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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Russische Lindrücke eines Kroaten

ein charakteristisches (kriminelles?) Merkmal oder das Anzeichen versteckter körper¬
licher Reize betrachten: feindselig, interessiert und begeistert zugleich.

Diese beiden Sphinxe, sind sie nicht das Symbol der Sankt Petersburger
Seele mit den zwei Naturen. Kulturen, und mit irgendeinem gemeinsamen
Geheimnis, einer Blutsgenossenschaft, einer allgemein menschlichen tieferen Einheit?
-- Sphinxe an der Newa! Die Newa ist nicht der Nil, aber auch ein Gewässer,
das ewig fließt. Frauen sind keine Sphinxe, aber Sphinxe und Frauen sind
geheimnisvolle, immer wieder zu lösende Rätsel. Sabori sind keine Basiliken,
aber Basiliken und Sabori sind Gottestempel, und es ist nur ein Gott -- wenn
es ihn gibt.

Ja, wenn es ihn gibt? Das ist die ewige Frage dieses Volkes von
Gotteskämpfern, das einen Gogol, Dostojewski und einen Tolstoj geboren hat,
das alle seine synthetischen Kräfte anstrengt, um schließlich durch Zweifel und
Gegensätze des Zweifels hindurch mit irgendeinem "Ja" antworten zu können:
nicht mit einem Begriff, mit einem Bild, oder beinahe mit einer Tat. Vor uns
steht, erwartet und unverhofft Mereschkowski, der Autor des Gott-Menschen und
Mensch Gottes, der Synthetiker Nietzsches und Tolstojs, des Antichrist und
des Christ.

Und in den bleichen Nächten, wenn die Sphinxe vom Mondensilber an
den Ufern der Urheimat träumen und vom Gesang des Priesterchores am
Osirisaltar, stiehl dich zu ihnen und betrachte sie. Sie lächeln. Lächeln ein
bleiches Lächeln und du kannst leicht auf ihren geheimnisvollen Gesichtern eine
Art Freude lesen, die den ganzen numidischen Körper der Ungeheuer durch¬
strömt, vom Frauenkopf unter der Priestermitra bis zu den weiblichen Löwen¬
hüften und bis in das letzte Glied des nervigen Schweiss, der ein anderes,
ganz anderes Geheimnis bedeckt, als die Priestertiara, die Mitra. Aber das
Lächeln ist bei der einen wie bei der andern das gleiche, und wieder weißt du
nicht, auf welcher Seite die Wahrheit liegt. Gott-Mensch oder Mensch-Gott.
Schweif-Haupt oder Haupt-Schweif? Die Sphinx! Ein sinniger Unsinn und
daher das geniale Lachen, das von der Mitra bis in den Schweif ausgegossen ist.

Während ihr euch so in philosophisch-religiösen Spekulationen ergeht,
streift euch die schwarze Kutte seiner Ehrwürden. Man sitzt bei einem Gläschen
Tee am Freundestisch, und sicher waren hier schon im Gespräch bis Mitternacht
große Fragen gelöst worden. "Entschuldige, Oladika, um Gottes willen, sage,
wer Christus war, Gott-Mensch oder Mensch-Gott?" -- "Nicht eins, nicht
das andere -- sondern die Dreiheit; das Geheimnis der allerheiligsten Drei¬
einigkeit lehrt das Evangelium, lehren die Kirchenväter und der spröd. Das
ist der Glaube der rechtgläubigen Kirche. Glaube dem Dogma."

Und der dualistische Begriff von Sankt Petersburg ist erschüttert, auf¬
gehoben, vernichtet. Vor dir öffnet sich der Blick auf drei Dimensionen,
nicht nur auf Länge und Breite, sondern auch -- auf die Höhe. Vor Kuppeln
und Zwiebeltürmen steht die Erinnerung auf und die Ahnung von gotischen


Russische Lindrücke eines Kroaten

ein charakteristisches (kriminelles?) Merkmal oder das Anzeichen versteckter körper¬
licher Reize betrachten: feindselig, interessiert und begeistert zugleich.

Diese beiden Sphinxe, sind sie nicht das Symbol der Sankt Petersburger
Seele mit den zwei Naturen. Kulturen, und mit irgendeinem gemeinsamen
Geheimnis, einer Blutsgenossenschaft, einer allgemein menschlichen tieferen Einheit?
— Sphinxe an der Newa! Die Newa ist nicht der Nil, aber auch ein Gewässer,
das ewig fließt. Frauen sind keine Sphinxe, aber Sphinxe und Frauen sind
geheimnisvolle, immer wieder zu lösende Rätsel. Sabori sind keine Basiliken,
aber Basiliken und Sabori sind Gottestempel, und es ist nur ein Gott — wenn
es ihn gibt.

Ja, wenn es ihn gibt? Das ist die ewige Frage dieses Volkes von
Gotteskämpfern, das einen Gogol, Dostojewski und einen Tolstoj geboren hat,
das alle seine synthetischen Kräfte anstrengt, um schließlich durch Zweifel und
Gegensätze des Zweifels hindurch mit irgendeinem „Ja" antworten zu können:
nicht mit einem Begriff, mit einem Bild, oder beinahe mit einer Tat. Vor uns
steht, erwartet und unverhofft Mereschkowski, der Autor des Gott-Menschen und
Mensch Gottes, der Synthetiker Nietzsches und Tolstojs, des Antichrist und
des Christ.

Und in den bleichen Nächten, wenn die Sphinxe vom Mondensilber an
den Ufern der Urheimat träumen und vom Gesang des Priesterchores am
Osirisaltar, stiehl dich zu ihnen und betrachte sie. Sie lächeln. Lächeln ein
bleiches Lächeln und du kannst leicht auf ihren geheimnisvollen Gesichtern eine
Art Freude lesen, die den ganzen numidischen Körper der Ungeheuer durch¬
strömt, vom Frauenkopf unter der Priestermitra bis zu den weiblichen Löwen¬
hüften und bis in das letzte Glied des nervigen Schweiss, der ein anderes,
ganz anderes Geheimnis bedeckt, als die Priestertiara, die Mitra. Aber das
Lächeln ist bei der einen wie bei der andern das gleiche, und wieder weißt du
nicht, auf welcher Seite die Wahrheit liegt. Gott-Mensch oder Mensch-Gott.
Schweif-Haupt oder Haupt-Schweif? Die Sphinx! Ein sinniger Unsinn und
daher das geniale Lachen, das von der Mitra bis in den Schweif ausgegossen ist.

Während ihr euch so in philosophisch-religiösen Spekulationen ergeht,
streift euch die schwarze Kutte seiner Ehrwürden. Man sitzt bei einem Gläschen
Tee am Freundestisch, und sicher waren hier schon im Gespräch bis Mitternacht
große Fragen gelöst worden. „Entschuldige, Oladika, um Gottes willen, sage,
wer Christus war, Gott-Mensch oder Mensch-Gott?" — „Nicht eins, nicht
das andere — sondern die Dreiheit; das Geheimnis der allerheiligsten Drei¬
einigkeit lehrt das Evangelium, lehren die Kirchenväter und der spröd. Das
ist der Glaube der rechtgläubigen Kirche. Glaube dem Dogma."

Und der dualistische Begriff von Sankt Petersburg ist erschüttert, auf¬
gehoben, vernichtet. Vor dir öffnet sich der Blick auf drei Dimensionen,
nicht nur auf Länge und Breite, sondern auch — auf die Höhe. Vor Kuppeln
und Zwiebeltürmen steht die Erinnerung auf und die Ahnung von gotischen


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[0171] Russische Lindrücke eines Kroaten ein charakteristisches (kriminelles?) Merkmal oder das Anzeichen versteckter körper¬ licher Reize betrachten: feindselig, interessiert und begeistert zugleich. Diese beiden Sphinxe, sind sie nicht das Symbol der Sankt Petersburger Seele mit den zwei Naturen. Kulturen, und mit irgendeinem gemeinsamen Geheimnis, einer Blutsgenossenschaft, einer allgemein menschlichen tieferen Einheit? — Sphinxe an der Newa! Die Newa ist nicht der Nil, aber auch ein Gewässer, das ewig fließt. Frauen sind keine Sphinxe, aber Sphinxe und Frauen sind geheimnisvolle, immer wieder zu lösende Rätsel. Sabori sind keine Basiliken, aber Basiliken und Sabori sind Gottestempel, und es ist nur ein Gott — wenn es ihn gibt. Ja, wenn es ihn gibt? Das ist die ewige Frage dieses Volkes von Gotteskämpfern, das einen Gogol, Dostojewski und einen Tolstoj geboren hat, das alle seine synthetischen Kräfte anstrengt, um schließlich durch Zweifel und Gegensätze des Zweifels hindurch mit irgendeinem „Ja" antworten zu können: nicht mit einem Begriff, mit einem Bild, oder beinahe mit einer Tat. Vor uns steht, erwartet und unverhofft Mereschkowski, der Autor des Gott-Menschen und Mensch Gottes, der Synthetiker Nietzsches und Tolstojs, des Antichrist und des Christ. Und in den bleichen Nächten, wenn die Sphinxe vom Mondensilber an den Ufern der Urheimat träumen und vom Gesang des Priesterchores am Osirisaltar, stiehl dich zu ihnen und betrachte sie. Sie lächeln. Lächeln ein bleiches Lächeln und du kannst leicht auf ihren geheimnisvollen Gesichtern eine Art Freude lesen, die den ganzen numidischen Körper der Ungeheuer durch¬ strömt, vom Frauenkopf unter der Priestermitra bis zu den weiblichen Löwen¬ hüften und bis in das letzte Glied des nervigen Schweiss, der ein anderes, ganz anderes Geheimnis bedeckt, als die Priestertiara, die Mitra. Aber das Lächeln ist bei der einen wie bei der andern das gleiche, und wieder weißt du nicht, auf welcher Seite die Wahrheit liegt. Gott-Mensch oder Mensch-Gott. Schweif-Haupt oder Haupt-Schweif? Die Sphinx! Ein sinniger Unsinn und daher das geniale Lachen, das von der Mitra bis in den Schweif ausgegossen ist. Während ihr euch so in philosophisch-religiösen Spekulationen ergeht, streift euch die schwarze Kutte seiner Ehrwürden. Man sitzt bei einem Gläschen Tee am Freundestisch, und sicher waren hier schon im Gespräch bis Mitternacht große Fragen gelöst worden. „Entschuldige, Oladika, um Gottes willen, sage, wer Christus war, Gott-Mensch oder Mensch-Gott?" — „Nicht eins, nicht das andere — sondern die Dreiheit; das Geheimnis der allerheiligsten Drei¬ einigkeit lehrt das Evangelium, lehren die Kirchenväter und der spröd. Das ist der Glaube der rechtgläubigen Kirche. Glaube dem Dogma." Und der dualistische Begriff von Sankt Petersburg ist erschüttert, auf¬ gehoben, vernichtet. Vor dir öffnet sich der Blick auf drei Dimensionen, nicht nur auf Länge und Breite, sondern auch — auf die Höhe. Vor Kuppeln und Zwiebeltürmen steht die Erinnerung auf und die Ahnung von gotischen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/171>, abgerufen am 01.01.2025.