führte ihn weiter auf das Gebiet einer Kulturromantik eigentümlicher
Art. die heute bei ihm in Blüte steht. Man suchte die Kunden- und Verbrecher-
romantik zunächst durch eine Art „Naturmenschenromantik" zu ersetzen. Natur¬
gemäßes Wandern, naturgemäßes Leben wurde jetzt Wandervogelideal. In




*) Alle drei Bände bei Berus. Weise, Berlin - Tempelhof, 1912 (vgl. die Grenzboten
1913, Heft 31 Seite 236).
"*) Eine sehr eingehende Kritik der Freudschen Auffassung im allgemeinen und des
Blüherschen Buches im besonderen liefert W. Stern: „Die Anwendung der Psychoanalyse
auf Kindheit und Jugend". Ein Protest. Zeitschr. f. anaew, Psychol., VIII, 1 u. 2.
Grenzboten I 1914 ^
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0221" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327687"/>
          <fw type="header" place="top"> Das romantische Bedürfnis unserer Zeit</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_996" prev="#ID_995"> dagegen die naturwissenschaftliche Anschauungsweise vor, und der Kampf der<lb/>
Religion und ihrer Gefühlswerte mit der Naturwissenschaft und ihren Verstandes-<lb/>
werten wiederholt sich auch in der Schule. Der Religionsunterricht und alle<lb/>
die ethischen Fächer, die der Jugend Gefühlswerte, Ideale, vermitteln können<lb/>
und sollen, haben aus der Schule einen noch viel schwereren Stand als im<lb/>
Leben. Denn hier in der Schule ist der Raum, auf dem der Kampf sich voll¬<lb/>
zieht, ein unvergleichlich viel engerer, und die Zuschauer, vor denen der Kampf<lb/>
stattfinden muß, viel weniger urteilsretf. Was Wunder, wenn sich die Jugend<lb/>
von den Gefühlswerten, die ihr der Religionsunterricht und die übrigen ethischen<lb/>
Fächer in unseren höheren Schulen zu bieten versuchen, mit Mißtrauen abwendet.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_997"> Die Jugend aber kann eine solche Verarmung an Gefühlswerten, zumal<lb/>
in der Pubertätszeit, der &#x201E;romantischen" Periode des menschlichen Lebens, am<lb/>
wenigsten vertragen. Daher hat die Jugend als offenbare Reaktion gegen den<lb/>
Intellektualismus der Schule eine Flucht in die Romantik unternommen, deren<lb/>
Tragweite wir erst heute zu übersehen anfangen.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_998"> Diese Flucht in die Romantik geschah im Wandervogel. Hans Binder<lb/>
hat in seinen beiden Bänden &#x201E;Wandervogel, Geschichte einer Jugendbewegung",<lb/>
und im Ergänzungsbande dazu &#x201E;Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches<lb/>
Phänomen" *) die Wandervogelbewegung als ein Phänomen sexueller Inversion<lb/>
zu erklären versucht, wobei er die Begriffe sexueller Inversion und Sexualität<lb/>
im Sinne der Freudschen Schule so weit faßt, daß eigentlich jede Beziehung<lb/>
zwischen Mensch und Mensch unter diesen Begriff von Sexualität fallen muß**).<lb/>
Es ist außerdem unmöglich, mit Hilfe dieser Theorie alle Erscheinungen im<lb/>
Wandervogel, namentlich die Kulturbewegung im Wandervogel, zu erklären. Sie<lb/>
stellt sich für Blühers Gesichtspunkt als Entartung dar.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_999" next="#ID_1000"> Nein, das Grundphänomen des Wandervogels ist vielmehr die romantische<lb/>
Flucht in ein Selbstgeschaffenes Gefühlsleben aus der intellektuellen Kultur der<lb/>
Schule. Das romantische Wanderleben der ersten Wandervögel mit seiner An¬<lb/>
lehnung an das Bacchanten- und Kundenleben gab der Jugend die Gelegenheit<lb/>
zum Ausleben ihres Gefühlsbedürfnisses, die sie in der Schule nicht finden<lb/>
konnte. Diese Romantik nahm aber bald etwas rüde Formen an. Man<lb/>
gefiel sich in der Betonung des Ungebärdigen, Kulturlosen, ja Rohen. Die<lb/>
Reaktion gegen diese rohe &#x201E;Kunden- und Verbrecherromantik" führte den Wander¬<lb/>
vogel weiter, führte ihn weiter auf das Gebiet einer Kulturromantik eigentümlicher<lb/>
Art. die heute bei ihm in Blüte steht. Man suchte die Kunden- und Verbrecher-<lb/>
romantik zunächst durch eine Art &#x201E;Naturmenschenromantik" zu ersetzen. Natur¬<lb/>
gemäßes Wandern, naturgemäßes Leben wurde jetzt Wandervogelideal. In</p><lb/>
          <note xml:id="FID_51" place="foot"> *) Alle drei Bände bei Berus. Weise, Berlin - Tempelhof, 1912 (vgl. die Grenzboten<lb/>
1913, Heft 31 Seite 236).</note><lb/>
          <note xml:id="FID_52" place="foot"> "*) Eine sehr eingehende Kritik der Freudschen Auffassung im allgemeinen und des<lb/>
Blüherschen Buches im besonderen liefert W. Stern: &#x201E;Die Anwendung der Psychoanalyse<lb/>
auf Kindheit und Jugend".  Ein Protest. Zeitschr. f. anaew, Psychol., VIII, 1 u. 2.</note><lb/>
          <fw type="sig" place="bottom"> Grenzboten I 1914 ^</fw><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0221] Das romantische Bedürfnis unserer Zeit dagegen die naturwissenschaftliche Anschauungsweise vor, und der Kampf der Religion und ihrer Gefühlswerte mit der Naturwissenschaft und ihren Verstandes- werten wiederholt sich auch in der Schule. Der Religionsunterricht und alle die ethischen Fächer, die der Jugend Gefühlswerte, Ideale, vermitteln können und sollen, haben aus der Schule einen noch viel schwereren Stand als im Leben. Denn hier in der Schule ist der Raum, auf dem der Kampf sich voll¬ zieht, ein unvergleichlich viel engerer, und die Zuschauer, vor denen der Kampf stattfinden muß, viel weniger urteilsretf. Was Wunder, wenn sich die Jugend von den Gefühlswerten, die ihr der Religionsunterricht und die übrigen ethischen Fächer in unseren höheren Schulen zu bieten versuchen, mit Mißtrauen abwendet. Die Jugend aber kann eine solche Verarmung an Gefühlswerten, zumal in der Pubertätszeit, der „romantischen" Periode des menschlichen Lebens, am wenigsten vertragen. Daher hat die Jugend als offenbare Reaktion gegen den Intellektualismus der Schule eine Flucht in die Romantik unternommen, deren Tragweite wir erst heute zu übersehen anfangen. Diese Flucht in die Romantik geschah im Wandervogel. Hans Binder hat in seinen beiden Bänden „Wandervogel, Geschichte einer Jugendbewegung", und im Ergänzungsbande dazu „Die deutsche Wandervogelbewegung als erotisches Phänomen" *) die Wandervogelbewegung als ein Phänomen sexueller Inversion zu erklären versucht, wobei er die Begriffe sexueller Inversion und Sexualität im Sinne der Freudschen Schule so weit faßt, daß eigentlich jede Beziehung zwischen Mensch und Mensch unter diesen Begriff von Sexualität fallen muß**). Es ist außerdem unmöglich, mit Hilfe dieser Theorie alle Erscheinungen im Wandervogel, namentlich die Kulturbewegung im Wandervogel, zu erklären. Sie stellt sich für Blühers Gesichtspunkt als Entartung dar. Nein, das Grundphänomen des Wandervogels ist vielmehr die romantische Flucht in ein Selbstgeschaffenes Gefühlsleben aus der intellektuellen Kultur der Schule. Das romantische Wanderleben der ersten Wandervögel mit seiner An¬ lehnung an das Bacchanten- und Kundenleben gab der Jugend die Gelegenheit zum Ausleben ihres Gefühlsbedürfnisses, die sie in der Schule nicht finden konnte. Diese Romantik nahm aber bald etwas rüde Formen an. Man gefiel sich in der Betonung des Ungebärdigen, Kulturlosen, ja Rohen. Die Reaktion gegen diese rohe „Kunden- und Verbrecherromantik" führte den Wander¬ vogel weiter, führte ihn weiter auf das Gebiet einer Kulturromantik eigentümlicher Art. die heute bei ihm in Blüte steht. Man suchte die Kunden- und Verbrecher- romantik zunächst durch eine Art „Naturmenschenromantik" zu ersetzen. Natur¬ gemäßes Wandern, naturgemäßes Leben wurde jetzt Wandervogelideal. In *) Alle drei Bände bei Berus. Weise, Berlin - Tempelhof, 1912 (vgl. die Grenzboten 1913, Heft 31 Seite 236). "*) Eine sehr eingehende Kritik der Freudschen Auffassung im allgemeinen und des Blüherschen Buches im besonderen liefert W. Stern: „Die Anwendung der Psychoanalyse auf Kindheit und Jugend". Ein Protest. Zeitschr. f. anaew, Psychol., VIII, 1 u. 2. Grenzboten I 1914 ^

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/221
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/221>, abgerufen am 01.01.2025.