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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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vom Berliner Theatermarkt

der Regie, daß man schließlich doch mit dem Hute in der Hand davorsteht und
sich bedingungslos vor soviel künstlerischer Reife und Arbeitsfreudigkeit und
Elastizität beugt. Eindrücke wie den "Tasso", wie "Emilia Galotti", wie das
Strindbergsche "Wetterleuchten" oder wie manche Szenen aus Shakespeare vergißt
man nicht. Da war vieles, was über den Alltagsbegriff des landläufigen
"Theaters" hinausging; vieles, was deutlich genug zu erkennen gab, daß zwischen
Max Reinhardt und der großen Schar seiner Konkurrenten und Nacheiferer denn
doch noch eine ganz gehörige Kluft gähnt.

Zum Schluß muß noch rasch des Schmerzenskindes unter den Berliner
Theatern gedacht werden: des Königlichen Schauspielhauses am Gendarmen¬
markt. Es ist heute schon soweit, daß man melancholisch wird, wenn man nur
den Namen aussprechen hört. Was ist im Laufe der letzten Jahre aus dieser
so reich dotierten und auch innerlich so reichen Bühne geworden! Da hilft kein
Vertuschen, kein Verdunkeln des leider allzu klar liegenden Tatbestandes. Die
Berliner Hofbühne ist uns alles, aber auch schlankweg alles schuldig geblieben,
was wir mit unseren schon arg reduzierten Hoffnungen von ihr erwarteten.
Daß sie auf dem Gebiete jeder ernsthaften modernen dramatischen Produktion
versagen mußte und versagen muß, ist uns nichts Neues. Darüber rechten
wir nicht mehr. Denn schließlich und endlich kann der Hausherr im eigenen
Hause tun und lassen, was ihm beliebt. Aber daß nun auch die Klassiker¬
aufführungen des Schauspielhauses allmählich ein so unterirdisches Niveau erreicht
haben, daß man gar nicht mehr im Ernst darüber reden kann; daß Regie und
Darstellung, trotz wundervoller Schauspieler wie Vollmer, Pohl, Kraußneck,
Patry, Helene Thimig, sich immer wieder in dem Zustande einer absoluten
Verkalktheit präsentiert; daß das ganze Haus anmutet, als wäre es vor sechzig
Jahren eingeschlafen und niemals wieder aufgewacht -- das ist doch zu auf¬
reizend schmerzhaft, als daß man es mit Stillschweigen übergehen könnte. Was
nützt es, ständig um den heißen Brei herumzuschleichen und das Kind niemals
beim rechten Namen zu nennen? Hier tut Abhilfe, schleunigste, allerschleunigste
Abhilfe dringend not. Das Königliche Schauspielhaus könnte und sollte seiner
ganzen Vergangenheit nach ein gesunder, unerschütterlicher Grundpfeiler inmitten
des unsolider Betriebes der Berliner Theaterwirtschaft*) fein, könnte und sollte
im Sinne des Goethescher Wortes: "Was du ererbt von deinen Vätern hast,
erwirb es, um es zu besitzenI" den treusorgenden Verwalter unserer vornehmsten
nationalen Güter abgeben. Und was ist es heute in Wirklichkeit? Eine Mumie,
ein Petrefakt, ein Überbleibsel aus Urgroßvaters Tagen, für das jeder, der



* ) Anm. An dem Tage, an den, diese Zeilen in Druck gehen, Melden die Zeitungen
den Zusammenbruch des Deutschen Schauspielhauses an der Weidendammer Brücke. Damit
schließt ein sehr dunkles Kapitel aus der Berliner Theatergeschichte genau so unrühmlich wie
es begonnen hatte. Das lang hingezogene Sterben des Deutschen Schauspielhauses beweist
noch einmal, mit welch unerhörtem Leichtsinn im heutigen Berlin Theaterunternehmungen
gegründet werden.
vom Berliner Theatermarkt

der Regie, daß man schließlich doch mit dem Hute in der Hand davorsteht und
sich bedingungslos vor soviel künstlerischer Reife und Arbeitsfreudigkeit und
Elastizität beugt. Eindrücke wie den „Tasso", wie „Emilia Galotti", wie das
Strindbergsche „Wetterleuchten" oder wie manche Szenen aus Shakespeare vergißt
man nicht. Da war vieles, was über den Alltagsbegriff des landläufigen
„Theaters" hinausging; vieles, was deutlich genug zu erkennen gab, daß zwischen
Max Reinhardt und der großen Schar seiner Konkurrenten und Nacheiferer denn
doch noch eine ganz gehörige Kluft gähnt.

Zum Schluß muß noch rasch des Schmerzenskindes unter den Berliner
Theatern gedacht werden: des Königlichen Schauspielhauses am Gendarmen¬
markt. Es ist heute schon soweit, daß man melancholisch wird, wenn man nur
den Namen aussprechen hört. Was ist im Laufe der letzten Jahre aus dieser
so reich dotierten und auch innerlich so reichen Bühne geworden! Da hilft kein
Vertuschen, kein Verdunkeln des leider allzu klar liegenden Tatbestandes. Die
Berliner Hofbühne ist uns alles, aber auch schlankweg alles schuldig geblieben,
was wir mit unseren schon arg reduzierten Hoffnungen von ihr erwarteten.
Daß sie auf dem Gebiete jeder ernsthaften modernen dramatischen Produktion
versagen mußte und versagen muß, ist uns nichts Neues. Darüber rechten
wir nicht mehr. Denn schließlich und endlich kann der Hausherr im eigenen
Hause tun und lassen, was ihm beliebt. Aber daß nun auch die Klassiker¬
aufführungen des Schauspielhauses allmählich ein so unterirdisches Niveau erreicht
haben, daß man gar nicht mehr im Ernst darüber reden kann; daß Regie und
Darstellung, trotz wundervoller Schauspieler wie Vollmer, Pohl, Kraußneck,
Patry, Helene Thimig, sich immer wieder in dem Zustande einer absoluten
Verkalktheit präsentiert; daß das ganze Haus anmutet, als wäre es vor sechzig
Jahren eingeschlafen und niemals wieder aufgewacht — das ist doch zu auf¬
reizend schmerzhaft, als daß man es mit Stillschweigen übergehen könnte. Was
nützt es, ständig um den heißen Brei herumzuschleichen und das Kind niemals
beim rechten Namen zu nennen? Hier tut Abhilfe, schleunigste, allerschleunigste
Abhilfe dringend not. Das Königliche Schauspielhaus könnte und sollte seiner
ganzen Vergangenheit nach ein gesunder, unerschütterlicher Grundpfeiler inmitten
des unsolider Betriebes der Berliner Theaterwirtschaft*) fein, könnte und sollte
im Sinne des Goethescher Wortes: „Was du ererbt von deinen Vätern hast,
erwirb es, um es zu besitzenI" den treusorgenden Verwalter unserer vornehmsten
nationalen Güter abgeben. Und was ist es heute in Wirklichkeit? Eine Mumie,
ein Petrefakt, ein Überbleibsel aus Urgroßvaters Tagen, für das jeder, der



* ) Anm. An dem Tage, an den, diese Zeilen in Druck gehen, Melden die Zeitungen
den Zusammenbruch des Deutschen Schauspielhauses an der Weidendammer Brücke. Damit
schließt ein sehr dunkles Kapitel aus der Berliner Theatergeschichte genau so unrühmlich wie
es begonnen hatte. Das lang hingezogene Sterben des Deutschen Schauspielhauses beweist
noch einmal, mit welch unerhörtem Leichtsinn im heutigen Berlin Theaterunternehmungen
gegründet werden.
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/193>, abgerufen am 29.12.2024.