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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Wie Lrmina Harem über das große Wasser kam

Während sie bei Tische saßen -- Uussuf die Beine auf einem Stuhl, mit
aufgeknöpftem Hemdkragen und in Hemdärmeln, Simon noch mit seinem Schlapp¬
hut auf dem Kopfe -- und während Mrs. Harem und die vier Kinder ge¬
spannt lauschten, schrien die beiden Brüder laut und aufgeregt durcheinander.
Dieser Briefl Dieser Brief! Sie hatten gleich herausgefunden, daß er über
zwei Monate alt war. Und da die Mutter geschrieben, daß sie am Tage nach
der Absendung des Briefes abreisen wolle, fühlten sie sich heftig beunruhigt.
Sie mußte ja schon längst angekommen sein l Als nun am nächsten Tage David und
Jakob im Automobil angefahren kamen, besprachen sie die Sache und einigten sich,
alle Hotels und Polizeiämter New Jorks zu durchsuchen. Und nun ging es
kreuz und quer per Telephon und Omnibus und Ringbahn durch die Stadt I

So vergingen zehn Tage -- zuerst in resolutem planmäßigen Suchen,
dann in wirrer Hetze -- mit Annoncierungen in allen möglichen Blättern und
Stichproben da und dort in Chinesenlogis und Emigrantenkontoren. Ein
Telegramm an den koptischen Priester in Keile blieb unbeantwortet. Und in
Kummer und Verzweiflung dachten die Brüder schon daran, sich wieder zu
trennen und jeder seine Heimat aufzusuchen, als David auf den Einfall kam,
sich noch zuvor in dem Emigranteninternat auf Ellis Island zu erkundigen!
So ging es denn ohne viel Hoffnung da hinaus.

"Ja!" sagte der Assistent in dem betreffenden Kondor. "Wir haben aller¬
dings verschiedene irregegangene und herrenlose Personen hier. Wir be¬
halten sie sechs Wochen auf eigene Kosten, ehe wir sie retoursenden. .Die
Baracke der Verlassenen' ist da und dort. Sehen Sie selbst nach, Gentlemen!"

Sie spähten durch eine Scheidewand von Holzsprossen in eine Gesellschaft
von vierzehn polnischen Weibern und Kindern.

"Well, MntlemLn?" fragte der Assistent. "016 laä^ not Kerf? Besseres
Glück zum nächsten Schiff. Geben Sie mir Ihre Adresse. So! Danke, Sir.
Ich werde es Sie wissen lassen, wenn jemand nach Ihnen frägt."

Sie gingen traurig wieder heim, zu sehr entmutigt, um die Sache nochmals
zu erörtern. Erst gegen Abend entschlossen sie sich, neuerlich nach Keile zu
telegraphieren, diesmal an das englische Postamt. Und schon am nächsten Tage
hatten sie die Antwort: "Ermina Harem vor zwei Monaten abgereist: Kene-
Amerika." -- Nun gab es nichts mehr zu erhoffen!

Und als weitere zwei Monate um waren, ließ Simon Harem um seinen
und seiner Brüder Paletotärmel einen Trauerflor befestigen.

Aber spät im Winter, etwa drei Monate nach dem Besuch der Brüder,
wurde der Assistent des Emigrantenkontors auf eine schwarzgekleidete alte Dame
aufmerksam, die mitten in der Abteilung für herrenlose und irregegangene
Auswanderer ruhig auf ihrem Bündel saß.

Er näherte sich. Der Doorkeeper nickte auf seine Frage. "Qot lest.
Unabgeholt." Der Assistent trat auf sie zu. Um sie her spürte er die unver¬
kennbare, gewürzte und räucherartige Atmosphäre des Orients.


Wie Lrmina Harem über das große Wasser kam

Während sie bei Tische saßen — Uussuf die Beine auf einem Stuhl, mit
aufgeknöpftem Hemdkragen und in Hemdärmeln, Simon noch mit seinem Schlapp¬
hut auf dem Kopfe — und während Mrs. Harem und die vier Kinder ge¬
spannt lauschten, schrien die beiden Brüder laut und aufgeregt durcheinander.
Dieser Briefl Dieser Brief! Sie hatten gleich herausgefunden, daß er über
zwei Monate alt war. Und da die Mutter geschrieben, daß sie am Tage nach
der Absendung des Briefes abreisen wolle, fühlten sie sich heftig beunruhigt.
Sie mußte ja schon längst angekommen sein l Als nun am nächsten Tage David und
Jakob im Automobil angefahren kamen, besprachen sie die Sache und einigten sich,
alle Hotels und Polizeiämter New Jorks zu durchsuchen. Und nun ging es
kreuz und quer per Telephon und Omnibus und Ringbahn durch die Stadt I

So vergingen zehn Tage — zuerst in resolutem planmäßigen Suchen,
dann in wirrer Hetze — mit Annoncierungen in allen möglichen Blättern und
Stichproben da und dort in Chinesenlogis und Emigrantenkontoren. Ein
Telegramm an den koptischen Priester in Keile blieb unbeantwortet. Und in
Kummer und Verzweiflung dachten die Brüder schon daran, sich wieder zu
trennen und jeder seine Heimat aufzusuchen, als David auf den Einfall kam,
sich noch zuvor in dem Emigranteninternat auf Ellis Island zu erkundigen!
So ging es denn ohne viel Hoffnung da hinaus.

„Ja!" sagte der Assistent in dem betreffenden Kondor. „Wir haben aller¬
dings verschiedene irregegangene und herrenlose Personen hier. Wir be¬
halten sie sechs Wochen auf eigene Kosten, ehe wir sie retoursenden. .Die
Baracke der Verlassenen' ist da und dort. Sehen Sie selbst nach, Gentlemen!"

Sie spähten durch eine Scheidewand von Holzsprossen in eine Gesellschaft
von vierzehn polnischen Weibern und Kindern.

„Well, MntlemLn?" fragte der Assistent. „016 laä^ not Kerf? Besseres
Glück zum nächsten Schiff. Geben Sie mir Ihre Adresse. So! Danke, Sir.
Ich werde es Sie wissen lassen, wenn jemand nach Ihnen frägt."

Sie gingen traurig wieder heim, zu sehr entmutigt, um die Sache nochmals
zu erörtern. Erst gegen Abend entschlossen sie sich, neuerlich nach Keile zu
telegraphieren, diesmal an das englische Postamt. Und schon am nächsten Tage
hatten sie die Antwort: „Ermina Harem vor zwei Monaten abgereist: Kene-
Amerika." — Nun gab es nichts mehr zu erhoffen!

Und als weitere zwei Monate um waren, ließ Simon Harem um seinen
und seiner Brüder Paletotärmel einen Trauerflor befestigen.

Aber spät im Winter, etwa drei Monate nach dem Besuch der Brüder,
wurde der Assistent des Emigrantenkontors auf eine schwarzgekleidete alte Dame
aufmerksam, die mitten in der Abteilung für herrenlose und irregegangene
Auswanderer ruhig auf ihrem Bündel saß.

Er näherte sich. Der Doorkeeper nickte auf seine Frage. „Qot lest.
Unabgeholt." Der Assistent trat auf sie zu. Um sie her spürte er die unver¬
kennbare, gewürzte und räucherartige Atmosphäre des Orients.


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[0622] Wie Lrmina Harem über das große Wasser kam Während sie bei Tische saßen — Uussuf die Beine auf einem Stuhl, mit aufgeknöpftem Hemdkragen und in Hemdärmeln, Simon noch mit seinem Schlapp¬ hut auf dem Kopfe — und während Mrs. Harem und die vier Kinder ge¬ spannt lauschten, schrien die beiden Brüder laut und aufgeregt durcheinander. Dieser Briefl Dieser Brief! Sie hatten gleich herausgefunden, daß er über zwei Monate alt war. Und da die Mutter geschrieben, daß sie am Tage nach der Absendung des Briefes abreisen wolle, fühlten sie sich heftig beunruhigt. Sie mußte ja schon längst angekommen sein l Als nun am nächsten Tage David und Jakob im Automobil angefahren kamen, besprachen sie die Sache und einigten sich, alle Hotels und Polizeiämter New Jorks zu durchsuchen. Und nun ging es kreuz und quer per Telephon und Omnibus und Ringbahn durch die Stadt I So vergingen zehn Tage — zuerst in resolutem planmäßigen Suchen, dann in wirrer Hetze — mit Annoncierungen in allen möglichen Blättern und Stichproben da und dort in Chinesenlogis und Emigrantenkontoren. Ein Telegramm an den koptischen Priester in Keile blieb unbeantwortet. Und in Kummer und Verzweiflung dachten die Brüder schon daran, sich wieder zu trennen und jeder seine Heimat aufzusuchen, als David auf den Einfall kam, sich noch zuvor in dem Emigranteninternat auf Ellis Island zu erkundigen! So ging es denn ohne viel Hoffnung da hinaus. „Ja!" sagte der Assistent in dem betreffenden Kondor. „Wir haben aller¬ dings verschiedene irregegangene und herrenlose Personen hier. Wir be¬ halten sie sechs Wochen auf eigene Kosten, ehe wir sie retoursenden. .Die Baracke der Verlassenen' ist da und dort. Sehen Sie selbst nach, Gentlemen!" Sie spähten durch eine Scheidewand von Holzsprossen in eine Gesellschaft von vierzehn polnischen Weibern und Kindern. „Well, MntlemLn?" fragte der Assistent. „016 laä^ not Kerf? Besseres Glück zum nächsten Schiff. Geben Sie mir Ihre Adresse. So! Danke, Sir. Ich werde es Sie wissen lassen, wenn jemand nach Ihnen frägt." Sie gingen traurig wieder heim, zu sehr entmutigt, um die Sache nochmals zu erörtern. Erst gegen Abend entschlossen sie sich, neuerlich nach Keile zu telegraphieren, diesmal an das englische Postamt. Und schon am nächsten Tage hatten sie die Antwort: „Ermina Harem vor zwei Monaten abgereist: Kene- Amerika." — Nun gab es nichts mehr zu erhoffen! Und als weitere zwei Monate um waren, ließ Simon Harem um seinen und seiner Brüder Paletotärmel einen Trauerflor befestigen. Aber spät im Winter, etwa drei Monate nach dem Besuch der Brüder, wurde der Assistent des Emigrantenkontors auf eine schwarzgekleidete alte Dame aufmerksam, die mitten in der Abteilung für herrenlose und irregegangene Auswanderer ruhig auf ihrem Bündel saß. Er näherte sich. Der Doorkeeper nickte auf seine Frage. „Qot lest. Unabgeholt." Der Assistent trat auf sie zu. Um sie her spürte er die unver¬ kennbare, gewürzte und räucherartige Atmosphäre des Orients.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/622>, abgerufen am 25.08.2024.