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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Die Hexe von Mayen

Korbflechter und freute sich des Nebenverdienstes. Er konnte nicht lesen, aber
als ihm Grill das Siegel der Stadt wies, zeigte er ein paar Zahnstummel
und humpelte zum Tor, um es mit einem gewaltigen Schlüssel zu öffnen.

"Willst als wieder einkaufen, Grill?" fragte er, und sie murmelte etwas
Unverständliches. Sie konnte den alten Kant nicht leiden, aber heut abend
wurde ihr der Abschied sogar von ihm schwer. Nun stand sie draußen; von
den Bergen kam der Wind und der Regen, und in den kahlen Bäumen rauschte
es drohend. Aber Grill schlug sich das Tuch fest um den Kopf, senkte ihn und
ging trotzig feldeinwärts. Sie kannte den Weg an die Mosel. Durch Wald
ging es und an kahlen Höhen vorüber. Bis sich die Höhen abwärts neigten
und die flinke Mosel ihre Gewässer durch die Weinberge führte. Es war
wärmer dort, und vielleicht blühten schon die Bäume und die Bauern gruben
in den Weinbergen, wenn sie nicht von den Franzosen totgeschlagen wurden.

Der Wind wurde stärker und Grill senkte den Kopf immer tiefer. Der
Regen war kalt wie Eis und tat ihr weh; einen Augenblick blieb sie stehen,
um Atem zu holen, dann ging sie wieder weiter. Weshalb wohl der Stadt¬
schreiber an den französischen Mann schrieb? Wieder blieb die Frau stehen
und duckte sich in den Schutz von zwei großen Bäumen. Es war ihr, als
klirrte etwas: waren die Franzosen schon so nahe, daß sie den ganzen Weg
von der Mosel her gekommen waren? Und wenn die Franzosen die Stadt
einnahmen, was wohl mit ihren Kindern werden würde? Die Lies war ein
großes Ding und auch wohl hübsch. -- Grill hatte in Koblenz gehört, daß
die Welschen manchmal die Mädchen mit sich nahmen, und daß kein Mensch
wieder von ihnen hörte. Wenn ihre Lies nun so in die Welt verschleppt würde?

Es klirrte wieder, ein Pferd schnob, und dann rief eine Stimme: "Hier
ist Schutz, gnädiger Herr! Ich kann ein Licht anzünden und auf die Karte blicken!"

Grill schrie auf. Ein Pferd trat sie beinahe auf den Fuß und ein Reiter¬
stiefel streifte sie.

"Hallo! Wen haben wir hier?" Eine schwere Hand faßte sie.

"Erbarmen, Herr! Ich tat nichts Böses!"

"Das sagen sie alle!" murrte die Stimme, während die Faust noch fester
zupackte. "Sag, woher du kommst und was du hier tust! Zur Nachtzeit
laufen ehrbare Weiber nicht auf der Landstraße umher!"

"Haltet sie, Josias. und gebt mir das Feuerzeug!" sagte eine andere,
ruhigere Stimme. "Ich will aus der Karte nachschauen, wohin wir ge¬
ritten sind!"

Ein Funken blitzte auf und bald brannte eine kleine Wachskerze, bei deren
Schein Grill zwei Berittene sah. die so dicht neben ihr standen, daß sie sich
kaum vor den Hufen der Pferde retten konnte. Beide trugen einfache Leder¬
kleidung, aber der eine hatte stolze Haltung und eine vornehme Sprache.

Beide Gesichter beugten sich über ein Blatt, das der jüngere in der Hand
hielt, dann erlosch das Licht und der eine Reiter fluchte.


Die Hexe von Mayen

Korbflechter und freute sich des Nebenverdienstes. Er konnte nicht lesen, aber
als ihm Grill das Siegel der Stadt wies, zeigte er ein paar Zahnstummel
und humpelte zum Tor, um es mit einem gewaltigen Schlüssel zu öffnen.

„Willst als wieder einkaufen, Grill?" fragte er, und sie murmelte etwas
Unverständliches. Sie konnte den alten Kant nicht leiden, aber heut abend
wurde ihr der Abschied sogar von ihm schwer. Nun stand sie draußen; von
den Bergen kam der Wind und der Regen, und in den kahlen Bäumen rauschte
es drohend. Aber Grill schlug sich das Tuch fest um den Kopf, senkte ihn und
ging trotzig feldeinwärts. Sie kannte den Weg an die Mosel. Durch Wald
ging es und an kahlen Höhen vorüber. Bis sich die Höhen abwärts neigten
und die flinke Mosel ihre Gewässer durch die Weinberge führte. Es war
wärmer dort, und vielleicht blühten schon die Bäume und die Bauern gruben
in den Weinbergen, wenn sie nicht von den Franzosen totgeschlagen wurden.

Der Wind wurde stärker und Grill senkte den Kopf immer tiefer. Der
Regen war kalt wie Eis und tat ihr weh; einen Augenblick blieb sie stehen,
um Atem zu holen, dann ging sie wieder weiter. Weshalb wohl der Stadt¬
schreiber an den französischen Mann schrieb? Wieder blieb die Frau stehen
und duckte sich in den Schutz von zwei großen Bäumen. Es war ihr, als
klirrte etwas: waren die Franzosen schon so nahe, daß sie den ganzen Weg
von der Mosel her gekommen waren? Und wenn die Franzosen die Stadt
einnahmen, was wohl mit ihren Kindern werden würde? Die Lies war ein
großes Ding und auch wohl hübsch. — Grill hatte in Koblenz gehört, daß
die Welschen manchmal die Mädchen mit sich nahmen, und daß kein Mensch
wieder von ihnen hörte. Wenn ihre Lies nun so in die Welt verschleppt würde?

Es klirrte wieder, ein Pferd schnob, und dann rief eine Stimme: „Hier
ist Schutz, gnädiger Herr! Ich kann ein Licht anzünden und auf die Karte blicken!"

Grill schrie auf. Ein Pferd trat sie beinahe auf den Fuß und ein Reiter¬
stiefel streifte sie.

„Hallo! Wen haben wir hier?" Eine schwere Hand faßte sie.

„Erbarmen, Herr! Ich tat nichts Böses!"

„Das sagen sie alle!" murrte die Stimme, während die Faust noch fester
zupackte. „Sag, woher du kommst und was du hier tust! Zur Nachtzeit
laufen ehrbare Weiber nicht auf der Landstraße umher!"

„Haltet sie, Josias. und gebt mir das Feuerzeug!" sagte eine andere,
ruhigere Stimme. „Ich will aus der Karte nachschauen, wohin wir ge¬
ritten sind!"

Ein Funken blitzte auf und bald brannte eine kleine Wachskerze, bei deren
Schein Grill zwei Berittene sah. die so dicht neben ihr standen, daß sie sich
kaum vor den Hufen der Pferde retten konnte. Beide trugen einfache Leder¬
kleidung, aber der eine hatte stolze Haltung und eine vornehme Sprache.

Beide Gesichter beugten sich über ein Blatt, das der jüngere in der Hand
hielt, dann erlosch das Licht und der eine Reiter fluchte.


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[0183] Die Hexe von Mayen Korbflechter und freute sich des Nebenverdienstes. Er konnte nicht lesen, aber als ihm Grill das Siegel der Stadt wies, zeigte er ein paar Zahnstummel und humpelte zum Tor, um es mit einem gewaltigen Schlüssel zu öffnen. „Willst als wieder einkaufen, Grill?" fragte er, und sie murmelte etwas Unverständliches. Sie konnte den alten Kant nicht leiden, aber heut abend wurde ihr der Abschied sogar von ihm schwer. Nun stand sie draußen; von den Bergen kam der Wind und der Regen, und in den kahlen Bäumen rauschte es drohend. Aber Grill schlug sich das Tuch fest um den Kopf, senkte ihn und ging trotzig feldeinwärts. Sie kannte den Weg an die Mosel. Durch Wald ging es und an kahlen Höhen vorüber. Bis sich die Höhen abwärts neigten und die flinke Mosel ihre Gewässer durch die Weinberge führte. Es war wärmer dort, und vielleicht blühten schon die Bäume und die Bauern gruben in den Weinbergen, wenn sie nicht von den Franzosen totgeschlagen wurden. Der Wind wurde stärker und Grill senkte den Kopf immer tiefer. Der Regen war kalt wie Eis und tat ihr weh; einen Augenblick blieb sie stehen, um Atem zu holen, dann ging sie wieder weiter. Weshalb wohl der Stadt¬ schreiber an den französischen Mann schrieb? Wieder blieb die Frau stehen und duckte sich in den Schutz von zwei großen Bäumen. Es war ihr, als klirrte etwas: waren die Franzosen schon so nahe, daß sie den ganzen Weg von der Mosel her gekommen waren? Und wenn die Franzosen die Stadt einnahmen, was wohl mit ihren Kindern werden würde? Die Lies war ein großes Ding und auch wohl hübsch. — Grill hatte in Koblenz gehört, daß die Welschen manchmal die Mädchen mit sich nahmen, und daß kein Mensch wieder von ihnen hörte. Wenn ihre Lies nun so in die Welt verschleppt würde? Es klirrte wieder, ein Pferd schnob, und dann rief eine Stimme: „Hier ist Schutz, gnädiger Herr! Ich kann ein Licht anzünden und auf die Karte blicken!" Grill schrie auf. Ein Pferd trat sie beinahe auf den Fuß und ein Reiter¬ stiefel streifte sie. „Hallo! Wen haben wir hier?" Eine schwere Hand faßte sie. „Erbarmen, Herr! Ich tat nichts Böses!" „Das sagen sie alle!" murrte die Stimme, während die Faust noch fester zupackte. „Sag, woher du kommst und was du hier tust! Zur Nachtzeit laufen ehrbare Weiber nicht auf der Landstraße umher!" „Haltet sie, Josias. und gebt mir das Feuerzeug!" sagte eine andere, ruhigere Stimme. „Ich will aus der Karte nachschauen, wohin wir ge¬ ritten sind!" Ein Funken blitzte auf und bald brannte eine kleine Wachskerze, bei deren Schein Grill zwei Berittene sah. die so dicht neben ihr standen, daß sie sich kaum vor den Hufen der Pferde retten konnte. Beide trugen einfache Leder¬ kleidung, aber der eine hatte stolze Haltung und eine vornehme Sprache. Beide Gesichter beugten sich über ein Blatt, das der jüngere in der Hand hielt, dann erlosch das Licht und der eine Reiter fluchte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/183>, abgerufen am 01.01.2025.