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Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr.

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Wahrheit und Schönheit in der Kunst

bereits ein radikaler Bruch mit dem, was der gewöhnliche Menschenverstand
unter "Wahrheit" versteht.

Auch unter den antirealistischen Forderungen der Kunst will ich drei Stufen
unterscheiden, die den oben gekennzeichneten etwa entsprechen. Auch hier haben
wir zunächst eine "vorästhetische" Stufe, die nicht in ästhetischen Theorien vertreten
ist, die aber im Leben sich oft genug findet. Hier will man das möglichst Un¬
mögliche. Unwahrscheinliche, Wunderbare, alles das, was sich im Leben nicht
findet: Zauber und Hexerei, Geister und Fabelwesen. Es ist eine rein materiale
Unwirklichkeit. die man von der Poesie fordert, und die meisten primitiven
Kunstleistungen, Märchen und Sagen, Legenden und Abenteurergeschichten
kommen diesem Sinn fürs Phantastische entgegen, der in aller Kunst den realistischen
Tendenzen entgegengearbeitet hat. obwohl man sich dessen nicht immer bewußtwar und
wohl gar daneben ganz unkritisch all jenen bunten Zauber für Wahrheit nahm, wenig¬
stens überhaupt nicht schied zwischen Wahrheit und Nichtwahrheit. Dieser Hang des
Menschen zum Unwahrscheinlichen und Unmöglichen findet sich nicht nur auf
primitiven Stufen des Denkens, oft tritt er gerade in Perioden Überreiztester
Kultur wieder auf, die ja oft eine gewisse Verwandtschaft mit den Anfängen
der Kultur haben. Genau wie sich der naive Mensch an Gespenstergeschichten
ergötzt, so tut es auch der Leser Edgar A. Poch'. Baudelaires oder all der
vielen modernen Gruselerzühler und Schauerromantiker. Dazu sind jene Maler
zu rechnen, deren Bilder wirken, als waren sie im Fiebertraum oder Haschifch-
rausch geschaffen, und auch wirklich zum Teil so entstanden sind. Im Grunde
ist diese Unrealistik aber auch noch vorästhetisch, wenn sich diese Künstler auch
noch so sehr als Ästheten gebärden, denn sie liegt im Stoff, nicht in der
Formung.

Dort nun, wo wir eine bewußte Umformung der Wirklichkeit haben zum
Zwecke der ästhetischen Wirkung, haben wir es mit der zweiten Stufe des Anti-
realismus zu tun, den ich im Gegensatz zu dem eben behandelten vorästhetischen
materialen Antirealismus als den "formalen" bezeichnen möchte. Hier übernimmt
man die Elemente der alltäglichen Wirklichkeit, behält sich aber die Freiheit vor,
sie nach Belieben zum Zwecke besonderer ästhetischer Wirkungen umzugestalten,
zu "stilisieren". Man hat diese Art der Kunst als den "stilvollen" Realismus
bezeichnet und hat damit sagen wollen, daß der Realismus eben zum Zwecke
einer einheitlichen ästhetischen Wirkung des Stils durchbrochen werden müsse.
Wie weit diese Umformung geht, das ist sehr verschieden; ebenso sind die er-
strebten Wirkungen nicht gleich. In der Malerei sind es besonders Naum-
oder Farbenprobleme, nach denen stilisiert wird. So durchbricht ein Künstler
wie Hohler die Wirklichkeit, um bestimmte Linienwirkungen, architektonisch¬
rhythmische Bildungen in seinen Gemälden zum Ausdruck zu bringen. Lieber¬
mann hat nachgewiesen, daß Manet auf seinem berühmten Bilde "Die Er¬
schießung Maximilians" die Soldaten lieber vorbeischießen ließ, als daß er die
lineare Wirkung geopfert hätte. Auch in der Dichtkunst finden wir diese Um-


Wahrheit und Schönheit in der Kunst

bereits ein radikaler Bruch mit dem, was der gewöhnliche Menschenverstand
unter „Wahrheit" versteht.

Auch unter den antirealistischen Forderungen der Kunst will ich drei Stufen
unterscheiden, die den oben gekennzeichneten etwa entsprechen. Auch hier haben
wir zunächst eine „vorästhetische" Stufe, die nicht in ästhetischen Theorien vertreten
ist, die aber im Leben sich oft genug findet. Hier will man das möglichst Un¬
mögliche. Unwahrscheinliche, Wunderbare, alles das, was sich im Leben nicht
findet: Zauber und Hexerei, Geister und Fabelwesen. Es ist eine rein materiale
Unwirklichkeit. die man von der Poesie fordert, und die meisten primitiven
Kunstleistungen, Märchen und Sagen, Legenden und Abenteurergeschichten
kommen diesem Sinn fürs Phantastische entgegen, der in aller Kunst den realistischen
Tendenzen entgegengearbeitet hat. obwohl man sich dessen nicht immer bewußtwar und
wohl gar daneben ganz unkritisch all jenen bunten Zauber für Wahrheit nahm, wenig¬
stens überhaupt nicht schied zwischen Wahrheit und Nichtwahrheit. Dieser Hang des
Menschen zum Unwahrscheinlichen und Unmöglichen findet sich nicht nur auf
primitiven Stufen des Denkens, oft tritt er gerade in Perioden Überreiztester
Kultur wieder auf, die ja oft eine gewisse Verwandtschaft mit den Anfängen
der Kultur haben. Genau wie sich der naive Mensch an Gespenstergeschichten
ergötzt, so tut es auch der Leser Edgar A. Poch'. Baudelaires oder all der
vielen modernen Gruselerzühler und Schauerromantiker. Dazu sind jene Maler
zu rechnen, deren Bilder wirken, als waren sie im Fiebertraum oder Haschifch-
rausch geschaffen, und auch wirklich zum Teil so entstanden sind. Im Grunde
ist diese Unrealistik aber auch noch vorästhetisch, wenn sich diese Künstler auch
noch so sehr als Ästheten gebärden, denn sie liegt im Stoff, nicht in der
Formung.

Dort nun, wo wir eine bewußte Umformung der Wirklichkeit haben zum
Zwecke der ästhetischen Wirkung, haben wir es mit der zweiten Stufe des Anti-
realismus zu tun, den ich im Gegensatz zu dem eben behandelten vorästhetischen
materialen Antirealismus als den „formalen" bezeichnen möchte. Hier übernimmt
man die Elemente der alltäglichen Wirklichkeit, behält sich aber die Freiheit vor,
sie nach Belieben zum Zwecke besonderer ästhetischer Wirkungen umzugestalten,
zu „stilisieren". Man hat diese Art der Kunst als den „stilvollen" Realismus
bezeichnet und hat damit sagen wollen, daß der Realismus eben zum Zwecke
einer einheitlichen ästhetischen Wirkung des Stils durchbrochen werden müsse.
Wie weit diese Umformung geht, das ist sehr verschieden; ebenso sind die er-
strebten Wirkungen nicht gleich. In der Malerei sind es besonders Naum-
oder Farbenprobleme, nach denen stilisiert wird. So durchbricht ein Künstler
wie Hohler die Wirklichkeit, um bestimmte Linienwirkungen, architektonisch¬
rhythmische Bildungen in seinen Gemälden zum Ausdruck zu bringen. Lieber¬
mann hat nachgewiesen, daß Manet auf seinem berühmten Bilde „Die Er¬
schießung Maximilians" die Soldaten lieber vorbeischießen ließ, als daß er die
lineare Wirkung geopfert hätte. Auch in der Dichtkunst finden wir diese Um-


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[0121] Wahrheit und Schönheit in der Kunst bereits ein radikaler Bruch mit dem, was der gewöhnliche Menschenverstand unter „Wahrheit" versteht. Auch unter den antirealistischen Forderungen der Kunst will ich drei Stufen unterscheiden, die den oben gekennzeichneten etwa entsprechen. Auch hier haben wir zunächst eine „vorästhetische" Stufe, die nicht in ästhetischen Theorien vertreten ist, die aber im Leben sich oft genug findet. Hier will man das möglichst Un¬ mögliche. Unwahrscheinliche, Wunderbare, alles das, was sich im Leben nicht findet: Zauber und Hexerei, Geister und Fabelwesen. Es ist eine rein materiale Unwirklichkeit. die man von der Poesie fordert, und die meisten primitiven Kunstleistungen, Märchen und Sagen, Legenden und Abenteurergeschichten kommen diesem Sinn fürs Phantastische entgegen, der in aller Kunst den realistischen Tendenzen entgegengearbeitet hat. obwohl man sich dessen nicht immer bewußtwar und wohl gar daneben ganz unkritisch all jenen bunten Zauber für Wahrheit nahm, wenig¬ stens überhaupt nicht schied zwischen Wahrheit und Nichtwahrheit. Dieser Hang des Menschen zum Unwahrscheinlichen und Unmöglichen findet sich nicht nur auf primitiven Stufen des Denkens, oft tritt er gerade in Perioden Überreiztester Kultur wieder auf, die ja oft eine gewisse Verwandtschaft mit den Anfängen der Kultur haben. Genau wie sich der naive Mensch an Gespenstergeschichten ergötzt, so tut es auch der Leser Edgar A. Poch'. Baudelaires oder all der vielen modernen Gruselerzühler und Schauerromantiker. Dazu sind jene Maler zu rechnen, deren Bilder wirken, als waren sie im Fiebertraum oder Haschifch- rausch geschaffen, und auch wirklich zum Teil so entstanden sind. Im Grunde ist diese Unrealistik aber auch noch vorästhetisch, wenn sich diese Künstler auch noch so sehr als Ästheten gebärden, denn sie liegt im Stoff, nicht in der Formung. Dort nun, wo wir eine bewußte Umformung der Wirklichkeit haben zum Zwecke der ästhetischen Wirkung, haben wir es mit der zweiten Stufe des Anti- realismus zu tun, den ich im Gegensatz zu dem eben behandelten vorästhetischen materialen Antirealismus als den „formalen" bezeichnen möchte. Hier übernimmt man die Elemente der alltäglichen Wirklichkeit, behält sich aber die Freiheit vor, sie nach Belieben zum Zwecke besonderer ästhetischer Wirkungen umzugestalten, zu „stilisieren". Man hat diese Art der Kunst als den „stilvollen" Realismus bezeichnet und hat damit sagen wollen, daß der Realismus eben zum Zwecke einer einheitlichen ästhetischen Wirkung des Stils durchbrochen werden müsse. Wie weit diese Umformung geht, das ist sehr verschieden; ebenso sind die er- strebten Wirkungen nicht gleich. In der Malerei sind es besonders Naum- oder Farbenprobleme, nach denen stilisiert wird. So durchbricht ein Künstler wie Hohler die Wirklichkeit, um bestimmte Linienwirkungen, architektonisch¬ rhythmische Bildungen in seinen Gemälden zum Ausdruck zu bringen. Lieber¬ mann hat nachgewiesen, daß Manet auf seinem berühmten Bilde „Die Er¬ schießung Maximilians" die Soldaten lieber vorbeischießen ließ, als daß er die lineare Wirkung geopfert hätte. Auch in der Dichtkunst finden wir diese Um-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 73, 1914, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341899_327465/121>, abgerufen am 01.01.2025.