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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Die Neugestaltung des deutschen Zivilprozesses

Am weitesten geht wohl Oberlandesgerichtsrat Reichere, welcher einer um¬
fassenden Justizreform das Wort redet, auf dem Gebiete der Zivilrechtspflege
sowohl wie der Strafrechtspflege. Er will neben den anders zu organisierenden
Gerichten ("Gerichten", an denen Einzelrichter Recht sprechen, und "Ober¬
gerichten", an denen Senate in der Besetzung mit drei Richtern zu schaffen
sind) "Rechtsämter" gebildet wissen, denen in Zivilsachen vor allem die Auf¬
gabe der Rechtsberatung und Streitverhütung sowie der Rechtsprechung in
Bagatellsachen, der Vorbereitung der an das Gericht zu bringenden Prozesse
und der einstweiligen Regelung des Streites zufallen soll (vgl. hierzu Deutsche
Richterzeitung, IV. Jahrgang Ur. 15, S. 613 ff.). Auf der anderen Seite
warnt Professor Wach, der sich als Lehrer des Zivilprozesses einen hoch¬
angesehenen Namen erworben hat, nachdrücklich davor, der Zivilrechtspflege
andere Grundlagen zu geben. Ihm dünkt lediglich die Art und Weise, wie
die seiner Meinung nach durchaus brauchbare Zivilprozeßordnung von einer
Reihe von Richtern angewandt wird, nicht richtig. Auch die Professoren
Mendelssohn-Bartholdy und Stein sowie andere stimmen ihm zu.

Um zu der Frage der Reformbedürftigkeit des Zivilprozeßrechtes Stellung
nehmen zu können, muß man sich zunächst über die Aufgabe im klaren sein,
welche der Zivilprozeß zu erfüllen hat.

Der Prozeß soll, um mit Reichsgerichtsrat Lobe zu sprechen, die Rechts¬
ordnung verwirklichen. Dies gilt in gleicher Weise vom Strafprozeß wie vom
Zrvilprozeß. Die Prozeßordnungen sind also die Summe der Regeln, durch
welche Vorsorge getroffen werden soll, daß der Prozeß in einer seiner Zweck¬
bestimmung gerecht werdenden Weise zum Austrag gebracht wird. Die zu
diesem Ende in der Zivilprozeßordnung zusammengefaßten Vorschriften ordnen
demgemäß einerseits die Art und Weise, in welcher festzustellen ist, ob derjenige,
der die staatlichen Machtmittel zur Durchsetzung eines ihm von der Rechts¬
ordnung angeblich gewährten Anspruches anruft, überhaupt einen solchen An¬
spruch hat. Sodann aber regelt die Prozeßordnung das Verfahren, welches
der Verwirklichung des festgestellten Anspruches dient.

Es ist begreiflich, daß jemand, der einen vermeintlichen Rechtsanspruch
im Wege des Zivilprozesses nicht durchzusetzen vermocht hat oder dem gegen¬
über ein anderer einen seiner Meinung nach unbegründeten Anspruch mit
Erfolg geltend zu machen verstanden hat, im Falle eines für ihn ungünstigen
Ausganges des Prozesses oft zu glauben geneigt ist, daß ihm Unrecht geschehen
sei. Meist wird es sich hierbei lediglich um Vorurteile handeln, welche auf das
Gefühl des Ärgers über den verlorenen Prozeß oder des Neides und Hasses
auf den Gegner zurückzuführen sind. Solchem Vorurteil entspringende Klagen
find für den Gesetzgeber belanglos, sie werden nie verstummen solange Pro¬
zesse geführt werden.

Häufig werden aber auch, worüber kaum noch Meinungsverschiedenheiten
bestehen, Klagen laut, welche einen tieferen Grund haben. Sie bewegen sich


Die Neugestaltung des deutschen Zivilprozesses

Am weitesten geht wohl Oberlandesgerichtsrat Reichere, welcher einer um¬
fassenden Justizreform das Wort redet, auf dem Gebiete der Zivilrechtspflege
sowohl wie der Strafrechtspflege. Er will neben den anders zu organisierenden
Gerichten („Gerichten", an denen Einzelrichter Recht sprechen, und „Ober¬
gerichten", an denen Senate in der Besetzung mit drei Richtern zu schaffen
sind) „Rechtsämter" gebildet wissen, denen in Zivilsachen vor allem die Auf¬
gabe der Rechtsberatung und Streitverhütung sowie der Rechtsprechung in
Bagatellsachen, der Vorbereitung der an das Gericht zu bringenden Prozesse
und der einstweiligen Regelung des Streites zufallen soll (vgl. hierzu Deutsche
Richterzeitung, IV. Jahrgang Ur. 15, S. 613 ff.). Auf der anderen Seite
warnt Professor Wach, der sich als Lehrer des Zivilprozesses einen hoch¬
angesehenen Namen erworben hat, nachdrücklich davor, der Zivilrechtspflege
andere Grundlagen zu geben. Ihm dünkt lediglich die Art und Weise, wie
die seiner Meinung nach durchaus brauchbare Zivilprozeßordnung von einer
Reihe von Richtern angewandt wird, nicht richtig. Auch die Professoren
Mendelssohn-Bartholdy und Stein sowie andere stimmen ihm zu.

Um zu der Frage der Reformbedürftigkeit des Zivilprozeßrechtes Stellung
nehmen zu können, muß man sich zunächst über die Aufgabe im klaren sein,
welche der Zivilprozeß zu erfüllen hat.

Der Prozeß soll, um mit Reichsgerichtsrat Lobe zu sprechen, die Rechts¬
ordnung verwirklichen. Dies gilt in gleicher Weise vom Strafprozeß wie vom
Zrvilprozeß. Die Prozeßordnungen sind also die Summe der Regeln, durch
welche Vorsorge getroffen werden soll, daß der Prozeß in einer seiner Zweck¬
bestimmung gerecht werdenden Weise zum Austrag gebracht wird. Die zu
diesem Ende in der Zivilprozeßordnung zusammengefaßten Vorschriften ordnen
demgemäß einerseits die Art und Weise, in welcher festzustellen ist, ob derjenige,
der die staatlichen Machtmittel zur Durchsetzung eines ihm von der Rechts¬
ordnung angeblich gewährten Anspruches anruft, überhaupt einen solchen An¬
spruch hat. Sodann aber regelt die Prozeßordnung das Verfahren, welches
der Verwirklichung des festgestellten Anspruches dient.

Es ist begreiflich, daß jemand, der einen vermeintlichen Rechtsanspruch
im Wege des Zivilprozesses nicht durchzusetzen vermocht hat oder dem gegen¬
über ein anderer einen seiner Meinung nach unbegründeten Anspruch mit
Erfolg geltend zu machen verstanden hat, im Falle eines für ihn ungünstigen
Ausganges des Prozesses oft zu glauben geneigt ist, daß ihm Unrecht geschehen
sei. Meist wird es sich hierbei lediglich um Vorurteile handeln, welche auf das
Gefühl des Ärgers über den verlorenen Prozeß oder des Neides und Hasses
auf den Gegner zurückzuführen sind. Solchem Vorurteil entspringende Klagen
find für den Gesetzgeber belanglos, sie werden nie verstummen solange Pro¬
zesse geführt werden.

Häufig werden aber auch, worüber kaum noch Meinungsverschiedenheiten
bestehen, Klagen laut, welche einen tieferen Grund haben. Sie bewegen sich


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[0162] Die Neugestaltung des deutschen Zivilprozesses Am weitesten geht wohl Oberlandesgerichtsrat Reichere, welcher einer um¬ fassenden Justizreform das Wort redet, auf dem Gebiete der Zivilrechtspflege sowohl wie der Strafrechtspflege. Er will neben den anders zu organisierenden Gerichten („Gerichten", an denen Einzelrichter Recht sprechen, und „Ober¬ gerichten", an denen Senate in der Besetzung mit drei Richtern zu schaffen sind) „Rechtsämter" gebildet wissen, denen in Zivilsachen vor allem die Auf¬ gabe der Rechtsberatung und Streitverhütung sowie der Rechtsprechung in Bagatellsachen, der Vorbereitung der an das Gericht zu bringenden Prozesse und der einstweiligen Regelung des Streites zufallen soll (vgl. hierzu Deutsche Richterzeitung, IV. Jahrgang Ur. 15, S. 613 ff.). Auf der anderen Seite warnt Professor Wach, der sich als Lehrer des Zivilprozesses einen hoch¬ angesehenen Namen erworben hat, nachdrücklich davor, der Zivilrechtspflege andere Grundlagen zu geben. Ihm dünkt lediglich die Art und Weise, wie die seiner Meinung nach durchaus brauchbare Zivilprozeßordnung von einer Reihe von Richtern angewandt wird, nicht richtig. Auch die Professoren Mendelssohn-Bartholdy und Stein sowie andere stimmen ihm zu. Um zu der Frage der Reformbedürftigkeit des Zivilprozeßrechtes Stellung nehmen zu können, muß man sich zunächst über die Aufgabe im klaren sein, welche der Zivilprozeß zu erfüllen hat. Der Prozeß soll, um mit Reichsgerichtsrat Lobe zu sprechen, die Rechts¬ ordnung verwirklichen. Dies gilt in gleicher Weise vom Strafprozeß wie vom Zrvilprozeß. Die Prozeßordnungen sind also die Summe der Regeln, durch welche Vorsorge getroffen werden soll, daß der Prozeß in einer seiner Zweck¬ bestimmung gerecht werdenden Weise zum Austrag gebracht wird. Die zu diesem Ende in der Zivilprozeßordnung zusammengefaßten Vorschriften ordnen demgemäß einerseits die Art und Weise, in welcher festzustellen ist, ob derjenige, der die staatlichen Machtmittel zur Durchsetzung eines ihm von der Rechts¬ ordnung angeblich gewährten Anspruches anruft, überhaupt einen solchen An¬ spruch hat. Sodann aber regelt die Prozeßordnung das Verfahren, welches der Verwirklichung des festgestellten Anspruches dient. Es ist begreiflich, daß jemand, der einen vermeintlichen Rechtsanspruch im Wege des Zivilprozesses nicht durchzusetzen vermocht hat oder dem gegen¬ über ein anderer einen seiner Meinung nach unbegründeten Anspruch mit Erfolg geltend zu machen verstanden hat, im Falle eines für ihn ungünstigen Ausganges des Prozesses oft zu glauben geneigt ist, daß ihm Unrecht geschehen sei. Meist wird es sich hierbei lediglich um Vorurteile handeln, welche auf das Gefühl des Ärgers über den verlorenen Prozeß oder des Neides und Hasses auf den Gegner zurückzuführen sind. Solchem Vorurteil entspringende Klagen find für den Gesetzgeber belanglos, sie werden nie verstummen solange Pro¬ zesse geführt werden. Häufig werden aber auch, worüber kaum noch Meinungsverschiedenheiten bestehen, Klagen laut, welche einen tieferen Grund haben. Sie bewegen sich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/162>, abgerufen am 29.12.2024.