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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Die Hexe von Mayen

"Eßt es nur!"

"Sollst auch was haben!" meinte Lies, aber die Botenfrau stand auf und
ging aus der Tür, ohne noch einen Blick rückwärts zu tun. Sie wußte, daß
sie nicht wiederkommen würde. Schon in die Nähe von Koblenz sollten die
Franzosen kommen. Also würde sie ihnen gleich in die Hände laufen. Und
was dann mit ihr geschah, das konnte sie sich denken! Hübsch war sie nicht
und alt war sie auch -- spät war sie zur Ehe gekommen, und der Franz, der
sie endlich freite, war schon lange tot. Aber lieber würde sie noch eine Zeit¬
lang gelebt haben, wenn auch das Leben wenig Freuden bot. Aber was sagte
der Pfarrer in der Beichte? Zur Freude käme kein Mensch auf die Welt,
und nur zum Leide. Ja, der hochwürdige Herr mußte es wissen. Also mußte
man wohl dem Leid entgegengehen und sich freuen, wenn es nicht zu lange
dauerte. Doch war es besser, den Kindern nicht Lebewohl zu sagen. Wenn
die Mutter nicht wiederkehrte, so mußten sie sich eben durchschlagen.

Grill schlüpfte an den Häusern entlang, sah, wie hier und dort ein Licht¬
schein aufblitzte, und blieb endlich vor einem Hause stehen, in dem ein Fenster
recht hell war. Hier wohnte der Herr Bürgermeister, und wenn er nicht krank
gewesen wäre, würde Lambert Wendemut nicht regieren und sie in ihren Tod
schicken. Aber er lag mit verbundenen Beinen und schrie manchmal vor
Schmerzen, und seine Frau sagte, das wäre die Strafe, weil er immer so gern
einen Becher Wein getrunken habe. Aber er war ein guter Herr und würde Grill
glauben, wenn sie sagte, daß die Hexe den Packen vom Wagen gezaubert habe.
Ja, die Hexe! Grill kroch an den Häusern entlang, bis sie zum Turm kam --
trotzig und dunkel lag er dort, und in ihm wohnte die Böse, die über Grill
das Unglück gebracht hatte.

Die Schustermeisterin Gallich von der Ecke hatte es ihr gleich gesagt, als
sie den verlorenen Packen suchte und nicht finden konnte.

"Paß auf, Grill! Wir haben eine Teufelsbuhlerin in der Stadt -- heut
morgen sind bei mir sieben Schiefer vom Dach gefallen und unser Schwein
hat den Husten. Und nebenan beim Färber ist das älteste Kind in Krümpfen
gestorben!"

Grill schauderte, wenn sie an das Elend dachte, das so eine Teufelsbünd-
nerin anstiften konnte, und in ihrem Herzen stieg wilder Zorn auf. Wenn sie
doch die Hexe erwischen und sie mit verbrennen könnte! Sie hatte sie ins Un¬
glück gestürzt! Allerlei Geschichten gingen durch ihren Kopf. Wenn sie sonst
mit ihrem Handwagen nach Koblenz zog und dort Besorgungen machte, dann
dachte sie nie etwas. Nun aber fiel ihr eine Zaubergeschichte nach der anderen
ein. Überall gab es böse Geister, sie quälten die Menschen und brachten sie in
die Hölle! Und nun war eine solche Zauberin hier in der Stadt, und sie, die
arme Grill, mußte deswegen in den Tod!

Es war dunkel geworden und Grill ging zum Osttor, um Auslaß zu
begehren. Da saß der Torwart und flickte einen Korb. Denn er war auch


Die Hexe von Mayen

„Eßt es nur!"

„Sollst auch was haben!" meinte Lies, aber die Botenfrau stand auf und
ging aus der Tür, ohne noch einen Blick rückwärts zu tun. Sie wußte, daß
sie nicht wiederkommen würde. Schon in die Nähe von Koblenz sollten die
Franzosen kommen. Also würde sie ihnen gleich in die Hände laufen. Und
was dann mit ihr geschah, das konnte sie sich denken! Hübsch war sie nicht
und alt war sie auch — spät war sie zur Ehe gekommen, und der Franz, der
sie endlich freite, war schon lange tot. Aber lieber würde sie noch eine Zeit¬
lang gelebt haben, wenn auch das Leben wenig Freuden bot. Aber was sagte
der Pfarrer in der Beichte? Zur Freude käme kein Mensch auf die Welt,
und nur zum Leide. Ja, der hochwürdige Herr mußte es wissen. Also mußte
man wohl dem Leid entgegengehen und sich freuen, wenn es nicht zu lange
dauerte. Doch war es besser, den Kindern nicht Lebewohl zu sagen. Wenn
die Mutter nicht wiederkehrte, so mußten sie sich eben durchschlagen.

Grill schlüpfte an den Häusern entlang, sah, wie hier und dort ein Licht¬
schein aufblitzte, und blieb endlich vor einem Hause stehen, in dem ein Fenster
recht hell war. Hier wohnte der Herr Bürgermeister, und wenn er nicht krank
gewesen wäre, würde Lambert Wendemut nicht regieren und sie in ihren Tod
schicken. Aber er lag mit verbundenen Beinen und schrie manchmal vor
Schmerzen, und seine Frau sagte, das wäre die Strafe, weil er immer so gern
einen Becher Wein getrunken habe. Aber er war ein guter Herr und würde Grill
glauben, wenn sie sagte, daß die Hexe den Packen vom Wagen gezaubert habe.
Ja, die Hexe! Grill kroch an den Häusern entlang, bis sie zum Turm kam —
trotzig und dunkel lag er dort, und in ihm wohnte die Böse, die über Grill
das Unglück gebracht hatte.

Die Schustermeisterin Gallich von der Ecke hatte es ihr gleich gesagt, als
sie den verlorenen Packen suchte und nicht finden konnte.

„Paß auf, Grill! Wir haben eine Teufelsbuhlerin in der Stadt — heut
morgen sind bei mir sieben Schiefer vom Dach gefallen und unser Schwein
hat den Husten. Und nebenan beim Färber ist das älteste Kind in Krümpfen
gestorben!"

Grill schauderte, wenn sie an das Elend dachte, das so eine Teufelsbünd-
nerin anstiften konnte, und in ihrem Herzen stieg wilder Zorn auf. Wenn sie
doch die Hexe erwischen und sie mit verbrennen könnte! Sie hatte sie ins Un¬
glück gestürzt! Allerlei Geschichten gingen durch ihren Kopf. Wenn sie sonst
mit ihrem Handwagen nach Koblenz zog und dort Besorgungen machte, dann
dachte sie nie etwas. Nun aber fiel ihr eine Zaubergeschichte nach der anderen
ein. Überall gab es böse Geister, sie quälten die Menschen und brachten sie in
die Hölle! Und nun war eine solche Zauberin hier in der Stadt, und sie, die
arme Grill, mußte deswegen in den Tod!

Es war dunkel geworden und Grill ging zum Osttor, um Auslaß zu
begehren. Da saß der Torwart und flickte einen Korb. Denn er war auch


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[0182] Die Hexe von Mayen „Eßt es nur!" „Sollst auch was haben!" meinte Lies, aber die Botenfrau stand auf und ging aus der Tür, ohne noch einen Blick rückwärts zu tun. Sie wußte, daß sie nicht wiederkommen würde. Schon in die Nähe von Koblenz sollten die Franzosen kommen. Also würde sie ihnen gleich in die Hände laufen. Und was dann mit ihr geschah, das konnte sie sich denken! Hübsch war sie nicht und alt war sie auch — spät war sie zur Ehe gekommen, und der Franz, der sie endlich freite, war schon lange tot. Aber lieber würde sie noch eine Zeit¬ lang gelebt haben, wenn auch das Leben wenig Freuden bot. Aber was sagte der Pfarrer in der Beichte? Zur Freude käme kein Mensch auf die Welt, und nur zum Leide. Ja, der hochwürdige Herr mußte es wissen. Also mußte man wohl dem Leid entgegengehen und sich freuen, wenn es nicht zu lange dauerte. Doch war es besser, den Kindern nicht Lebewohl zu sagen. Wenn die Mutter nicht wiederkehrte, so mußten sie sich eben durchschlagen. Grill schlüpfte an den Häusern entlang, sah, wie hier und dort ein Licht¬ schein aufblitzte, und blieb endlich vor einem Hause stehen, in dem ein Fenster recht hell war. Hier wohnte der Herr Bürgermeister, und wenn er nicht krank gewesen wäre, würde Lambert Wendemut nicht regieren und sie in ihren Tod schicken. Aber er lag mit verbundenen Beinen und schrie manchmal vor Schmerzen, und seine Frau sagte, das wäre die Strafe, weil er immer so gern einen Becher Wein getrunken habe. Aber er war ein guter Herr und würde Grill glauben, wenn sie sagte, daß die Hexe den Packen vom Wagen gezaubert habe. Ja, die Hexe! Grill kroch an den Häusern entlang, bis sie zum Turm kam — trotzig und dunkel lag er dort, und in ihm wohnte die Böse, die über Grill das Unglück gebracht hatte. Die Schustermeisterin Gallich von der Ecke hatte es ihr gleich gesagt, als sie den verlorenen Packen suchte und nicht finden konnte. „Paß auf, Grill! Wir haben eine Teufelsbuhlerin in der Stadt — heut morgen sind bei mir sieben Schiefer vom Dach gefallen und unser Schwein hat den Husten. Und nebenan beim Färber ist das älteste Kind in Krümpfen gestorben!" Grill schauderte, wenn sie an das Elend dachte, das so eine Teufelsbünd- nerin anstiften konnte, und in ihrem Herzen stieg wilder Zorn auf. Wenn sie doch die Hexe erwischen und sie mit verbrennen könnte! Sie hatte sie ins Un¬ glück gestürzt! Allerlei Geschichten gingen durch ihren Kopf. Wenn sie sonst mit ihrem Handwagen nach Koblenz zog und dort Besorgungen machte, dann dachte sie nie etwas. Nun aber fiel ihr eine Zaubergeschichte nach der anderen ein. Überall gab es böse Geister, sie quälten die Menschen und brachten sie in die Hölle! Und nun war eine solche Zauberin hier in der Stadt, und sie, die arme Grill, mußte deswegen in den Tod! Es war dunkel geworden und Grill ging zum Osttor, um Auslaß zu begehren. Da saß der Torwart und flickte einen Korb. Denn er war auch

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/182>, abgerufen am 01.01.2025.