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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Gustav Frensscn

die sich nun brüchig fühlte. Die Vorarbeit für "Jörn Abt", für "Hilligenlei"
wurde geleistet. Beim Schreiben der "Dorfpredigten", in denen das Kirchen¬
christentum zur persönlichen Wahrheit, die biblischen Formen zu dithmarstschen
Formen werden sollten, wuchs der Ethiker und Dichter Frenfsen.

Diese Predigten zum Lesen erschienen zwar erst nach den "drei Getreuen",
1899, aber sie enthalten doch den Inhalt des Seelentums Frenfsens von 1890
bis 1898. Weder dogmatisch, noch schönrednerisch kam der Pastor daher. Er
hatte eine treue Beziehung zur Bauernwelt, ihrer Not und ihrem Inhalt
gefunden, er hielt sich dann an die evangelischen Grundwahrheiten und erläuterte
sie mit konkreter, originaler Heimathliebe, nicht übertrieben fromm, sondern
schlicht und gefühlsinnig. Religion, Poesie und Leben wurden vermählt, so
daß auch der rein ästhetisch Genießende bei ihrem Lesen auf feine Rechnung
kommt. Schon hier in dem Predigerwerke erscheint der in den Dichtungen bald
zutage tretende Gegenwartsmensch. Sozial-ethische Momente überwiegen. Nicht
das eigentlich Biblische ist Richtschnur, sondern das Sittliche im Religiösen.

Frenssens Predigtschaffen ging seinen Dichtungen nicht nur vorauf, sondern
auch nebenher. Sein Ringen mit dem dichterischen Genius hing unmittelbar
mit dem Ringen um den formalrichtigen Ausdruck seiner Weltanschauung zu¬
sammen. Schon das reine Historische seiner Entwicklung zeigt uns das, denn
immer klarer wurde Frenfsen beim Predigen seine dichterische Bestimmung. Er
war zuerst durch reinen Zufall wieder an die poetischen Versuche seiner Jünglings¬
zeit erinnert worden; mit eiserner Not hatte sich sein Inneres an diese Er¬
innerung geklammert, und er empfand es nun, "daß ich endlich die Stelle
gefunden hätte, wo meine Wunderlichkeit und meine Gabe läge. Und allmählich,
wie ich weitersann und wie ich die ersten kleinen Geschichten schrieb, wurde es
immer Heller, ich merkte, daß ich Augen hatte, welche die Dinge und die Seele
plastisch sehen. Ich merkte, daß ich das Weinen mit den Weinenden und das
Lachen mit den Landenden nicht als christliche Lebensregel mir zu eigen gemacht
hatte, sondern daß es eine besondere Naturanlage war, die mich so hob, so
bedrückte: das Leben aller Menschen mitzuleben. Ich hatte die Gabe, mich zu
vergessen, ja ich kann sagen, mich zu verlassen, und auf Stunden und Tage
wie einer zu sein, der das Leben eines anderen führt. Da, nach kurzem
Zaudern fing ich an. den ersten Roman zu schreiben. Ich hatte eine neue
Aufgabe. Ich zog aus, mit dem Mut und mit dem Bangen der israelitischen
Kundschafter, neue Länder zu entdecken. Und ich habe die Länder wahrhaftig
und nicht im Traume gesehen."

So langsam wurde Frenssen sich seiner inneren Aufgabe bewußt. Der
Dichter war geboren, der Künstler aber noch nicht aufgeweckt. Der erwachte
erst, als der Dichter versuchte, die Gesichte, die ihm über seine Predigtbücher
hin zugewinkt hatten, zu gestalten und festzuhalten, als er die "Sandgräfin"
schrieb, seinen ersten Roman. Er begann ihn, ohne recht zu wissen, was es
heißt, ein Lebens- und Landschaftsbild zu geben, einen Charakter und ein


Gustav Frensscn

die sich nun brüchig fühlte. Die Vorarbeit für „Jörn Abt", für „Hilligenlei"
wurde geleistet. Beim Schreiben der „Dorfpredigten", in denen das Kirchen¬
christentum zur persönlichen Wahrheit, die biblischen Formen zu dithmarstschen
Formen werden sollten, wuchs der Ethiker und Dichter Frenfsen.

Diese Predigten zum Lesen erschienen zwar erst nach den „drei Getreuen",
1899, aber sie enthalten doch den Inhalt des Seelentums Frenfsens von 1890
bis 1898. Weder dogmatisch, noch schönrednerisch kam der Pastor daher. Er
hatte eine treue Beziehung zur Bauernwelt, ihrer Not und ihrem Inhalt
gefunden, er hielt sich dann an die evangelischen Grundwahrheiten und erläuterte
sie mit konkreter, originaler Heimathliebe, nicht übertrieben fromm, sondern
schlicht und gefühlsinnig. Religion, Poesie und Leben wurden vermählt, so
daß auch der rein ästhetisch Genießende bei ihrem Lesen auf feine Rechnung
kommt. Schon hier in dem Predigerwerke erscheint der in den Dichtungen bald
zutage tretende Gegenwartsmensch. Sozial-ethische Momente überwiegen. Nicht
das eigentlich Biblische ist Richtschnur, sondern das Sittliche im Religiösen.

Frenssens Predigtschaffen ging seinen Dichtungen nicht nur vorauf, sondern
auch nebenher. Sein Ringen mit dem dichterischen Genius hing unmittelbar
mit dem Ringen um den formalrichtigen Ausdruck seiner Weltanschauung zu¬
sammen. Schon das reine Historische seiner Entwicklung zeigt uns das, denn
immer klarer wurde Frenfsen beim Predigen seine dichterische Bestimmung. Er
war zuerst durch reinen Zufall wieder an die poetischen Versuche seiner Jünglings¬
zeit erinnert worden; mit eiserner Not hatte sich sein Inneres an diese Er¬
innerung geklammert, und er empfand es nun, „daß ich endlich die Stelle
gefunden hätte, wo meine Wunderlichkeit und meine Gabe läge. Und allmählich,
wie ich weitersann und wie ich die ersten kleinen Geschichten schrieb, wurde es
immer Heller, ich merkte, daß ich Augen hatte, welche die Dinge und die Seele
plastisch sehen. Ich merkte, daß ich das Weinen mit den Weinenden und das
Lachen mit den Landenden nicht als christliche Lebensregel mir zu eigen gemacht
hatte, sondern daß es eine besondere Naturanlage war, die mich so hob, so
bedrückte: das Leben aller Menschen mitzuleben. Ich hatte die Gabe, mich zu
vergessen, ja ich kann sagen, mich zu verlassen, und auf Stunden und Tage
wie einer zu sein, der das Leben eines anderen führt. Da, nach kurzem
Zaudern fing ich an. den ersten Roman zu schreiben. Ich hatte eine neue
Aufgabe. Ich zog aus, mit dem Mut und mit dem Bangen der israelitischen
Kundschafter, neue Länder zu entdecken. Und ich habe die Länder wahrhaftig
und nicht im Traume gesehen."

So langsam wurde Frenssen sich seiner inneren Aufgabe bewußt. Der
Dichter war geboren, der Künstler aber noch nicht aufgeweckt. Der erwachte
erst, als der Dichter versuchte, die Gesichte, die ihm über seine Predigtbücher
hin zugewinkt hatten, zu gestalten und festzuhalten, als er die „Sandgräfin"
schrieb, seinen ersten Roman. Er begann ihn, ohne recht zu wissen, was es
heißt, ein Lebens- und Landschaftsbild zu geben, einen Charakter und ein


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[0076] Gustav Frensscn die sich nun brüchig fühlte. Die Vorarbeit für „Jörn Abt", für „Hilligenlei" wurde geleistet. Beim Schreiben der „Dorfpredigten", in denen das Kirchen¬ christentum zur persönlichen Wahrheit, die biblischen Formen zu dithmarstschen Formen werden sollten, wuchs der Ethiker und Dichter Frenfsen. Diese Predigten zum Lesen erschienen zwar erst nach den „drei Getreuen", 1899, aber sie enthalten doch den Inhalt des Seelentums Frenfsens von 1890 bis 1898. Weder dogmatisch, noch schönrednerisch kam der Pastor daher. Er hatte eine treue Beziehung zur Bauernwelt, ihrer Not und ihrem Inhalt gefunden, er hielt sich dann an die evangelischen Grundwahrheiten und erläuterte sie mit konkreter, originaler Heimathliebe, nicht übertrieben fromm, sondern schlicht und gefühlsinnig. Religion, Poesie und Leben wurden vermählt, so daß auch der rein ästhetisch Genießende bei ihrem Lesen auf feine Rechnung kommt. Schon hier in dem Predigerwerke erscheint der in den Dichtungen bald zutage tretende Gegenwartsmensch. Sozial-ethische Momente überwiegen. Nicht das eigentlich Biblische ist Richtschnur, sondern das Sittliche im Religiösen. Frenssens Predigtschaffen ging seinen Dichtungen nicht nur vorauf, sondern auch nebenher. Sein Ringen mit dem dichterischen Genius hing unmittelbar mit dem Ringen um den formalrichtigen Ausdruck seiner Weltanschauung zu¬ sammen. Schon das reine Historische seiner Entwicklung zeigt uns das, denn immer klarer wurde Frenfsen beim Predigen seine dichterische Bestimmung. Er war zuerst durch reinen Zufall wieder an die poetischen Versuche seiner Jünglings¬ zeit erinnert worden; mit eiserner Not hatte sich sein Inneres an diese Er¬ innerung geklammert, und er empfand es nun, „daß ich endlich die Stelle gefunden hätte, wo meine Wunderlichkeit und meine Gabe läge. Und allmählich, wie ich weitersann und wie ich die ersten kleinen Geschichten schrieb, wurde es immer Heller, ich merkte, daß ich Augen hatte, welche die Dinge und die Seele plastisch sehen. Ich merkte, daß ich das Weinen mit den Weinenden und das Lachen mit den Landenden nicht als christliche Lebensregel mir zu eigen gemacht hatte, sondern daß es eine besondere Naturanlage war, die mich so hob, so bedrückte: das Leben aller Menschen mitzuleben. Ich hatte die Gabe, mich zu vergessen, ja ich kann sagen, mich zu verlassen, und auf Stunden und Tage wie einer zu sein, der das Leben eines anderen führt. Da, nach kurzem Zaudern fing ich an. den ersten Roman zu schreiben. Ich hatte eine neue Aufgabe. Ich zog aus, mit dem Mut und mit dem Bangen der israelitischen Kundschafter, neue Länder zu entdecken. Und ich habe die Länder wahrhaftig und nicht im Traume gesehen." So langsam wurde Frenssen sich seiner inneren Aufgabe bewußt. Der Dichter war geboren, der Künstler aber noch nicht aufgeweckt. Der erwachte erst, als der Dichter versuchte, die Gesichte, die ihm über seine Predigtbücher hin zugewinkt hatten, zu gestalten und festzuhalten, als er die „Sandgräfin" schrieb, seinen ersten Roman. Er begann ihn, ohne recht zu wissen, was es heißt, ein Lebens- und Landschaftsbild zu geben, einen Charakter und ein

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/76>, abgerufen am 24.08.2024.