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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Die Neugestaltung des deutschen Zivilprozesses

strikteste Durchführung des Prinzips der Mündlichkeit und eine übermäßig reich¬
liche Bemessung aller Fristen. Infolgedessen vermag der Richter weder in den
einfachen Fällen in angemessener Zeit zu einem Urteil zu gelangen, noch einen
schwieriger gestalteten Prozeß so zu leiten, daß sein Zweck so bald, einfach und
sicher als möglich erreicht wird. Das heutige Prozeßverfahren eignet sich also
nicht zur Verfolgung unstreitiger Forderungen, aber auch nicht, da die Erforschung
der Wahrheit in ihm außerordentlich erschwert ist, zur Durchführung streitiger
Ansprüche.

Auch der Deutsche Richtertag. welcher am 12. und 13. September v. I. in
Berlin im Plenarsitzungssaale des Reichstagsgebäudes stattgefunden hat, hat
deshalb, und zwar einstimmig, anerkannt, daß das Volk berechtigten Anlaß
zu Klagen hat. Schon die Leitung des Richterbundes hat. als sie zum
Thema des einen der auf diesem Tage gehaltenen Vorträge die Frage
wählte: "Wie ist den hauptsächlichsten Klagen des Klägers über den Zivil¬
prozeß abzuhelfen?", stillschweigend den gleichen Standpunkt eingenommen. Der
Vortrag und die Verhandlungen über dieses Thema, über welche in der Nummer
der Deutschen Nichterzeitung vom 15. Oktober 1912 ein stenographischer Bericht
erschienen ist, sind deshalb nicht weniger wertvoll, weil der Richtertag scheinbar
in eigener Sache zu Gericht gesessen hat.

Die Fragestellung läßt erkennen, daß es dem Deutschen Richterbunde darum
zu tun gewesen ist, Vorschläge für ein auf modernen Anschauungen aufgebautes,
den praktischen Bedürfnissen gerecht werdendes Gesetz zu erlangen. Nicht darum
handelte es sich, ob für den Zivilprozeß auch künftighin der Grundsatz der
Mündlichkeit und der Einheitlichkeit des Verfahrens, wie ihn die Zivilproze߬
ordnung von 1877 bis in die kleinsten Einzelheiten hinein durchgeführt hat,
beizubehalten ist; nicht darum, ob der Partei die Herrschaft über den Prozeß
zu wahren und dem Richter ein gegen früher vielleicht verstärktes Recht der
Prozeßleitung zuzugestehen ist. Die Idee der Zweckmäßigkeit, das Interesse
derer, denen der Zivilprozeß zu dienen bestimmt ist, waren das Leitmotiv nicht
nur des mit stürmischem Beifall aufgenommenen Vortrages des Neichsgerichts-
rats l)r. Lobe, sondern auch der daran anknüpfenden lebhaften Diskussion.

Selbstverständlich sind auf dem Deutschen Richtertage ebenso wie bisher in der
Literatur tiefgehende Meinungsverschiedenheiten über die erforderlichen Reformen
zutage getreten. Indessen ist der Richtertag dem Referenten in zwei Kardmal¬
fragen einmütig gefolgt. Er hat die Notwendigkeit einer besseren Scheidung
zwischen streitiger und nichtstreitiger Rechtspflege erkannt und andererseits den
Ausbau der vorbeugenden Mittel zur Verhütung von Prozessen empfohlen.

Wenn erst nutzlose Prozesse möglichst unterbleiben und jeder, soweit es an
ihm liegt, die Rechtsordnung zu verwirklichen bestrebt ist, ohne daß es der
Anrufung der staatlichen Autorität und der Inanspruchnahme staatlicher Macht¬
mittel bedarf, so wird daraus auch eine günstige Rückwirkung für die vor das
Forum des Gerichts gebrachten Prozesse erwachsen; deren um so sorgfältigere


Die Neugestaltung des deutschen Zivilprozesses

strikteste Durchführung des Prinzips der Mündlichkeit und eine übermäßig reich¬
liche Bemessung aller Fristen. Infolgedessen vermag der Richter weder in den
einfachen Fällen in angemessener Zeit zu einem Urteil zu gelangen, noch einen
schwieriger gestalteten Prozeß so zu leiten, daß sein Zweck so bald, einfach und
sicher als möglich erreicht wird. Das heutige Prozeßverfahren eignet sich also
nicht zur Verfolgung unstreitiger Forderungen, aber auch nicht, da die Erforschung
der Wahrheit in ihm außerordentlich erschwert ist, zur Durchführung streitiger
Ansprüche.

Auch der Deutsche Richtertag. welcher am 12. und 13. September v. I. in
Berlin im Plenarsitzungssaale des Reichstagsgebäudes stattgefunden hat, hat
deshalb, und zwar einstimmig, anerkannt, daß das Volk berechtigten Anlaß
zu Klagen hat. Schon die Leitung des Richterbundes hat. als sie zum
Thema des einen der auf diesem Tage gehaltenen Vorträge die Frage
wählte: „Wie ist den hauptsächlichsten Klagen des Klägers über den Zivil¬
prozeß abzuhelfen?", stillschweigend den gleichen Standpunkt eingenommen. Der
Vortrag und die Verhandlungen über dieses Thema, über welche in der Nummer
der Deutschen Nichterzeitung vom 15. Oktober 1912 ein stenographischer Bericht
erschienen ist, sind deshalb nicht weniger wertvoll, weil der Richtertag scheinbar
in eigener Sache zu Gericht gesessen hat.

Die Fragestellung läßt erkennen, daß es dem Deutschen Richterbunde darum
zu tun gewesen ist, Vorschläge für ein auf modernen Anschauungen aufgebautes,
den praktischen Bedürfnissen gerecht werdendes Gesetz zu erlangen. Nicht darum
handelte es sich, ob für den Zivilprozeß auch künftighin der Grundsatz der
Mündlichkeit und der Einheitlichkeit des Verfahrens, wie ihn die Zivilproze߬
ordnung von 1877 bis in die kleinsten Einzelheiten hinein durchgeführt hat,
beizubehalten ist; nicht darum, ob der Partei die Herrschaft über den Prozeß
zu wahren und dem Richter ein gegen früher vielleicht verstärktes Recht der
Prozeßleitung zuzugestehen ist. Die Idee der Zweckmäßigkeit, das Interesse
derer, denen der Zivilprozeß zu dienen bestimmt ist, waren das Leitmotiv nicht
nur des mit stürmischem Beifall aufgenommenen Vortrages des Neichsgerichts-
rats l)r. Lobe, sondern auch der daran anknüpfenden lebhaften Diskussion.

Selbstverständlich sind auf dem Deutschen Richtertage ebenso wie bisher in der
Literatur tiefgehende Meinungsverschiedenheiten über die erforderlichen Reformen
zutage getreten. Indessen ist der Richtertag dem Referenten in zwei Kardmal¬
fragen einmütig gefolgt. Er hat die Notwendigkeit einer besseren Scheidung
zwischen streitiger und nichtstreitiger Rechtspflege erkannt und andererseits den
Ausbau der vorbeugenden Mittel zur Verhütung von Prozessen empfohlen.

Wenn erst nutzlose Prozesse möglichst unterbleiben und jeder, soweit es an
ihm liegt, die Rechtsordnung zu verwirklichen bestrebt ist, ohne daß es der
Anrufung der staatlichen Autorität und der Inanspruchnahme staatlicher Macht¬
mittel bedarf, so wird daraus auch eine günstige Rückwirkung für die vor das
Forum des Gerichts gebrachten Prozesse erwachsen; deren um so sorgfältigere


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[0164] Die Neugestaltung des deutschen Zivilprozesses strikteste Durchführung des Prinzips der Mündlichkeit und eine übermäßig reich¬ liche Bemessung aller Fristen. Infolgedessen vermag der Richter weder in den einfachen Fällen in angemessener Zeit zu einem Urteil zu gelangen, noch einen schwieriger gestalteten Prozeß so zu leiten, daß sein Zweck so bald, einfach und sicher als möglich erreicht wird. Das heutige Prozeßverfahren eignet sich also nicht zur Verfolgung unstreitiger Forderungen, aber auch nicht, da die Erforschung der Wahrheit in ihm außerordentlich erschwert ist, zur Durchführung streitiger Ansprüche. Auch der Deutsche Richtertag. welcher am 12. und 13. September v. I. in Berlin im Plenarsitzungssaale des Reichstagsgebäudes stattgefunden hat, hat deshalb, und zwar einstimmig, anerkannt, daß das Volk berechtigten Anlaß zu Klagen hat. Schon die Leitung des Richterbundes hat. als sie zum Thema des einen der auf diesem Tage gehaltenen Vorträge die Frage wählte: „Wie ist den hauptsächlichsten Klagen des Klägers über den Zivil¬ prozeß abzuhelfen?", stillschweigend den gleichen Standpunkt eingenommen. Der Vortrag und die Verhandlungen über dieses Thema, über welche in der Nummer der Deutschen Nichterzeitung vom 15. Oktober 1912 ein stenographischer Bericht erschienen ist, sind deshalb nicht weniger wertvoll, weil der Richtertag scheinbar in eigener Sache zu Gericht gesessen hat. Die Fragestellung läßt erkennen, daß es dem Deutschen Richterbunde darum zu tun gewesen ist, Vorschläge für ein auf modernen Anschauungen aufgebautes, den praktischen Bedürfnissen gerecht werdendes Gesetz zu erlangen. Nicht darum handelte es sich, ob für den Zivilprozeß auch künftighin der Grundsatz der Mündlichkeit und der Einheitlichkeit des Verfahrens, wie ihn die Zivilproze߬ ordnung von 1877 bis in die kleinsten Einzelheiten hinein durchgeführt hat, beizubehalten ist; nicht darum, ob der Partei die Herrschaft über den Prozeß zu wahren und dem Richter ein gegen früher vielleicht verstärktes Recht der Prozeßleitung zuzugestehen ist. Die Idee der Zweckmäßigkeit, das Interesse derer, denen der Zivilprozeß zu dienen bestimmt ist, waren das Leitmotiv nicht nur des mit stürmischem Beifall aufgenommenen Vortrages des Neichsgerichts- rats l)r. Lobe, sondern auch der daran anknüpfenden lebhaften Diskussion. Selbstverständlich sind auf dem Deutschen Richtertage ebenso wie bisher in der Literatur tiefgehende Meinungsverschiedenheiten über die erforderlichen Reformen zutage getreten. Indessen ist der Richtertag dem Referenten in zwei Kardmal¬ fragen einmütig gefolgt. Er hat die Notwendigkeit einer besseren Scheidung zwischen streitiger und nichtstreitiger Rechtspflege erkannt und andererseits den Ausbau der vorbeugenden Mittel zur Verhütung von Prozessen empfohlen. Wenn erst nutzlose Prozesse möglichst unterbleiben und jeder, soweit es an ihm liegt, die Rechtsordnung zu verwirklichen bestrebt ist, ohne daß es der Anrufung der staatlichen Autorität und der Inanspruchnahme staatlicher Macht¬ mittel bedarf, so wird daraus auch eine günstige Rückwirkung für die vor das Forum des Gerichts gebrachten Prozesse erwachsen; deren um so sorgfältigere

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/164>, abgerufen am 29.12.2024.