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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Die Neugestaltung des deutschen Hivilxrozesses

hauptsächlich in der Richtung, daß der Prozeß zu langsam vonstatten geht,
mit Unannehmlichkeiten für die Parteien verknüpft ist, die sich vermeiden lassen
könnten, überhaupt zu unpraktisch ist und obendrein zu viel Kosten verschlingt.

Selbstverständlich sind diese Klagen nicht durchweg begründet, denn die
prozessierenden Parteien, von denen sie ausgehen, vergessen vielfach, daß sie
selbst den Streitstoff von vornherein, wenn auch nicht immer zu übersehen ver¬
mögen, so doch kennen, daß das Gericht aber erst sich das Tatsachenmaterial
beschaffen muß, um sich ein Bild machen zu können. Gerade diese Arbeit
erfordert die peinlichste Sorgfalt und ist infolgedessen mit vielfachen Schwierig¬
keiten verknüpft, zumal nicht nur die Parteien selbst dem Gericht eine
subjektiv gefärbte Darstellung geben, sondern auch die Zeugen die Vorgänge
immer nur so zu schildern vermögen, wie sie diese aufgefaßt haben, vielfach
also in Abweichung von der objektiven Wahrheit. Nur eine eingehende und
genaue Ermittelung der tatsächlichen Vorgänge und Verhältnisse, aus denen der
Prozeß hervorgegangen ist, ermöglicht, wie der am 12. und 13. September v. I.
in Breslau abgehaltene deutsche Anwaltstag in einer seiner Thesen hervorhebt,
eine dem Recht und den wirtschaftlichen Bedürfnissen entsprechende Rechtspflege.
Es ist also nicht zu verwundern, wenn die Feststellung eines verwickelten Streit¬
stoffes oft längere Zeit in Anspruch nimmt und mit mehr Umständen verknüpft
ist, als den Parteien lieb ist.

Freilich darf auch nicht geleugnet werden, daß selbst die Prozesse, deren
Tatsachenmaterial denkbar einfach ist, oft ungebührlich lange Zeit dauern, dabei
aber eine gründliche, sachgemäße Vorbereitung vermissen lassen und sogar mit
falschen Entscheidungen enden. Es bedürfte jedoch überhaupt keiner Proze߬
reform, wenn der Mißstand seinen Grund lediglich in der ungenügenden Eig¬
nung des Richters für fein Amt hätte. Vielmehr käme es dann nur darauf
an, die unfähigen Richter nicht mehr als Zivilprozeßrichter tätig fein zu lassen
oder aber, falls erkannt würde, daß der Richterstand in seiner Gesamtheit den
Pflichten des von ihm auszufüllenden Amtes nicht voll gerecht zu werden ver¬
mag, durch eine zweckmäßige Vorbildung für den Richterberuf und durch Weiter¬
bildung der Richter einen seinen Aufgaben gewachsenen Richterstand zu schaffen.

Wenn man jedoch die heutige Zivilprozeßordnung daraufhin prüft, ob sie
eine Rechtspflege ermöglicht, welche dem Recht und den wirtschaftlichen Be¬
dürfnissen entspricht, so wird dies, wie es auch die überwiegende Mehrzahl der
sachverständigen Urteiler tut, verneint werden müssen. Der Richter vermag,
wie Landgerichtsdirektor Hildebrand betont, dank der untätigen Rolle, welche
das Gesetz ihm auferlegt, weder für eine gründliche und zweckmäßige Vor¬
bereitung noch für eine schnelle Durchführung des Prozesses zu sorgen. Er muß
im allgemeinen abwarten, wann und in welcher Form ihn? die Parteien das
zur Entscheidung erforderliche Tatsachenmaterial unterbreiten. In der Herrschaft
der Partei über den Prozeß findet fein Recht der Prozeßleitung ein Gegen¬
gewicht, welches diesem Recht seinen Wert nimmt. Hierzu kommt die denkbar


Die Neugestaltung des deutschen Hivilxrozesses

hauptsächlich in der Richtung, daß der Prozeß zu langsam vonstatten geht,
mit Unannehmlichkeiten für die Parteien verknüpft ist, die sich vermeiden lassen
könnten, überhaupt zu unpraktisch ist und obendrein zu viel Kosten verschlingt.

Selbstverständlich sind diese Klagen nicht durchweg begründet, denn die
prozessierenden Parteien, von denen sie ausgehen, vergessen vielfach, daß sie
selbst den Streitstoff von vornherein, wenn auch nicht immer zu übersehen ver¬
mögen, so doch kennen, daß das Gericht aber erst sich das Tatsachenmaterial
beschaffen muß, um sich ein Bild machen zu können. Gerade diese Arbeit
erfordert die peinlichste Sorgfalt und ist infolgedessen mit vielfachen Schwierig¬
keiten verknüpft, zumal nicht nur die Parteien selbst dem Gericht eine
subjektiv gefärbte Darstellung geben, sondern auch die Zeugen die Vorgänge
immer nur so zu schildern vermögen, wie sie diese aufgefaßt haben, vielfach
also in Abweichung von der objektiven Wahrheit. Nur eine eingehende und
genaue Ermittelung der tatsächlichen Vorgänge und Verhältnisse, aus denen der
Prozeß hervorgegangen ist, ermöglicht, wie der am 12. und 13. September v. I.
in Breslau abgehaltene deutsche Anwaltstag in einer seiner Thesen hervorhebt,
eine dem Recht und den wirtschaftlichen Bedürfnissen entsprechende Rechtspflege.
Es ist also nicht zu verwundern, wenn die Feststellung eines verwickelten Streit¬
stoffes oft längere Zeit in Anspruch nimmt und mit mehr Umständen verknüpft
ist, als den Parteien lieb ist.

Freilich darf auch nicht geleugnet werden, daß selbst die Prozesse, deren
Tatsachenmaterial denkbar einfach ist, oft ungebührlich lange Zeit dauern, dabei
aber eine gründliche, sachgemäße Vorbereitung vermissen lassen und sogar mit
falschen Entscheidungen enden. Es bedürfte jedoch überhaupt keiner Proze߬
reform, wenn der Mißstand seinen Grund lediglich in der ungenügenden Eig¬
nung des Richters für fein Amt hätte. Vielmehr käme es dann nur darauf
an, die unfähigen Richter nicht mehr als Zivilprozeßrichter tätig fein zu lassen
oder aber, falls erkannt würde, daß der Richterstand in seiner Gesamtheit den
Pflichten des von ihm auszufüllenden Amtes nicht voll gerecht zu werden ver¬
mag, durch eine zweckmäßige Vorbildung für den Richterberuf und durch Weiter¬
bildung der Richter einen seinen Aufgaben gewachsenen Richterstand zu schaffen.

Wenn man jedoch die heutige Zivilprozeßordnung daraufhin prüft, ob sie
eine Rechtspflege ermöglicht, welche dem Recht und den wirtschaftlichen Be¬
dürfnissen entspricht, so wird dies, wie es auch die überwiegende Mehrzahl der
sachverständigen Urteiler tut, verneint werden müssen. Der Richter vermag,
wie Landgerichtsdirektor Hildebrand betont, dank der untätigen Rolle, welche
das Gesetz ihm auferlegt, weder für eine gründliche und zweckmäßige Vor¬
bereitung noch für eine schnelle Durchführung des Prozesses zu sorgen. Er muß
im allgemeinen abwarten, wann und in welcher Form ihn? die Parteien das
zur Entscheidung erforderliche Tatsachenmaterial unterbreiten. In der Herrschaft
der Partei über den Prozeß findet fein Recht der Prozeßleitung ein Gegen¬
gewicht, welches diesem Recht seinen Wert nimmt. Hierzu kommt die denkbar


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[0163] Die Neugestaltung des deutschen Hivilxrozesses hauptsächlich in der Richtung, daß der Prozeß zu langsam vonstatten geht, mit Unannehmlichkeiten für die Parteien verknüpft ist, die sich vermeiden lassen könnten, überhaupt zu unpraktisch ist und obendrein zu viel Kosten verschlingt. Selbstverständlich sind diese Klagen nicht durchweg begründet, denn die prozessierenden Parteien, von denen sie ausgehen, vergessen vielfach, daß sie selbst den Streitstoff von vornherein, wenn auch nicht immer zu übersehen ver¬ mögen, so doch kennen, daß das Gericht aber erst sich das Tatsachenmaterial beschaffen muß, um sich ein Bild machen zu können. Gerade diese Arbeit erfordert die peinlichste Sorgfalt und ist infolgedessen mit vielfachen Schwierig¬ keiten verknüpft, zumal nicht nur die Parteien selbst dem Gericht eine subjektiv gefärbte Darstellung geben, sondern auch die Zeugen die Vorgänge immer nur so zu schildern vermögen, wie sie diese aufgefaßt haben, vielfach also in Abweichung von der objektiven Wahrheit. Nur eine eingehende und genaue Ermittelung der tatsächlichen Vorgänge und Verhältnisse, aus denen der Prozeß hervorgegangen ist, ermöglicht, wie der am 12. und 13. September v. I. in Breslau abgehaltene deutsche Anwaltstag in einer seiner Thesen hervorhebt, eine dem Recht und den wirtschaftlichen Bedürfnissen entsprechende Rechtspflege. Es ist also nicht zu verwundern, wenn die Feststellung eines verwickelten Streit¬ stoffes oft längere Zeit in Anspruch nimmt und mit mehr Umständen verknüpft ist, als den Parteien lieb ist. Freilich darf auch nicht geleugnet werden, daß selbst die Prozesse, deren Tatsachenmaterial denkbar einfach ist, oft ungebührlich lange Zeit dauern, dabei aber eine gründliche, sachgemäße Vorbereitung vermissen lassen und sogar mit falschen Entscheidungen enden. Es bedürfte jedoch überhaupt keiner Proze߬ reform, wenn der Mißstand seinen Grund lediglich in der ungenügenden Eig¬ nung des Richters für fein Amt hätte. Vielmehr käme es dann nur darauf an, die unfähigen Richter nicht mehr als Zivilprozeßrichter tätig fein zu lassen oder aber, falls erkannt würde, daß der Richterstand in seiner Gesamtheit den Pflichten des von ihm auszufüllenden Amtes nicht voll gerecht zu werden ver¬ mag, durch eine zweckmäßige Vorbildung für den Richterberuf und durch Weiter¬ bildung der Richter einen seinen Aufgaben gewachsenen Richterstand zu schaffen. Wenn man jedoch die heutige Zivilprozeßordnung daraufhin prüft, ob sie eine Rechtspflege ermöglicht, welche dem Recht und den wirtschaftlichen Be¬ dürfnissen entspricht, so wird dies, wie es auch die überwiegende Mehrzahl der sachverständigen Urteiler tut, verneint werden müssen. Der Richter vermag, wie Landgerichtsdirektor Hildebrand betont, dank der untätigen Rolle, welche das Gesetz ihm auferlegt, weder für eine gründliche und zweckmäßige Vor¬ bereitung noch für eine schnelle Durchführung des Prozesses zu sorgen. Er muß im allgemeinen abwarten, wann und in welcher Form ihn? die Parteien das zur Entscheidung erforderliche Tatsachenmaterial unterbreiten. In der Herrschaft der Partei über den Prozeß findet fein Recht der Prozeßleitung ein Gegen¬ gewicht, welches diesem Recht seinen Wert nimmt. Hierzu kommt die denkbar

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/163>, abgerufen am 01.01.2025.