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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Der geplante Kanaltunncl zwischen Frankreich und England

Da die Endpunkte der Bahnlinie über der Meeresfläche liegend gedacht
sind, und die Träne sich nach der Mitte des Tunnels hin allmählich bis auf
95 Meter unter die Meeresoberfläche senken soll, muß sich das durchsickernde
Wasser nach der Mitte hin sammeln. Zur Vermeidung von Störungen, die
hierdurch entstehen könnten, sind Abzugsschächte geplant, die von der Mitte des
Tunnels aus nach den beiden Küsten führen und dort etwa 120 Meter unter
der Meeresoberfläche in Reservoirs enden, die mit Hilfe von Pumpen entleert
werden.

Über die Frage, welche wirtschaftlichen Vorteile die unterseeische Verbindung
den beiden Ländern bringt, ist viel gestritten worden. Der Handel zwischen
England und Frankreich hat in den letzten Jahren nach den statistischen Be
richten der französischen Zolldirektion wenig Fortschritte gemacht. Vom Jahre 1905
bis 1911 ist die Ein- und Ausfuhr zwischen Frankreich und England um
4,2 Prozent, zwischen Frankreich und Deutschland aber um 8,5 Prozent gestiegen.
Der gewinnende Teil wäre hier Frankreich, da dieses infolge der schnelleren
Verbindung für seinen Gemüse- und Obstbau einen besseren Absatz in dem an
diesen Produkten ärmeren England fände. Aus demselben Grunde werden sich
aber dort wohl viele Stimmen gegen das Kanalprojekt finden, da man bei dem
an und für sich schon ungünstigem Stand der Landwirtschaft den französischen
Wettbewerb fürchtet.

Anders liegen die Verhältnisse im Falle eines Krieges auf dem Kontinent,
wenn Frankreich auf Seite Englands steht. Letzteres ist infolge des schon
erwähnten Niederganges der Landwirtschaft auf umfangreiche Einfuhr von Lebens¬
mitteln von außerhalb angewiesen. So wurden z. B. im Jahre 1911 snach
Statesmans Uearbook 1912) folgende Mengen in England eingeführt: 6 Millionen
Tonnen Getreide oder Mehl, 1 900 000 Tonnen Mais, 400 000 Tonnen Reis,
215 000 Tonnen Butter. 120 000 Tonnen Käse, 900 000 Tonnen Fleisch und
150 000 Tonnen Kartoffeln, insgesamt rund 10 Millionen Tonnen Lebensmittel.

Wenn man nun in England auch nicht glaubt, daß die mächtige Flotte
die Herrschaft zur See verlieren und die englische Küste einer Blockade aus¬
setzen wird, so befürchtet man doch, daß einzelne feindliche schnelle Kreuzer die
Handelsstraßen zur See, besonders zwischen England und Nordamerika unsicher
machen und die Zufuhr, wenn auch nicht abschneiden, so doch verringern könnten.
In diesem Falle soll der Kanaltunnel die Gefahr des Ausgehungertwerdens
verhindern, da Frankreich stets die Zufuhr durch die Schweiz, Spanien und
das neutrale Belgien bleibt.

Von ganz besonderer Bedeutung aber wäre der Kanaltunnel für englische
Truppentransporte im Falle eines Krieges des Dreibundes gegen die Entente¬
mächte.

Im Februar des vergangenen Jahres erklärte Lord Roberts im Oberhaus,
daß die Teilnahme an einem großen Kriege das einzige Mittel sei, um die
Existenz des britischen Reiches sicherzustellen. Dieses verpflichte die Regierung,


Der geplante Kanaltunncl zwischen Frankreich und England

Da die Endpunkte der Bahnlinie über der Meeresfläche liegend gedacht
sind, und die Träne sich nach der Mitte des Tunnels hin allmählich bis auf
95 Meter unter die Meeresoberfläche senken soll, muß sich das durchsickernde
Wasser nach der Mitte hin sammeln. Zur Vermeidung von Störungen, die
hierdurch entstehen könnten, sind Abzugsschächte geplant, die von der Mitte des
Tunnels aus nach den beiden Küsten führen und dort etwa 120 Meter unter
der Meeresoberfläche in Reservoirs enden, die mit Hilfe von Pumpen entleert
werden.

Über die Frage, welche wirtschaftlichen Vorteile die unterseeische Verbindung
den beiden Ländern bringt, ist viel gestritten worden. Der Handel zwischen
England und Frankreich hat in den letzten Jahren nach den statistischen Be
richten der französischen Zolldirektion wenig Fortschritte gemacht. Vom Jahre 1905
bis 1911 ist die Ein- und Ausfuhr zwischen Frankreich und England um
4,2 Prozent, zwischen Frankreich und Deutschland aber um 8,5 Prozent gestiegen.
Der gewinnende Teil wäre hier Frankreich, da dieses infolge der schnelleren
Verbindung für seinen Gemüse- und Obstbau einen besseren Absatz in dem an
diesen Produkten ärmeren England fände. Aus demselben Grunde werden sich
aber dort wohl viele Stimmen gegen das Kanalprojekt finden, da man bei dem
an und für sich schon ungünstigem Stand der Landwirtschaft den französischen
Wettbewerb fürchtet.

Anders liegen die Verhältnisse im Falle eines Krieges auf dem Kontinent,
wenn Frankreich auf Seite Englands steht. Letzteres ist infolge des schon
erwähnten Niederganges der Landwirtschaft auf umfangreiche Einfuhr von Lebens¬
mitteln von außerhalb angewiesen. So wurden z. B. im Jahre 1911 snach
Statesmans Uearbook 1912) folgende Mengen in England eingeführt: 6 Millionen
Tonnen Getreide oder Mehl, 1 900 000 Tonnen Mais, 400 000 Tonnen Reis,
215 000 Tonnen Butter. 120 000 Tonnen Käse, 900 000 Tonnen Fleisch und
150 000 Tonnen Kartoffeln, insgesamt rund 10 Millionen Tonnen Lebensmittel.

Wenn man nun in England auch nicht glaubt, daß die mächtige Flotte
die Herrschaft zur See verlieren und die englische Küste einer Blockade aus¬
setzen wird, so befürchtet man doch, daß einzelne feindliche schnelle Kreuzer die
Handelsstraßen zur See, besonders zwischen England und Nordamerika unsicher
machen und die Zufuhr, wenn auch nicht abschneiden, so doch verringern könnten.
In diesem Falle soll der Kanaltunnel die Gefahr des Ausgehungertwerdens
verhindern, da Frankreich stets die Zufuhr durch die Schweiz, Spanien und
das neutrale Belgien bleibt.

Von ganz besonderer Bedeutung aber wäre der Kanaltunnel für englische
Truppentransporte im Falle eines Krieges des Dreibundes gegen die Entente¬
mächte.

Im Februar des vergangenen Jahres erklärte Lord Roberts im Oberhaus,
daß die Teilnahme an einem großen Kriege das einzige Mittel sei, um die
Existenz des britischen Reiches sicherzustellen. Dieses verpflichte die Regierung,


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[0127] Der geplante Kanaltunncl zwischen Frankreich und England Da die Endpunkte der Bahnlinie über der Meeresfläche liegend gedacht sind, und die Träne sich nach der Mitte des Tunnels hin allmählich bis auf 95 Meter unter die Meeresoberfläche senken soll, muß sich das durchsickernde Wasser nach der Mitte hin sammeln. Zur Vermeidung von Störungen, die hierdurch entstehen könnten, sind Abzugsschächte geplant, die von der Mitte des Tunnels aus nach den beiden Küsten führen und dort etwa 120 Meter unter der Meeresoberfläche in Reservoirs enden, die mit Hilfe von Pumpen entleert werden. Über die Frage, welche wirtschaftlichen Vorteile die unterseeische Verbindung den beiden Ländern bringt, ist viel gestritten worden. Der Handel zwischen England und Frankreich hat in den letzten Jahren nach den statistischen Be richten der französischen Zolldirektion wenig Fortschritte gemacht. Vom Jahre 1905 bis 1911 ist die Ein- und Ausfuhr zwischen Frankreich und England um 4,2 Prozent, zwischen Frankreich und Deutschland aber um 8,5 Prozent gestiegen. Der gewinnende Teil wäre hier Frankreich, da dieses infolge der schnelleren Verbindung für seinen Gemüse- und Obstbau einen besseren Absatz in dem an diesen Produkten ärmeren England fände. Aus demselben Grunde werden sich aber dort wohl viele Stimmen gegen das Kanalprojekt finden, da man bei dem an und für sich schon ungünstigem Stand der Landwirtschaft den französischen Wettbewerb fürchtet. Anders liegen die Verhältnisse im Falle eines Krieges auf dem Kontinent, wenn Frankreich auf Seite Englands steht. Letzteres ist infolge des schon erwähnten Niederganges der Landwirtschaft auf umfangreiche Einfuhr von Lebens¬ mitteln von außerhalb angewiesen. So wurden z. B. im Jahre 1911 snach Statesmans Uearbook 1912) folgende Mengen in England eingeführt: 6 Millionen Tonnen Getreide oder Mehl, 1 900 000 Tonnen Mais, 400 000 Tonnen Reis, 215 000 Tonnen Butter. 120 000 Tonnen Käse, 900 000 Tonnen Fleisch und 150 000 Tonnen Kartoffeln, insgesamt rund 10 Millionen Tonnen Lebensmittel. Wenn man nun in England auch nicht glaubt, daß die mächtige Flotte die Herrschaft zur See verlieren und die englische Küste einer Blockade aus¬ setzen wird, so befürchtet man doch, daß einzelne feindliche schnelle Kreuzer die Handelsstraßen zur See, besonders zwischen England und Nordamerika unsicher machen und die Zufuhr, wenn auch nicht abschneiden, so doch verringern könnten. In diesem Falle soll der Kanaltunnel die Gefahr des Ausgehungertwerdens verhindern, da Frankreich stets die Zufuhr durch die Schweiz, Spanien und das neutrale Belgien bleibt. Von ganz besonderer Bedeutung aber wäre der Kanaltunnel für englische Truppentransporte im Falle eines Krieges des Dreibundes gegen die Entente¬ mächte. Im Februar des vergangenen Jahres erklärte Lord Roberts im Oberhaus, daß die Teilnahme an einem großen Kriege das einzige Mittel sei, um die Existenz des britischen Reiches sicherzustellen. Dieses verpflichte die Regierung,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/127>, abgerufen am 01.01.2025.