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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Russische Eindrücke eines Kroaten

Spitzen und du entdeckst erst jetzt, daß es in Petersburg -- keine Gotik gibt.
Ganz und gar gibt es sie nicht. Auch die paar protestantischen Tempel reichen
nicht hoch. Und da scheint dir die Gotik mit einemmal als das Symbol
dessen, was dem russischen Volke fehlt: Beharrlichkeit, Schärfe, spekulativer
Feinsinn, geistiger Protestantismus, der Kultus der dritten göttlichen
Person, der Glaube an den Heiligen Geist. Der Protestant erhebt Ein¬
spruch gegen einen Kult ohne Geistigkeit, er nimmt selbst das Evangelium in
die Hand und will es begreifen, verstehen, mit seinem persönlichen Geiste sich
aneignen. Hussens: "Man beweise es mir!", Chelickis: "Der geistige Gott",
Luthers: "Ein feste Burg ist unser Gott", Fichtes: "Ich", Hegels dreispaltige
dialektische Methode: "These -- Antithese -- Synthese", Schopenhauers Wille --
das sind Manifestationen protestantischen Geistes. -- Schopenhauers Wille, der
sich dem Leben widersetzt, wird bei Tolstoj zum Grundsatz: Widersetze dich
nicht dem Bösen. Aus Hegels Synthese machte Solowjew eine Destruktion der
rationalistischen Philosophie und ersetzte sie durch die Philosophie des Herzens:
durch Theosophie. Aus Fichtes "Ich" machten die nihilistischen Sozialisten ein
Nicht-Ich, Nicht-Wir unter einer anderen Ordnung der Dinge.

Aus dem Protestantismus machte der russische Geist -- das Schisma.
Schisma ist Schisma und ist kein Protest. Mit jemand oder mit etwas zerfallen
ist etwas anderes als jemand kritisieren und reformieren. Sich abwenden etwas
anderes als Krieg führen. Sich dem Bösen nicht widersetzen etwas anderes
als seinen Sphinx-Kopf und -Schweif niedertreten.

Aber die Entwicklung des russischen Volkes, Sankt Petersburgs, ist nicht
vollendet. Der Boden, auf dem die gegenwärtige Ordnung der Dinge steht --
mit dem spröd an der Spitze -- trocknet aus und versteinert sich. Dieser
Grund wird bald auch höhere Konstruktionen zu tragen vermögen, als der spröd
es ist. Man hört davon, daß dem Lande der Reußen -- das Patriarchat
zurückgegeben werden soll. Der Patriarch muß über dem spröd stehen, dort,
wo jetzt noch der Archaismus aus den Zeiten Peters des Großen steht. Das
Zarentum, einmal getrennt von der Kirche, muß notwendig eine neue Formel
für seine Rechtfertigung suchen. Statt der Salbung durch Gott -- die Salbung
durch das Volk, statt der Theokratie -- die Demokratie, statt des Zarentums --
die Verfassung. Das wird ein weiterer Fortschritt des ersten hohen Gebäudes
sein auf dem soliden Grund der Wiederherstellung des Patriarchates. Die
Vernunft wird abfallen vom Glauben und neben ihr in die Höhe wachsen.
Gott und Mensch werden sich in neuem Sinne entwickeln. Im Menschen wird
jenes geistige Selfgovernement sich befestigen, das bis jetzt dem Rechtgläubigen,
das auch dem Katholiken fehlt (der Masse, dem katholischen Volk, dem französischen
wie dem kroatischen), das aber der puritanische Arbeiter in England hat,
besonders aber der Deutsche und ein wenig der Tscheche. Und solch ein Self¬
governement ist etwas vom Heiligen Geist, etwas Göttliches. Und doch durch¬
aus menschlich.


Russische Eindrücke eines Kroaten

Spitzen und du entdeckst erst jetzt, daß es in Petersburg — keine Gotik gibt.
Ganz und gar gibt es sie nicht. Auch die paar protestantischen Tempel reichen
nicht hoch. Und da scheint dir die Gotik mit einemmal als das Symbol
dessen, was dem russischen Volke fehlt: Beharrlichkeit, Schärfe, spekulativer
Feinsinn, geistiger Protestantismus, der Kultus der dritten göttlichen
Person, der Glaube an den Heiligen Geist. Der Protestant erhebt Ein¬
spruch gegen einen Kult ohne Geistigkeit, er nimmt selbst das Evangelium in
die Hand und will es begreifen, verstehen, mit seinem persönlichen Geiste sich
aneignen. Hussens: „Man beweise es mir!", Chelickis: „Der geistige Gott",
Luthers: „Ein feste Burg ist unser Gott", Fichtes: „Ich", Hegels dreispaltige
dialektische Methode: „These — Antithese — Synthese", Schopenhauers Wille —
das sind Manifestationen protestantischen Geistes. — Schopenhauers Wille, der
sich dem Leben widersetzt, wird bei Tolstoj zum Grundsatz: Widersetze dich
nicht dem Bösen. Aus Hegels Synthese machte Solowjew eine Destruktion der
rationalistischen Philosophie und ersetzte sie durch die Philosophie des Herzens:
durch Theosophie. Aus Fichtes „Ich" machten die nihilistischen Sozialisten ein
Nicht-Ich, Nicht-Wir unter einer anderen Ordnung der Dinge.

Aus dem Protestantismus machte der russische Geist — das Schisma.
Schisma ist Schisma und ist kein Protest. Mit jemand oder mit etwas zerfallen
ist etwas anderes als jemand kritisieren und reformieren. Sich abwenden etwas
anderes als Krieg führen. Sich dem Bösen nicht widersetzen etwas anderes
als seinen Sphinx-Kopf und -Schweif niedertreten.

Aber die Entwicklung des russischen Volkes, Sankt Petersburgs, ist nicht
vollendet. Der Boden, auf dem die gegenwärtige Ordnung der Dinge steht —
mit dem spröd an der Spitze — trocknet aus und versteinert sich. Dieser
Grund wird bald auch höhere Konstruktionen zu tragen vermögen, als der spröd
es ist. Man hört davon, daß dem Lande der Reußen — das Patriarchat
zurückgegeben werden soll. Der Patriarch muß über dem spröd stehen, dort,
wo jetzt noch der Archaismus aus den Zeiten Peters des Großen steht. Das
Zarentum, einmal getrennt von der Kirche, muß notwendig eine neue Formel
für seine Rechtfertigung suchen. Statt der Salbung durch Gott — die Salbung
durch das Volk, statt der Theokratie — die Demokratie, statt des Zarentums —
die Verfassung. Das wird ein weiterer Fortschritt des ersten hohen Gebäudes
sein auf dem soliden Grund der Wiederherstellung des Patriarchates. Die
Vernunft wird abfallen vom Glauben und neben ihr in die Höhe wachsen.
Gott und Mensch werden sich in neuem Sinne entwickeln. Im Menschen wird
jenes geistige Selfgovernement sich befestigen, das bis jetzt dem Rechtgläubigen,
das auch dem Katholiken fehlt (der Masse, dem katholischen Volk, dem französischen
wie dem kroatischen), das aber der puritanische Arbeiter in England hat,
besonders aber der Deutsche und ein wenig der Tscheche. Und solch ein Self¬
governement ist etwas vom Heiligen Geist, etwas Göttliches. Und doch durch¬
aus menschlich.


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[0172] Russische Eindrücke eines Kroaten Spitzen und du entdeckst erst jetzt, daß es in Petersburg — keine Gotik gibt. Ganz und gar gibt es sie nicht. Auch die paar protestantischen Tempel reichen nicht hoch. Und da scheint dir die Gotik mit einemmal als das Symbol dessen, was dem russischen Volke fehlt: Beharrlichkeit, Schärfe, spekulativer Feinsinn, geistiger Protestantismus, der Kultus der dritten göttlichen Person, der Glaube an den Heiligen Geist. Der Protestant erhebt Ein¬ spruch gegen einen Kult ohne Geistigkeit, er nimmt selbst das Evangelium in die Hand und will es begreifen, verstehen, mit seinem persönlichen Geiste sich aneignen. Hussens: „Man beweise es mir!", Chelickis: „Der geistige Gott", Luthers: „Ein feste Burg ist unser Gott", Fichtes: „Ich", Hegels dreispaltige dialektische Methode: „These — Antithese — Synthese", Schopenhauers Wille — das sind Manifestationen protestantischen Geistes. — Schopenhauers Wille, der sich dem Leben widersetzt, wird bei Tolstoj zum Grundsatz: Widersetze dich nicht dem Bösen. Aus Hegels Synthese machte Solowjew eine Destruktion der rationalistischen Philosophie und ersetzte sie durch die Philosophie des Herzens: durch Theosophie. Aus Fichtes „Ich" machten die nihilistischen Sozialisten ein Nicht-Ich, Nicht-Wir unter einer anderen Ordnung der Dinge. Aus dem Protestantismus machte der russische Geist — das Schisma. Schisma ist Schisma und ist kein Protest. Mit jemand oder mit etwas zerfallen ist etwas anderes als jemand kritisieren und reformieren. Sich abwenden etwas anderes als Krieg führen. Sich dem Bösen nicht widersetzen etwas anderes als seinen Sphinx-Kopf und -Schweif niedertreten. Aber die Entwicklung des russischen Volkes, Sankt Petersburgs, ist nicht vollendet. Der Boden, auf dem die gegenwärtige Ordnung der Dinge steht — mit dem spröd an der Spitze — trocknet aus und versteinert sich. Dieser Grund wird bald auch höhere Konstruktionen zu tragen vermögen, als der spröd es ist. Man hört davon, daß dem Lande der Reußen — das Patriarchat zurückgegeben werden soll. Der Patriarch muß über dem spröd stehen, dort, wo jetzt noch der Archaismus aus den Zeiten Peters des Großen steht. Das Zarentum, einmal getrennt von der Kirche, muß notwendig eine neue Formel für seine Rechtfertigung suchen. Statt der Salbung durch Gott — die Salbung durch das Volk, statt der Theokratie — die Demokratie, statt des Zarentums — die Verfassung. Das wird ein weiterer Fortschritt des ersten hohen Gebäudes sein auf dem soliden Grund der Wiederherstellung des Patriarchates. Die Vernunft wird abfallen vom Glauben und neben ihr in die Höhe wachsen. Gott und Mensch werden sich in neuem Sinne entwickeln. Im Menschen wird jenes geistige Selfgovernement sich befestigen, das bis jetzt dem Rechtgläubigen, das auch dem Katholiken fehlt (der Masse, dem katholischen Volk, dem französischen wie dem kroatischen), das aber der puritanische Arbeiter in England hat, besonders aber der Deutsche und ein wenig der Tscheche. Und solch ein Self¬ governement ist etwas vom Heiligen Geist, etwas Göttliches. Und doch durch¬ aus menschlich.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/172>, abgerufen am 16.01.2025.