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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Der erste deutsche Herbstsalon

Anschauen nicht mehr. Sie reißen den Beschauer zunächst in die Mitte des
Dargestellten. Aber hier verhält er sich nicht ruhig, sondern dreht sich im
Kreise und nimmt alle Dinge zugleich auf. Aber nicht etwa nur die Außen¬
seite dieser Dinge, sondern vor allem ihre "Energien", ihre inneren Kräfte,
welche die Dinge konstituieren. Ein Ding ist nur ein Zusammenklang bestimmter
Molekularschwingungen, der Rhythmus dieser konstituierenden Schwingungen
muß wiedergegeben werden. Die Dinge werden also nicht in Ruhe, sondern
schwingend, daher mit mehreren parallelen Konturen wiedergegeben wie wir
etwa eine vibrierende Stimmgabel zeichnen würden. Aber auch das genügt
noch nicht. Auch die durch optische oder akustische Eindrücke, ja durch Ge¬
dankenassoziationen mancherlei Art erregte Empfindung des Beschauers muß
ausgedrückt werden, was durch abstrakte Linien, oder fertige Flächen geschieht,
die nach bestimmten inneren Gesetzen, wie sie die Futuristen in sich zu haben
versichern, angeordnet werden*). Ich kann aber als Futurist, den Einflüssen der
Kubisten folgend, noch weiter von den Erscheinungen der Dinge abstrahieren
und nur deren inneren Rhythmus darstellen. Die Phasen eines Aufstandes
etwa, die tobende Menge, die angreifende Kavallerie werden dargestellt durch
Linienbündel, die die Erregung wiederstreitender Seelenkräfte symbolisieren.
Und so kommen wir schließlich zu Bildern, wie sie etwa Carra malt, die Titel
tragen wie "Zentrifugale Kräfte" oder "Plastische Emanation".

Übrigens ist der Futurismus, soweit ich sehe, keine einheitliche Be¬
wegung. Ein Teil der Futuristen, besonders Boccioni, sind von Haus aus
lyrisch veranlagt, womit denn wieder das Literarische, das der Im¬
pressionismus mit starker Einseitigkeit verpönt hatte, seinen Einzug in die
Malerei nimmt. Boccioni malt z. B. die traurigen Empfindungen des
Reisenden, der soeben Abschied genommen hat. Es ist als malte er die
verschiedenen Strophen eines lyrischen Gedichts nebeneinander. Er denkt an
die Lokomotive -- sie wird also stückweise angedeutet. Er denkt daran, wie er
auf dem Bahnhof sein Abteil suchte -- setzen wir also irgendwohin eine
Abteilnummer. Ihm schweben die Gesichter der Zurückbleibenden vor -- nebelhaft
tauchen sie auf der Leinwand auf. Er sieht unbewußt ein Stück Bank, ein
Stück Gepäcknetz, sieht die Landschaft draußen vorüberhuschen, und alles wird dar¬
gestellt, aber nur stückweise, weil es ja nur stückweise bewußt wird. Er hört
den Wind sausen, empfindet das dumpfe Rollen des Zuges -- es wird im
Rhythmus der Verbindungslinien ausgedrückt; er ist endlich von gedrückten
Empfindungen beherrscht, die durch düstere Farbenflecke symbolisiert werden.

Versuchen wir nun nach diesen Feststellungen die Resultate der Entwicklung,
soweit wir sie bis jetzt überschauen können, allgemein zu werten, so ergibt sich,
daß gegen die Tendenzen des Expressionismus nichts zu sagen ist. Er ist, wie



*) Wem bei dieser Wiedergabe wirblicht wird, der nehme den Katalog der erwähnten
Futuristenausstellung zur Hand; er wird dann gestehen, daß ich mich der äußersten Klarheit
befleißige.
Der erste deutsche Herbstsalon

Anschauen nicht mehr. Sie reißen den Beschauer zunächst in die Mitte des
Dargestellten. Aber hier verhält er sich nicht ruhig, sondern dreht sich im
Kreise und nimmt alle Dinge zugleich auf. Aber nicht etwa nur die Außen¬
seite dieser Dinge, sondern vor allem ihre „Energien", ihre inneren Kräfte,
welche die Dinge konstituieren. Ein Ding ist nur ein Zusammenklang bestimmter
Molekularschwingungen, der Rhythmus dieser konstituierenden Schwingungen
muß wiedergegeben werden. Die Dinge werden also nicht in Ruhe, sondern
schwingend, daher mit mehreren parallelen Konturen wiedergegeben wie wir
etwa eine vibrierende Stimmgabel zeichnen würden. Aber auch das genügt
noch nicht. Auch die durch optische oder akustische Eindrücke, ja durch Ge¬
dankenassoziationen mancherlei Art erregte Empfindung des Beschauers muß
ausgedrückt werden, was durch abstrakte Linien, oder fertige Flächen geschieht,
die nach bestimmten inneren Gesetzen, wie sie die Futuristen in sich zu haben
versichern, angeordnet werden*). Ich kann aber als Futurist, den Einflüssen der
Kubisten folgend, noch weiter von den Erscheinungen der Dinge abstrahieren
und nur deren inneren Rhythmus darstellen. Die Phasen eines Aufstandes
etwa, die tobende Menge, die angreifende Kavallerie werden dargestellt durch
Linienbündel, die die Erregung wiederstreitender Seelenkräfte symbolisieren.
Und so kommen wir schließlich zu Bildern, wie sie etwa Carra malt, die Titel
tragen wie „Zentrifugale Kräfte" oder „Plastische Emanation".

Übrigens ist der Futurismus, soweit ich sehe, keine einheitliche Be¬
wegung. Ein Teil der Futuristen, besonders Boccioni, sind von Haus aus
lyrisch veranlagt, womit denn wieder das Literarische, das der Im¬
pressionismus mit starker Einseitigkeit verpönt hatte, seinen Einzug in die
Malerei nimmt. Boccioni malt z. B. die traurigen Empfindungen des
Reisenden, der soeben Abschied genommen hat. Es ist als malte er die
verschiedenen Strophen eines lyrischen Gedichts nebeneinander. Er denkt an
die Lokomotive — sie wird also stückweise angedeutet. Er denkt daran, wie er
auf dem Bahnhof sein Abteil suchte — setzen wir also irgendwohin eine
Abteilnummer. Ihm schweben die Gesichter der Zurückbleibenden vor — nebelhaft
tauchen sie auf der Leinwand auf. Er sieht unbewußt ein Stück Bank, ein
Stück Gepäcknetz, sieht die Landschaft draußen vorüberhuschen, und alles wird dar¬
gestellt, aber nur stückweise, weil es ja nur stückweise bewußt wird. Er hört
den Wind sausen, empfindet das dumpfe Rollen des Zuges — es wird im
Rhythmus der Verbindungslinien ausgedrückt; er ist endlich von gedrückten
Empfindungen beherrscht, die durch düstere Farbenflecke symbolisiert werden.

Versuchen wir nun nach diesen Feststellungen die Resultate der Entwicklung,
soweit wir sie bis jetzt überschauen können, allgemein zu werten, so ergibt sich,
daß gegen die Tendenzen des Expressionismus nichts zu sagen ist. Er ist, wie



*) Wem bei dieser Wiedergabe wirblicht wird, der nehme den Katalog der erwähnten
Futuristenausstellung zur Hand; er wird dann gestehen, daß ich mich der äußersten Klarheit
befleißige.
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[0627] Der erste deutsche Herbstsalon Anschauen nicht mehr. Sie reißen den Beschauer zunächst in die Mitte des Dargestellten. Aber hier verhält er sich nicht ruhig, sondern dreht sich im Kreise und nimmt alle Dinge zugleich auf. Aber nicht etwa nur die Außen¬ seite dieser Dinge, sondern vor allem ihre „Energien", ihre inneren Kräfte, welche die Dinge konstituieren. Ein Ding ist nur ein Zusammenklang bestimmter Molekularschwingungen, der Rhythmus dieser konstituierenden Schwingungen muß wiedergegeben werden. Die Dinge werden also nicht in Ruhe, sondern schwingend, daher mit mehreren parallelen Konturen wiedergegeben wie wir etwa eine vibrierende Stimmgabel zeichnen würden. Aber auch das genügt noch nicht. Auch die durch optische oder akustische Eindrücke, ja durch Ge¬ dankenassoziationen mancherlei Art erregte Empfindung des Beschauers muß ausgedrückt werden, was durch abstrakte Linien, oder fertige Flächen geschieht, die nach bestimmten inneren Gesetzen, wie sie die Futuristen in sich zu haben versichern, angeordnet werden*). Ich kann aber als Futurist, den Einflüssen der Kubisten folgend, noch weiter von den Erscheinungen der Dinge abstrahieren und nur deren inneren Rhythmus darstellen. Die Phasen eines Aufstandes etwa, die tobende Menge, die angreifende Kavallerie werden dargestellt durch Linienbündel, die die Erregung wiederstreitender Seelenkräfte symbolisieren. Und so kommen wir schließlich zu Bildern, wie sie etwa Carra malt, die Titel tragen wie „Zentrifugale Kräfte" oder „Plastische Emanation". Übrigens ist der Futurismus, soweit ich sehe, keine einheitliche Be¬ wegung. Ein Teil der Futuristen, besonders Boccioni, sind von Haus aus lyrisch veranlagt, womit denn wieder das Literarische, das der Im¬ pressionismus mit starker Einseitigkeit verpönt hatte, seinen Einzug in die Malerei nimmt. Boccioni malt z. B. die traurigen Empfindungen des Reisenden, der soeben Abschied genommen hat. Es ist als malte er die verschiedenen Strophen eines lyrischen Gedichts nebeneinander. Er denkt an die Lokomotive — sie wird also stückweise angedeutet. Er denkt daran, wie er auf dem Bahnhof sein Abteil suchte — setzen wir also irgendwohin eine Abteilnummer. Ihm schweben die Gesichter der Zurückbleibenden vor — nebelhaft tauchen sie auf der Leinwand auf. Er sieht unbewußt ein Stück Bank, ein Stück Gepäcknetz, sieht die Landschaft draußen vorüberhuschen, und alles wird dar¬ gestellt, aber nur stückweise, weil es ja nur stückweise bewußt wird. Er hört den Wind sausen, empfindet das dumpfe Rollen des Zuges — es wird im Rhythmus der Verbindungslinien ausgedrückt; er ist endlich von gedrückten Empfindungen beherrscht, die durch düstere Farbenflecke symbolisiert werden. Versuchen wir nun nach diesen Feststellungen die Resultate der Entwicklung, soweit wir sie bis jetzt überschauen können, allgemein zu werten, so ergibt sich, daß gegen die Tendenzen des Expressionismus nichts zu sagen ist. Er ist, wie *) Wem bei dieser Wiedergabe wirblicht wird, der nehme den Katalog der erwähnten Futuristenausstellung zur Hand; er wird dann gestehen, daß ich mich der äußersten Klarheit befleißige.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/627>, abgerufen am 22.07.2024.