Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Russische Eindrücke eines Kroaten

litauischen Granit! Ganz Rußland bäumt sich unter den Sporen des unerbitt¬
lichen Fortschrittszaren: das Roß stampft den Stein und zertritt die legendäre
Schlange, die vielleicht auch jenen russischen Schlamm bedeutet, den der kühne
Reiter zusammengestampft hat.

Und nun tritt Petersburg wieder in eine neue Architekturepoche -- das
Direktoire. Die Erneuerung des imperatorischen, cäsarischen, römischen Geistes
in der Architektur erfaßt auch die Stadt des östlichen, unrömischen Peter. Lange
Fassaden mit dicken Säulen. Zu beiden Seiten des ehernen Reiters: links
der spröd, rechts die Admiralität -- lange Kilometergebäude. Sie ziehen sich
eine Viertelstunde weit und können nicht "hinauf"..... Auch die Akademie
kann es nicht, die Börse nicht, nichts in diesem Stile und auf diesem Grund.
Eine Art Katholizismus wehte über das Reußenland. Alexander der Erste war
Mystiker, geheime Religionsgesellschaften verbreiteten sich über Rußland, Geheim¬
bünde mit geheimen Gebräuchen, religiöse Romantik. Es blieb nichts Großes
von alledem, außer dem "Kasanski sabor" (Tempel) im Stile des Se. Peter
zu Rom und dem jüngeren grandiosen "Jsakijewski sabor", der mich lebhaft an
das Pantheon in Paris erinnert.

Hier beginnt die Begriffsvermengung. Basiliken und Tempel, byzantinische
Zwiebeltürme und Renaissancekuppeln. Eins neben dem anderen. Der Westen
kreuzt sich mit dem Osten, Rom mit Konstantinopel, Paris mit Moskau, und
es ersteht -- Sankt Petersburg.

Innerhalb der Petersburger Mauern prallen Progresststen und Reaktionäre
aneinander, Konservative und Revolutionäre, Slawjanophilen und Anhänger des
Westens, Dekabristen und Diener des Zarentums, Bjelinski und Aksakow und
weiter, weiter gegen das Ende des neunzehnten Jahrhunderts selbst ein Turgenjew
und ein Tolstoj.

Worin liegt die Seele dieser Stadt? Liegt sie wirklich in endlosen, un¬
seligen Widersprüchen?

Vor der Fassade der Akademie der bildenden Künste lagern am Ufer der
Newa zwei Sphinxe, einander gleich, einander zugekehrt, -- seltsam! Eine
Aufschrift besagt, sie seien aus uralten ägyptischen Grabstätten im Jahre 1832
hierher in die Stadt des heiligen Peter gebracht worden. Ich konnte mich an
diesen Sphinxen nicht satt sehen, und so oft ich an ihnen vorüberging, fand
ich an ihnen irgend etwas Neues, das ich früher nicht gesehen hatte oder nicht
sehen wollte. Und jedesmal zog ich andere Beschauer nach, die bald mich, bald
die Sphinxe anguckten und . . . weiter wanderten. Die Sphinxe sind völlig
gleich, sogar ihre Schnauzen sind an derselben Stelle zerschlagen, wenn man
von Schnauze sprechen kann, da es doch der Kopf eines Weibes ist und nur
einer Löwin Leib. Auf den Köpfen zwei gleiche Priesterkappen und der Schweif
in gleicher Weise unter dem Bein hindurch über die Hüfte geworfen. Sie sehen
einander an, Tag und Nacht, mit blindem unaussprechlichem Blick. So scheu
Weib und Weib einander an, wenn sie aneinander eine modische Neuheit, oder


Russische Eindrücke eines Kroaten

litauischen Granit! Ganz Rußland bäumt sich unter den Sporen des unerbitt¬
lichen Fortschrittszaren: das Roß stampft den Stein und zertritt die legendäre
Schlange, die vielleicht auch jenen russischen Schlamm bedeutet, den der kühne
Reiter zusammengestampft hat.

Und nun tritt Petersburg wieder in eine neue Architekturepoche — das
Direktoire. Die Erneuerung des imperatorischen, cäsarischen, römischen Geistes
in der Architektur erfaßt auch die Stadt des östlichen, unrömischen Peter. Lange
Fassaden mit dicken Säulen. Zu beiden Seiten des ehernen Reiters: links
der spröd, rechts die Admiralität — lange Kilometergebäude. Sie ziehen sich
eine Viertelstunde weit und können nicht „hinauf"..... Auch die Akademie
kann es nicht, die Börse nicht, nichts in diesem Stile und auf diesem Grund.
Eine Art Katholizismus wehte über das Reußenland. Alexander der Erste war
Mystiker, geheime Religionsgesellschaften verbreiteten sich über Rußland, Geheim¬
bünde mit geheimen Gebräuchen, religiöse Romantik. Es blieb nichts Großes
von alledem, außer dem „Kasanski sabor" (Tempel) im Stile des Se. Peter
zu Rom und dem jüngeren grandiosen „Jsakijewski sabor", der mich lebhaft an
das Pantheon in Paris erinnert.

Hier beginnt die Begriffsvermengung. Basiliken und Tempel, byzantinische
Zwiebeltürme und Renaissancekuppeln. Eins neben dem anderen. Der Westen
kreuzt sich mit dem Osten, Rom mit Konstantinopel, Paris mit Moskau, und
es ersteht — Sankt Petersburg.

Innerhalb der Petersburger Mauern prallen Progresststen und Reaktionäre
aneinander, Konservative und Revolutionäre, Slawjanophilen und Anhänger des
Westens, Dekabristen und Diener des Zarentums, Bjelinski und Aksakow und
weiter, weiter gegen das Ende des neunzehnten Jahrhunderts selbst ein Turgenjew
und ein Tolstoj.

Worin liegt die Seele dieser Stadt? Liegt sie wirklich in endlosen, un¬
seligen Widersprüchen?

Vor der Fassade der Akademie der bildenden Künste lagern am Ufer der
Newa zwei Sphinxe, einander gleich, einander zugekehrt, — seltsam! Eine
Aufschrift besagt, sie seien aus uralten ägyptischen Grabstätten im Jahre 1832
hierher in die Stadt des heiligen Peter gebracht worden. Ich konnte mich an
diesen Sphinxen nicht satt sehen, und so oft ich an ihnen vorüberging, fand
ich an ihnen irgend etwas Neues, das ich früher nicht gesehen hatte oder nicht
sehen wollte. Und jedesmal zog ich andere Beschauer nach, die bald mich, bald
die Sphinxe anguckten und . . . weiter wanderten. Die Sphinxe sind völlig
gleich, sogar ihre Schnauzen sind an derselben Stelle zerschlagen, wenn man
von Schnauze sprechen kann, da es doch der Kopf eines Weibes ist und nur
einer Löwin Leib. Auf den Köpfen zwei gleiche Priesterkappen und der Schweif
in gleicher Weise unter dem Bein hindurch über die Hüfte geworfen. Sie sehen
einander an, Tag und Nacht, mit blindem unaussprechlichem Blick. So scheu
Weib und Weib einander an, wenn sie aneinander eine modische Neuheit, oder


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0170" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327636"/>
          <fw type="header" place="top"> Russische Eindrücke eines Kroaten</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_720" prev="#ID_719"> litauischen Granit! Ganz Rußland bäumt sich unter den Sporen des unerbitt¬<lb/>
lichen Fortschrittszaren: das Roß stampft den Stein und zertritt die legendäre<lb/>
Schlange, die vielleicht auch jenen russischen Schlamm bedeutet, den der kühne<lb/>
Reiter zusammengestampft hat.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_721"> Und nun tritt Petersburg wieder in eine neue Architekturepoche &#x2014; das<lb/>
Direktoire. Die Erneuerung des imperatorischen, cäsarischen, römischen Geistes<lb/>
in der Architektur erfaßt auch die Stadt des östlichen, unrömischen Peter. Lange<lb/>
Fassaden mit dicken Säulen. Zu beiden Seiten des ehernen Reiters: links<lb/>
der spröd, rechts die Admiralität &#x2014; lange Kilometergebäude.  Sie ziehen sich<lb/>
eine Viertelstunde weit und können nicht &#x201E;hinauf"..... Auch die Akademie<lb/>
kann es nicht, die Börse nicht, nichts in diesem Stile und auf diesem Grund.<lb/>
Eine Art Katholizismus wehte über das Reußenland. Alexander der Erste war<lb/>
Mystiker, geheime Religionsgesellschaften verbreiteten sich über Rußland, Geheim¬<lb/>
bünde mit geheimen Gebräuchen, religiöse Romantik. Es blieb nichts Großes<lb/>
von alledem, außer dem &#x201E;Kasanski sabor" (Tempel) im Stile des Se. Peter<lb/>
zu Rom und dem jüngeren grandiosen &#x201E;Jsakijewski sabor", der mich lebhaft an<lb/>
das Pantheon in Paris erinnert.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_722"> Hier beginnt die Begriffsvermengung. Basiliken und Tempel, byzantinische<lb/>
Zwiebeltürme und Renaissancekuppeln. Eins neben dem anderen. Der Westen<lb/>
kreuzt sich mit dem Osten, Rom mit Konstantinopel, Paris mit Moskau, und<lb/>
es ersteht &#x2014; Sankt Petersburg.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_723"> Innerhalb der Petersburger Mauern prallen Progresststen und Reaktionäre<lb/>
aneinander, Konservative und Revolutionäre, Slawjanophilen und Anhänger des<lb/>
Westens, Dekabristen und Diener des Zarentums, Bjelinski und Aksakow und<lb/>
weiter, weiter gegen das Ende des neunzehnten Jahrhunderts selbst ein Turgenjew<lb/>
und ein Tolstoj.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_724"> Worin liegt die Seele dieser Stadt? Liegt sie wirklich in endlosen, un¬<lb/>
seligen Widersprüchen?</p><lb/>
          <p xml:id="ID_725" next="#ID_726"> Vor der Fassade der Akademie der bildenden Künste lagern am Ufer der<lb/>
Newa zwei Sphinxe, einander gleich, einander zugekehrt, &#x2014; seltsam! Eine<lb/>
Aufschrift besagt, sie seien aus uralten ägyptischen Grabstätten im Jahre 1832<lb/>
hierher in die Stadt des heiligen Peter gebracht worden. Ich konnte mich an<lb/>
diesen Sphinxen nicht satt sehen, und so oft ich an ihnen vorüberging, fand<lb/>
ich an ihnen irgend etwas Neues, das ich früher nicht gesehen hatte oder nicht<lb/>
sehen wollte. Und jedesmal zog ich andere Beschauer nach, die bald mich, bald<lb/>
die Sphinxe anguckten und . . . weiter wanderten. Die Sphinxe sind völlig<lb/>
gleich, sogar ihre Schnauzen sind an derselben Stelle zerschlagen, wenn man<lb/>
von Schnauze sprechen kann, da es doch der Kopf eines Weibes ist und nur<lb/>
einer Löwin Leib. Auf den Köpfen zwei gleiche Priesterkappen und der Schweif<lb/>
in gleicher Weise unter dem Bein hindurch über die Hüfte geworfen. Sie sehen<lb/>
einander an, Tag und Nacht, mit blindem unaussprechlichem Blick. So scheu<lb/>
Weib und Weib einander an, wenn sie aneinander eine modische Neuheit, oder</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0170] Russische Eindrücke eines Kroaten litauischen Granit! Ganz Rußland bäumt sich unter den Sporen des unerbitt¬ lichen Fortschrittszaren: das Roß stampft den Stein und zertritt die legendäre Schlange, die vielleicht auch jenen russischen Schlamm bedeutet, den der kühne Reiter zusammengestampft hat. Und nun tritt Petersburg wieder in eine neue Architekturepoche — das Direktoire. Die Erneuerung des imperatorischen, cäsarischen, römischen Geistes in der Architektur erfaßt auch die Stadt des östlichen, unrömischen Peter. Lange Fassaden mit dicken Säulen. Zu beiden Seiten des ehernen Reiters: links der spröd, rechts die Admiralität — lange Kilometergebäude. Sie ziehen sich eine Viertelstunde weit und können nicht „hinauf"..... Auch die Akademie kann es nicht, die Börse nicht, nichts in diesem Stile und auf diesem Grund. Eine Art Katholizismus wehte über das Reußenland. Alexander der Erste war Mystiker, geheime Religionsgesellschaften verbreiteten sich über Rußland, Geheim¬ bünde mit geheimen Gebräuchen, religiöse Romantik. Es blieb nichts Großes von alledem, außer dem „Kasanski sabor" (Tempel) im Stile des Se. Peter zu Rom und dem jüngeren grandiosen „Jsakijewski sabor", der mich lebhaft an das Pantheon in Paris erinnert. Hier beginnt die Begriffsvermengung. Basiliken und Tempel, byzantinische Zwiebeltürme und Renaissancekuppeln. Eins neben dem anderen. Der Westen kreuzt sich mit dem Osten, Rom mit Konstantinopel, Paris mit Moskau, und es ersteht — Sankt Petersburg. Innerhalb der Petersburger Mauern prallen Progresststen und Reaktionäre aneinander, Konservative und Revolutionäre, Slawjanophilen und Anhänger des Westens, Dekabristen und Diener des Zarentums, Bjelinski und Aksakow und weiter, weiter gegen das Ende des neunzehnten Jahrhunderts selbst ein Turgenjew und ein Tolstoj. Worin liegt die Seele dieser Stadt? Liegt sie wirklich in endlosen, un¬ seligen Widersprüchen? Vor der Fassade der Akademie der bildenden Künste lagern am Ufer der Newa zwei Sphinxe, einander gleich, einander zugekehrt, — seltsam! Eine Aufschrift besagt, sie seien aus uralten ägyptischen Grabstätten im Jahre 1832 hierher in die Stadt des heiligen Peter gebracht worden. Ich konnte mich an diesen Sphinxen nicht satt sehen, und so oft ich an ihnen vorüberging, fand ich an ihnen irgend etwas Neues, das ich früher nicht gesehen hatte oder nicht sehen wollte. Und jedesmal zog ich andere Beschauer nach, die bald mich, bald die Sphinxe anguckten und . . . weiter wanderten. Die Sphinxe sind völlig gleich, sogar ihre Schnauzen sind an derselben Stelle zerschlagen, wenn man von Schnauze sprechen kann, da es doch der Kopf eines Weibes ist und nur einer Löwin Leib. Auf den Köpfen zwei gleiche Priesterkappen und der Schweif in gleicher Weise unter dem Bein hindurch über die Hüfte geworfen. Sie sehen einander an, Tag und Nacht, mit blindem unaussprechlichem Blick. So scheu Weib und Weib einander an, wenn sie aneinander eine modische Neuheit, oder

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/170
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/170>, abgerufen am 29.12.2024.