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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Der erste deutsche Herbstsalon

benennen, sondern nur noch als "Bild" schlechthin oder "Komposition"
bezeichnen. Van Gogh endlich hatte gleich von Anfang an weniger Gewicht
auf die momentane objektive Erscheinung als auf den momentanen Eindruck
gelegt; was ihn aber zur Zeit der Reife am meisten frappierte, war nicht der
Eindruck formaler Werte, sondern des Objekts, hinter dem er eine eigene Seele
sah. Ein Stuhl von van Gogh, eine Pfeife, ein paar Schuhe sind durchaus
wie Individuen mit persönlichem Eigenleben dargestellt; er sah weniger
die Dinge selbst als etwas, das hinter den Dingen zu sein schien, die Seele
der Dinge. Daß das sehr wohl möglich ist, wissen wir aus den Phantasien
der Kinder und in demselben Sinne hat einmal Maupassant gesagt, daß das
unheimlichste aller Dinge die menschliche Hand sei. Und hier liegt der Keim
zum Expresstonismus. Ihm gilt nicht mehr die äußere Erscheinung des Dings
als wesentlich: sie darf willkürlich verzerrt werden zugunsten einer Darstellung
des unerklärlichen, aber fühlbaren Seelischen in oder hinter den Dingen. Hier
wurzeln Matisse, Pechstein und andere. Hier wurzelt auch der Kubismus.
Denn wenn van Gogh, der sich stets nur als Vorläufer einer neuen Kunst be¬
trachtet hat, gewissermaßen auf die Entdeckung des Seelischen ausging, so geht
der Kubismus eben von diesem Seelischen, das jetzt gefunden war, selbst aus.
Bei der Darstellung dieses Seelischen aber, das ja um sichtbar zu werdeu, der
Verbindung mit Materiellen bedarf, verschmäht es der Kühlst, wieder auf die
reale Materie, deren Darstellungsmöglichkeiten ihm erschöpft zu sein scheinen,
zurückzugehen, sondern zieht es vor, dieses Seelische selbständig, sozusagen als
ein schöpferischer Gott neu zu organisieren entweder mit Hilfe wahrgenommener
konstruktiver Einheiten (Le Fauconnier) oder mathematisch bestehender (Braque,
Mezinger) oder selbständig geschaffener Kühen oder Flächen (Picasso, Loger,
Picabia u. a.). Durch die scharfe Abgrenzung dieser Elemente erhält
dann das Bild, das bei Kandinsky auseinanderzufließen droht, seine innere
Geschlossenheit, während die äußere Geschlossenheit Cözannes, der noch im All¬
tagssinne deutlich komponierte, als eine Fälschung der Natur verworfen wird.

Wie man leicht sieht, gerät dies, wenigstens für unser Gefühl, ins Ab¬
strakte und Theoretische, aber noch viel theoretischer arbeitet der Futurismus.
Diese Bewegung stammt ausschließlich aus Italien und ist ursprünglich rein
literarisch. Daraus mag sich auch das Gezwungene in seinen malerischen
Theorien erklären. Zunächst steckt darin eine Reaktion gegen das rein Artistische
des Impressionismus. Die rein formalen Werte genügen nicht mehr, man will
mehr, tiefer Wurzelndes, tiefer Packendes geben. Die Futuristen wollen nicht
mehr den passiven Beschauer, der sich von Farbenschwingungen streicheln läßt
wie oft bei Manet und noch bei Kandinsky, sie wollen den Beschauer mitten in
das Bild hineinversetzen. Auch das ist nichts Neues. Schon C. D. Friedrich,
Schwind und Thoma haben nicht selten in den Vordergrund ihrer Landschaften
eine Figur gesetzt, mit der sich der Beschauer identifizieren sollte, um sich leichter
in die Landschaft einzufühlen. Den Futuristen aber genügt dies distanzierte


Der erste deutsche Herbstsalon

benennen, sondern nur noch als „Bild" schlechthin oder „Komposition"
bezeichnen. Van Gogh endlich hatte gleich von Anfang an weniger Gewicht
auf die momentane objektive Erscheinung als auf den momentanen Eindruck
gelegt; was ihn aber zur Zeit der Reife am meisten frappierte, war nicht der
Eindruck formaler Werte, sondern des Objekts, hinter dem er eine eigene Seele
sah. Ein Stuhl von van Gogh, eine Pfeife, ein paar Schuhe sind durchaus
wie Individuen mit persönlichem Eigenleben dargestellt; er sah weniger
die Dinge selbst als etwas, das hinter den Dingen zu sein schien, die Seele
der Dinge. Daß das sehr wohl möglich ist, wissen wir aus den Phantasien
der Kinder und in demselben Sinne hat einmal Maupassant gesagt, daß das
unheimlichste aller Dinge die menschliche Hand sei. Und hier liegt der Keim
zum Expresstonismus. Ihm gilt nicht mehr die äußere Erscheinung des Dings
als wesentlich: sie darf willkürlich verzerrt werden zugunsten einer Darstellung
des unerklärlichen, aber fühlbaren Seelischen in oder hinter den Dingen. Hier
wurzeln Matisse, Pechstein und andere. Hier wurzelt auch der Kubismus.
Denn wenn van Gogh, der sich stets nur als Vorläufer einer neuen Kunst be¬
trachtet hat, gewissermaßen auf die Entdeckung des Seelischen ausging, so geht
der Kubismus eben von diesem Seelischen, das jetzt gefunden war, selbst aus.
Bei der Darstellung dieses Seelischen aber, das ja um sichtbar zu werdeu, der
Verbindung mit Materiellen bedarf, verschmäht es der Kühlst, wieder auf die
reale Materie, deren Darstellungsmöglichkeiten ihm erschöpft zu sein scheinen,
zurückzugehen, sondern zieht es vor, dieses Seelische selbständig, sozusagen als
ein schöpferischer Gott neu zu organisieren entweder mit Hilfe wahrgenommener
konstruktiver Einheiten (Le Fauconnier) oder mathematisch bestehender (Braque,
Mezinger) oder selbständig geschaffener Kühen oder Flächen (Picasso, Loger,
Picabia u. a.). Durch die scharfe Abgrenzung dieser Elemente erhält
dann das Bild, das bei Kandinsky auseinanderzufließen droht, seine innere
Geschlossenheit, während die äußere Geschlossenheit Cözannes, der noch im All¬
tagssinne deutlich komponierte, als eine Fälschung der Natur verworfen wird.

Wie man leicht sieht, gerät dies, wenigstens für unser Gefühl, ins Ab¬
strakte und Theoretische, aber noch viel theoretischer arbeitet der Futurismus.
Diese Bewegung stammt ausschließlich aus Italien und ist ursprünglich rein
literarisch. Daraus mag sich auch das Gezwungene in seinen malerischen
Theorien erklären. Zunächst steckt darin eine Reaktion gegen das rein Artistische
des Impressionismus. Die rein formalen Werte genügen nicht mehr, man will
mehr, tiefer Wurzelndes, tiefer Packendes geben. Die Futuristen wollen nicht
mehr den passiven Beschauer, der sich von Farbenschwingungen streicheln läßt
wie oft bei Manet und noch bei Kandinsky, sie wollen den Beschauer mitten in
das Bild hineinversetzen. Auch das ist nichts Neues. Schon C. D. Friedrich,
Schwind und Thoma haben nicht selten in den Vordergrund ihrer Landschaften
eine Figur gesetzt, mit der sich der Beschauer identifizieren sollte, um sich leichter
in die Landschaft einzufühlen. Den Futuristen aber genügt dies distanzierte


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[0626] Der erste deutsche Herbstsalon benennen, sondern nur noch als „Bild" schlechthin oder „Komposition" bezeichnen. Van Gogh endlich hatte gleich von Anfang an weniger Gewicht auf die momentane objektive Erscheinung als auf den momentanen Eindruck gelegt; was ihn aber zur Zeit der Reife am meisten frappierte, war nicht der Eindruck formaler Werte, sondern des Objekts, hinter dem er eine eigene Seele sah. Ein Stuhl von van Gogh, eine Pfeife, ein paar Schuhe sind durchaus wie Individuen mit persönlichem Eigenleben dargestellt; er sah weniger die Dinge selbst als etwas, das hinter den Dingen zu sein schien, die Seele der Dinge. Daß das sehr wohl möglich ist, wissen wir aus den Phantasien der Kinder und in demselben Sinne hat einmal Maupassant gesagt, daß das unheimlichste aller Dinge die menschliche Hand sei. Und hier liegt der Keim zum Expresstonismus. Ihm gilt nicht mehr die äußere Erscheinung des Dings als wesentlich: sie darf willkürlich verzerrt werden zugunsten einer Darstellung des unerklärlichen, aber fühlbaren Seelischen in oder hinter den Dingen. Hier wurzeln Matisse, Pechstein und andere. Hier wurzelt auch der Kubismus. Denn wenn van Gogh, der sich stets nur als Vorläufer einer neuen Kunst be¬ trachtet hat, gewissermaßen auf die Entdeckung des Seelischen ausging, so geht der Kubismus eben von diesem Seelischen, das jetzt gefunden war, selbst aus. Bei der Darstellung dieses Seelischen aber, das ja um sichtbar zu werdeu, der Verbindung mit Materiellen bedarf, verschmäht es der Kühlst, wieder auf die reale Materie, deren Darstellungsmöglichkeiten ihm erschöpft zu sein scheinen, zurückzugehen, sondern zieht es vor, dieses Seelische selbständig, sozusagen als ein schöpferischer Gott neu zu organisieren entweder mit Hilfe wahrgenommener konstruktiver Einheiten (Le Fauconnier) oder mathematisch bestehender (Braque, Mezinger) oder selbständig geschaffener Kühen oder Flächen (Picasso, Loger, Picabia u. a.). Durch die scharfe Abgrenzung dieser Elemente erhält dann das Bild, das bei Kandinsky auseinanderzufließen droht, seine innere Geschlossenheit, während die äußere Geschlossenheit Cözannes, der noch im All¬ tagssinne deutlich komponierte, als eine Fälschung der Natur verworfen wird. Wie man leicht sieht, gerät dies, wenigstens für unser Gefühl, ins Ab¬ strakte und Theoretische, aber noch viel theoretischer arbeitet der Futurismus. Diese Bewegung stammt ausschließlich aus Italien und ist ursprünglich rein literarisch. Daraus mag sich auch das Gezwungene in seinen malerischen Theorien erklären. Zunächst steckt darin eine Reaktion gegen das rein Artistische des Impressionismus. Die rein formalen Werte genügen nicht mehr, man will mehr, tiefer Wurzelndes, tiefer Packendes geben. Die Futuristen wollen nicht mehr den passiven Beschauer, der sich von Farbenschwingungen streicheln läßt wie oft bei Manet und noch bei Kandinsky, sie wollen den Beschauer mitten in das Bild hineinversetzen. Auch das ist nichts Neues. Schon C. D. Friedrich, Schwind und Thoma haben nicht selten in den Vordergrund ihrer Landschaften eine Figur gesetzt, mit der sich der Beschauer identifizieren sollte, um sich leichter in die Landschaft einzufühlen. Den Futuristen aber genügt dies distanzierte

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/626>, abgerufen am 22.07.2024.