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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Gustav Lrcnsscn

Schaffen, diese Schaffenden, diese Stellung den Binnenländern zu zeigen, fühlte
er bald als seine Aufgabe. In der Gestalt des "Klaus Hinrich Baas" schuf
er -- mit einigen individuellen Zügen -- den typischen Repräsentanten des
modernen deutschen Großkaufmanns, die heutige Eroberernatur. Und er stellte
sie mit gereifter Erzählerkunst und impressionistischer Eindruckskraft hinein in die
Atmosphäre Hamburgs, die episch bewältigt wurde, wie niemals bisher.
"Klaus Hinrich Baas" wurde Frenssens Gegenstück zum "Jörn Abt". Einst
gestaltete er das Bauerntum, jetzt die Kaufmannschaft und in "Hilligenlei" war
die moderne geistige Welt dichterischer Ausdruck geworden.

Eine mächtige Trilogie, fürwahr, an der die kleinliche Krittelei, die man
heute für das Wesen literarischer Kritik zu halten nur allzu leicht geneig ist, nicht
zu rütteln vermag, enthüllte so das Werden einer für unsere Zeit zumindest be¬
deutungsvollen Persönlichkeit, die sich aus Heimatgrenzen zur Vaterlandstreue, zur
Menschheitsweite emporgerungen hatte und die nun, da sie allmählich Distanz zu
"Hilligenlei" erlangte, die große Revision an der einst aufgestellten Welt¬
anschauung ehrlich und treu begann. "Der Untergang der Anna Hollmann"
spricht davon. Christentum und Tradition wurden beiseite geschoben. Es blieb
allein die große Frage um die Persönlichkeit Gottes, um seine Gerechtigkeit, um
sein Verhältnis zur Welt, um Zweck und Ziel und Sinn des menschlichen Da¬
seins. Jan Güldt sollte diese Frage beantworten; er fand die Lösung nicht, er
fand nur eins: immer wieder sich selbst I

Mit diesen sieben Werken, zu denen der dramatische Versuch "Sorte
Erlassen" nur als Beweis von der unermüdlichen Künstlerarbeit des Dichters
zu zählen ist, steht Gustav Frenssen an seinem funfzigsten Geburtstag vor uns:
eine Persönlichkeit, in ihrem Wesen durch und durch deutsch, dithmarstsch
hart und eigenwillig, germanisch verträumt und zart, gegenwartstreu, ein Ge¬
wissen für die Not der Zeit, ehrlich und aufopfernd, rücksichtslos im Erkennen
und Offenbaren, sich selbst vertrauend, wachsend als Mensch wie als Künstler.
Er ging von der "Sandgräfin" aus, schuf langsam Werk um Werk. Jeder
Roman, jede Erzählung hat ihren besonderen Gehalt, ihren besonderen Wert.
Da ist kein Buch, das der vorüberfliehende Alltag hervorrief, das aus Sensation
oder Erfolgssucht entstand, das schnell und leichtsinnig geschrieben wurde. Sondern
von den "Drei Getreuen" an weisen alle das Herzblut des Dichters, die seelische
Not des Menschen auf. Aber nicht nur das: jedes Werk hat auch sein
Eigenes zu bedeuten, zu sagen. Alle diese Romane sind so fest verwachsen mit
dem Wesen der Gegenwart, daß sie aus dem zwanzigsten Jahrhundert nicht
fortzudenken sind. Wer einst das erste Jahrzehnt des neuen Säkulums
charakterisieren will, er findet es in Frenssens Büchern: sie sind die Extrakte
aus den Gärungen, den Arbeiten und Sorgen, den Hoffnungen und Bestrebungen,
mit denen wir jetzt leben und atmen. Denke dir die Gestalt dieses Dichters
fort aus dem literarischen Schaffen: so siehst du geradezu eine Lücke. Denn es
ist niemand, den du an seine Seite, geschweige denn an seinen Platz setzen


Gustav Lrcnsscn

Schaffen, diese Schaffenden, diese Stellung den Binnenländern zu zeigen, fühlte
er bald als seine Aufgabe. In der Gestalt des „Klaus Hinrich Baas" schuf
er — mit einigen individuellen Zügen — den typischen Repräsentanten des
modernen deutschen Großkaufmanns, die heutige Eroberernatur. Und er stellte
sie mit gereifter Erzählerkunst und impressionistischer Eindruckskraft hinein in die
Atmosphäre Hamburgs, die episch bewältigt wurde, wie niemals bisher.
„Klaus Hinrich Baas" wurde Frenssens Gegenstück zum „Jörn Abt". Einst
gestaltete er das Bauerntum, jetzt die Kaufmannschaft und in „Hilligenlei" war
die moderne geistige Welt dichterischer Ausdruck geworden.

Eine mächtige Trilogie, fürwahr, an der die kleinliche Krittelei, die man
heute für das Wesen literarischer Kritik zu halten nur allzu leicht geneig ist, nicht
zu rütteln vermag, enthüllte so das Werden einer für unsere Zeit zumindest be¬
deutungsvollen Persönlichkeit, die sich aus Heimatgrenzen zur Vaterlandstreue, zur
Menschheitsweite emporgerungen hatte und die nun, da sie allmählich Distanz zu
„Hilligenlei" erlangte, die große Revision an der einst aufgestellten Welt¬
anschauung ehrlich und treu begann. „Der Untergang der Anna Hollmann"
spricht davon. Christentum und Tradition wurden beiseite geschoben. Es blieb
allein die große Frage um die Persönlichkeit Gottes, um seine Gerechtigkeit, um
sein Verhältnis zur Welt, um Zweck und Ziel und Sinn des menschlichen Da¬
seins. Jan Güldt sollte diese Frage beantworten; er fand die Lösung nicht, er
fand nur eins: immer wieder sich selbst I

Mit diesen sieben Werken, zu denen der dramatische Versuch „Sorte
Erlassen" nur als Beweis von der unermüdlichen Künstlerarbeit des Dichters
zu zählen ist, steht Gustav Frenssen an seinem funfzigsten Geburtstag vor uns:
eine Persönlichkeit, in ihrem Wesen durch und durch deutsch, dithmarstsch
hart und eigenwillig, germanisch verträumt und zart, gegenwartstreu, ein Ge¬
wissen für die Not der Zeit, ehrlich und aufopfernd, rücksichtslos im Erkennen
und Offenbaren, sich selbst vertrauend, wachsend als Mensch wie als Künstler.
Er ging von der „Sandgräfin" aus, schuf langsam Werk um Werk. Jeder
Roman, jede Erzählung hat ihren besonderen Gehalt, ihren besonderen Wert.
Da ist kein Buch, das der vorüberfliehende Alltag hervorrief, das aus Sensation
oder Erfolgssucht entstand, das schnell und leichtsinnig geschrieben wurde. Sondern
von den „Drei Getreuen" an weisen alle das Herzblut des Dichters, die seelische
Not des Menschen auf. Aber nicht nur das: jedes Werk hat auch sein
Eigenes zu bedeuten, zu sagen. Alle diese Romane sind so fest verwachsen mit
dem Wesen der Gegenwart, daß sie aus dem zwanzigsten Jahrhundert nicht
fortzudenken sind. Wer einst das erste Jahrzehnt des neuen Säkulums
charakterisieren will, er findet es in Frenssens Büchern: sie sind die Extrakte
aus den Gärungen, den Arbeiten und Sorgen, den Hoffnungen und Bestrebungen,
mit denen wir jetzt leben und atmen. Denke dir die Gestalt dieses Dichters
fort aus dem literarischen Schaffen: so siehst du geradezu eine Lücke. Denn es
ist niemand, den du an seine Seite, geschweige denn an seinen Platz setzen


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/80>, abgerufen am 23.07.2024.