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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Wilhelm Heinrich Wackenroder

schreitung; in der völligen Hingebung der Seele in diesen fortreißenden Strom
von Empfindungen; in der Entfernung und Abgezogenheit von jedem störenden
Gedanken und von allen fremdartigen sinnlichen Eindrücken. Dieses geizige
Einschlürfen der Töne ist mit einer gewissen Anstrengung verbunden, die man
nicht allzulange aushält. Eben daher glaube ich behaupten zu können, daß
man höchstens eine Stunde lang Musik mit Teilnehmung zu empfinden vermöge, und
daß daher Konzerte und Opern und Operetten das Maß der Natur überschreiten."

So schritt Wackenroder beständig in Dämmer und Ahnung, scheu und
gleichsam unter die Menschen verschlagen. Er schrak auf bei jedem harten Laute
und litt unter des Lebens rauher Berührung. Das Studium der Jurisprudenz,
das ihm sein Vater empfohlen hatte, war ihm ein Zwang, den er widerwillig
auf sich nahm. Ihn lockte die Ferne. Die Romantiker entdeckten das Unbewußte,
und Wackenroder war einer der ersten, die es in Worte zu fassen suchten. Er
deutete an, wies ahnungsreich den Weg -- und mußte die Ausbeute, die Ge¬
staltung anderen überlassen. Tieck nahm auf, was der Freund ihm Neues,
Ungemeines zeigte; und Friedrich Schlegel urteilte sicher, als er seinem Bruder
schrieb: "Er hat wohl mehr Genie als Tieck; aber dieser gewiß weit mehr
Verstand." Immer ist Wackenroder in holden, verlangenden Träumen. In
seinem Joseph Berglinger gab er einen Teil seines Selbst; "denn bei nicht starken
Seelen geht alles, womit der Mensch zu schaffen hat, in sein Blut über und
verwandelt sein Inneres, ohne daß er es selber weiß". So verlieh ihm die
Kunst allein Beseligung und Fülle.

Es soll hier nicht versucht werden, sein Werk darzustellen. Dazu ist es
zu offenbar, zu schlicht und innig. Jedes Wort wird hart und starr, das
deutend und erläuternd diese gartenstille, verklärte Traumwelt zu umschreiben
wagt. Wir erfahren, daß er den Vasari studiert und aus ihm Belehrung und
Anregung gewonnen hat. Und wenn er auch -- der Anschauung gemäß, die
seine Zeit beherrschte -- der eklektischen Kunst des feinen, glatten, geschmack¬
vollen Raffael mit besonderer Liebe nachging, so muß nachdrücklich erwähnt
werden, daß er doch auch den ungemäßen, umfassenden Tiefblick Leonardos
erkannte, und daß er selbst über den heftigen, stürmenden, ringenden Michel¬
angelo reiche und köstliche Worte findet. "Es ist nicht genug, ein Kunstwerk
zu loben: ,es ist schön und vortrefflich', denn diese allgemeinen Redensarten
gelten auch von den verschiedenartigsten Werken; wir müssen uns jedem großen
Künstler hingeben, mit seinen Organen die Dinge der Natur anschauen und
ergreifen, und in seiner Seele sprechen können: .das Wer! ist in seiner Art
richtig und wahr'". Er vergleicht Raffael und Buonarotti: "Jenen möchte ich
den Maler des Neuen, diesen des Alten Testamentes nennen; denn auf jenem
-- ich wage den kühnen Gedanken auszusprechen -- ruht der stille, göttliche
Geist Christi -- auf diesem der Geist der inspirierten Propheten, des Moses
und der übrigen Dichter des Morgenlandes. Hier ist nichts zu loben oder zu
tadeln, sondern ein jeglicher ist, was er ist."


Wilhelm Heinrich Wackenroder

schreitung; in der völligen Hingebung der Seele in diesen fortreißenden Strom
von Empfindungen; in der Entfernung und Abgezogenheit von jedem störenden
Gedanken und von allen fremdartigen sinnlichen Eindrücken. Dieses geizige
Einschlürfen der Töne ist mit einer gewissen Anstrengung verbunden, die man
nicht allzulange aushält. Eben daher glaube ich behaupten zu können, daß
man höchstens eine Stunde lang Musik mit Teilnehmung zu empfinden vermöge, und
daß daher Konzerte und Opern und Operetten das Maß der Natur überschreiten."

So schritt Wackenroder beständig in Dämmer und Ahnung, scheu und
gleichsam unter die Menschen verschlagen. Er schrak auf bei jedem harten Laute
und litt unter des Lebens rauher Berührung. Das Studium der Jurisprudenz,
das ihm sein Vater empfohlen hatte, war ihm ein Zwang, den er widerwillig
auf sich nahm. Ihn lockte die Ferne. Die Romantiker entdeckten das Unbewußte,
und Wackenroder war einer der ersten, die es in Worte zu fassen suchten. Er
deutete an, wies ahnungsreich den Weg — und mußte die Ausbeute, die Ge¬
staltung anderen überlassen. Tieck nahm auf, was der Freund ihm Neues,
Ungemeines zeigte; und Friedrich Schlegel urteilte sicher, als er seinem Bruder
schrieb: „Er hat wohl mehr Genie als Tieck; aber dieser gewiß weit mehr
Verstand." Immer ist Wackenroder in holden, verlangenden Träumen. In
seinem Joseph Berglinger gab er einen Teil seines Selbst; „denn bei nicht starken
Seelen geht alles, womit der Mensch zu schaffen hat, in sein Blut über und
verwandelt sein Inneres, ohne daß er es selber weiß". So verlieh ihm die
Kunst allein Beseligung und Fülle.

Es soll hier nicht versucht werden, sein Werk darzustellen. Dazu ist es
zu offenbar, zu schlicht und innig. Jedes Wort wird hart und starr, das
deutend und erläuternd diese gartenstille, verklärte Traumwelt zu umschreiben
wagt. Wir erfahren, daß er den Vasari studiert und aus ihm Belehrung und
Anregung gewonnen hat. Und wenn er auch — der Anschauung gemäß, die
seine Zeit beherrschte — der eklektischen Kunst des feinen, glatten, geschmack¬
vollen Raffael mit besonderer Liebe nachging, so muß nachdrücklich erwähnt
werden, daß er doch auch den ungemäßen, umfassenden Tiefblick Leonardos
erkannte, und daß er selbst über den heftigen, stürmenden, ringenden Michel¬
angelo reiche und köstliche Worte findet. „Es ist nicht genug, ein Kunstwerk
zu loben: ,es ist schön und vortrefflich', denn diese allgemeinen Redensarten
gelten auch von den verschiedenartigsten Werken; wir müssen uns jedem großen
Künstler hingeben, mit seinen Organen die Dinge der Natur anschauen und
ergreifen, und in seiner Seele sprechen können: .das Wer! ist in seiner Art
richtig und wahr'". Er vergleicht Raffael und Buonarotti: „Jenen möchte ich
den Maler des Neuen, diesen des Alten Testamentes nennen; denn auf jenem
— ich wage den kühnen Gedanken auszusprechen — ruht der stille, göttliche
Geist Christi — auf diesem der Geist der inspirierten Propheten, des Moses
und der übrigen Dichter des Morgenlandes. Hier ist nichts zu loben oder zu
tadeln, sondern ein jeglicher ist, was er ist."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/196>, abgerufen am 01.01.2025.