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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Das romantische Bedürfnis unserer Zeit

Man kann nämlich bei den Volksbildungsabenden und den Vorträgen, die das
Volksheim veranstaltet, feststellen, daß die Besuchsziffer der rein wissenschaftlichen
Abende, auch wenn ihr Thema mitten ins praktische Leben hineingreift, relativ
gering bleibt. Dagegen sind alle die Abende überlaufen, die irgendwelche
Fragen des Gemütslebens, Fragen aus dem Gebiete der Ethik, der Sittenlehre
namentlich und der Weltanschauung, behandeln. Eine ähnliche Erscheinung kann
man ja auch sonst bei Veranstaltung öffentlicher Vorträge beobachten. Vorträge
über religiöse, über Weltanschauungsfragen, mögen sie nun von kirchlicher
Seite oder den Gegnern der Kirche oder Religion veranstaltet sein, finden außer¬
ordentlich starken Besuch.

Auch die Anhänger der Sozialdemokratie also, und darauf kommt es uns
hier in erster Reihe an, finden keine endgültige Befriedigung, finden kein Glücks"
gefühl in ihrer Lehre. Auch die Anhänger der Sozialdemokratie zwingt das
romantische Bedürfnis der Menschen in unserer Zeit in seinen Bann. Auch die
Sozialdemokraten sind auf der Suche nach einer neuen Religion, nach neuen
Gefühlswerten, nach einer neuen Weltanschauung und ihren Idealen, die das
Gefühlsbedürfnis der Menschen befriedigen können.

Nicht mit Unrecht weist Dr. Marr darauf hin, daß vorläufig der Monismus
sich als die Zukunftsweltanschauung der Sozialdemokratie, als deren Zukunfts¬
religion darstelle. In der Tat lassen viele innerlich verwandte Züge, namentlich
der starke praktische Einschlag, der im Monismus enthalten ist, es nicht so sehr
unwahrscheinlich erscheinen, daß hier zwei Mächte aufeinander zustreben, die
nach ihrem Zusammentreffen nebeneinander und einander befruchtend einher¬
gehen werden.

Am stärksten spricht sich aber das romantische Bedürfnis unserer Zeit in
der neuen Jugend aus, in der Jugendbewegung, die heute als "freideutsche"
Jugendbewegung alle die vereinzelten romantischen Strömungen in der Jugend
zu einem großen Ganzen zusammenzufassen sich bemüht. Unsere Jugend steht
gerade in der Zeit ihrer Entwicklung, in der das Gefühlsleben mit außer¬
ordentlich starker Macht erwacht und Werte fordert, an denen es sich betätigen
kann, nämlich in der Pubertätszeit, so ziemlich völlig unter der Herrschaft einer
Macht, die den intellektuellen Charakter unserer ganzen Kultur getreulich zum
Ausdruck bringt. Das ist die Schule.

Es ist selbstverständlich, daß die Kultur einer jeden Epoche sich in der
Schule widerspiegeln muß, wofern die Schule nicht rückständig ist. Auch in
unserer heutigen Schule -- wir denken in erster Reihe an die höhere Schule --
können wir die einzelnen intellektualistischen Strömungen unserer Zeit wieder¬
finden, und zwar stehen die einzelnen Schularten unter der Herrschaft ver¬
schiedener Nuancen jener Strömungen. Das Gymnasium ist beherrscht von der
historisch-philologischen Anschauungsweise, und ihr gegenüber finden, genau so
wie im großen Leben, die Gefühlswerte keinen rechten Platz, um zu lebendiger,
zu Gegenwartswirkung zu gelangen. In den Anstalten realen Charakters herrscht


Das romantische Bedürfnis unserer Zeit

Man kann nämlich bei den Volksbildungsabenden und den Vorträgen, die das
Volksheim veranstaltet, feststellen, daß die Besuchsziffer der rein wissenschaftlichen
Abende, auch wenn ihr Thema mitten ins praktische Leben hineingreift, relativ
gering bleibt. Dagegen sind alle die Abende überlaufen, die irgendwelche
Fragen des Gemütslebens, Fragen aus dem Gebiete der Ethik, der Sittenlehre
namentlich und der Weltanschauung, behandeln. Eine ähnliche Erscheinung kann
man ja auch sonst bei Veranstaltung öffentlicher Vorträge beobachten. Vorträge
über religiöse, über Weltanschauungsfragen, mögen sie nun von kirchlicher
Seite oder den Gegnern der Kirche oder Religion veranstaltet sein, finden außer¬
ordentlich starken Besuch.

Auch die Anhänger der Sozialdemokratie also, und darauf kommt es uns
hier in erster Reihe an, finden keine endgültige Befriedigung, finden kein Glücks»
gefühl in ihrer Lehre. Auch die Anhänger der Sozialdemokratie zwingt das
romantische Bedürfnis der Menschen in unserer Zeit in seinen Bann. Auch die
Sozialdemokraten sind auf der Suche nach einer neuen Religion, nach neuen
Gefühlswerten, nach einer neuen Weltanschauung und ihren Idealen, die das
Gefühlsbedürfnis der Menschen befriedigen können.

Nicht mit Unrecht weist Dr. Marr darauf hin, daß vorläufig der Monismus
sich als die Zukunftsweltanschauung der Sozialdemokratie, als deren Zukunfts¬
religion darstelle. In der Tat lassen viele innerlich verwandte Züge, namentlich
der starke praktische Einschlag, der im Monismus enthalten ist, es nicht so sehr
unwahrscheinlich erscheinen, daß hier zwei Mächte aufeinander zustreben, die
nach ihrem Zusammentreffen nebeneinander und einander befruchtend einher¬
gehen werden.

Am stärksten spricht sich aber das romantische Bedürfnis unserer Zeit in
der neuen Jugend aus, in der Jugendbewegung, die heute als „freideutsche"
Jugendbewegung alle die vereinzelten romantischen Strömungen in der Jugend
zu einem großen Ganzen zusammenzufassen sich bemüht. Unsere Jugend steht
gerade in der Zeit ihrer Entwicklung, in der das Gefühlsleben mit außer¬
ordentlich starker Macht erwacht und Werte fordert, an denen es sich betätigen
kann, nämlich in der Pubertätszeit, so ziemlich völlig unter der Herrschaft einer
Macht, die den intellektuellen Charakter unserer ganzen Kultur getreulich zum
Ausdruck bringt. Das ist die Schule.

Es ist selbstverständlich, daß die Kultur einer jeden Epoche sich in der
Schule widerspiegeln muß, wofern die Schule nicht rückständig ist. Auch in
unserer heutigen Schule — wir denken in erster Reihe an die höhere Schule —
können wir die einzelnen intellektualistischen Strömungen unserer Zeit wieder¬
finden, und zwar stehen die einzelnen Schularten unter der Herrschaft ver¬
schiedener Nuancen jener Strömungen. Das Gymnasium ist beherrscht von der
historisch-philologischen Anschauungsweise, und ihr gegenüber finden, genau so
wie im großen Leben, die Gefühlswerte keinen rechten Platz, um zu lebendiger,
zu Gegenwartswirkung zu gelangen. In den Anstalten realen Charakters herrscht


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[0220] Das romantische Bedürfnis unserer Zeit Man kann nämlich bei den Volksbildungsabenden und den Vorträgen, die das Volksheim veranstaltet, feststellen, daß die Besuchsziffer der rein wissenschaftlichen Abende, auch wenn ihr Thema mitten ins praktische Leben hineingreift, relativ gering bleibt. Dagegen sind alle die Abende überlaufen, die irgendwelche Fragen des Gemütslebens, Fragen aus dem Gebiete der Ethik, der Sittenlehre namentlich und der Weltanschauung, behandeln. Eine ähnliche Erscheinung kann man ja auch sonst bei Veranstaltung öffentlicher Vorträge beobachten. Vorträge über religiöse, über Weltanschauungsfragen, mögen sie nun von kirchlicher Seite oder den Gegnern der Kirche oder Religion veranstaltet sein, finden außer¬ ordentlich starken Besuch. Auch die Anhänger der Sozialdemokratie also, und darauf kommt es uns hier in erster Reihe an, finden keine endgültige Befriedigung, finden kein Glücks» gefühl in ihrer Lehre. Auch die Anhänger der Sozialdemokratie zwingt das romantische Bedürfnis der Menschen in unserer Zeit in seinen Bann. Auch die Sozialdemokraten sind auf der Suche nach einer neuen Religion, nach neuen Gefühlswerten, nach einer neuen Weltanschauung und ihren Idealen, die das Gefühlsbedürfnis der Menschen befriedigen können. Nicht mit Unrecht weist Dr. Marr darauf hin, daß vorläufig der Monismus sich als die Zukunftsweltanschauung der Sozialdemokratie, als deren Zukunfts¬ religion darstelle. In der Tat lassen viele innerlich verwandte Züge, namentlich der starke praktische Einschlag, der im Monismus enthalten ist, es nicht so sehr unwahrscheinlich erscheinen, daß hier zwei Mächte aufeinander zustreben, die nach ihrem Zusammentreffen nebeneinander und einander befruchtend einher¬ gehen werden. Am stärksten spricht sich aber das romantische Bedürfnis unserer Zeit in der neuen Jugend aus, in der Jugendbewegung, die heute als „freideutsche" Jugendbewegung alle die vereinzelten romantischen Strömungen in der Jugend zu einem großen Ganzen zusammenzufassen sich bemüht. Unsere Jugend steht gerade in der Zeit ihrer Entwicklung, in der das Gefühlsleben mit außer¬ ordentlich starker Macht erwacht und Werte fordert, an denen es sich betätigen kann, nämlich in der Pubertätszeit, so ziemlich völlig unter der Herrschaft einer Macht, die den intellektuellen Charakter unserer ganzen Kultur getreulich zum Ausdruck bringt. Das ist die Schule. Es ist selbstverständlich, daß die Kultur einer jeden Epoche sich in der Schule widerspiegeln muß, wofern die Schule nicht rückständig ist. Auch in unserer heutigen Schule — wir denken in erster Reihe an die höhere Schule — können wir die einzelnen intellektualistischen Strömungen unserer Zeit wieder¬ finden, und zwar stehen die einzelnen Schularten unter der Herrschaft ver¬ schiedener Nuancen jener Strömungen. Das Gymnasium ist beherrscht von der historisch-philologischen Anschauungsweise, und ihr gegenüber finden, genau so wie im großen Leben, die Gefühlswerte keinen rechten Platz, um zu lebendiger, zu Gegenwartswirkung zu gelangen. In den Anstalten realen Charakters herrscht

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/220>, abgerufen am 01.01.2025.