Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Russische Polenpolitik

"Zar und Zarin." schreibt Walujew in seinem Tagebuch am 3./15. Juni 1879,
"hinterließen mir einen schweren Eindruck. Der Kaiser steht abgespannt aus
und sprach selbst von nervöser Erregung, die er sich zwinge zu verbergen. In
einer Epoche, wo ihm Kraft nottut, kann man sich augenscheinlich auf ihn nicht
verlassen. . . ." Und von der Kaiserin fügt er hinzu: ". . . es scheint, als spiele
jemand eine ihm fremde Rolle. Sie ist in dem gegebenen Zeitraum mehr
gealtert als er. . . . Man fühlt, daß der Boden wankt, daß dem Gebäude der
Zusammensturz droht, doch die Besucher scheinen davon nichts zu bemerken, --
die Hausherren aber fühlen traurig das Unglück, doch verbergen sie die innere
Besorgnis. . . .*)" Aus den bisher der Öffentlichkeit zugänglichen Berichten über
die "konstitutionellen Versuche" Alexanders des Zweiten läßt sich allein ein
klares Bild von seiner politischen Auffassung nicht gewinnen. In Nußland und
bei den Polen überwiegt die Auffassung, als sei er lediglich durch den Einfluß
Kaiser Wilhelms zu seiner reaktionären Haltung gekommen. Doch ein Beweis
für die Richtigkeit solcher Auffassungen ist mir trotz eifrigen Suchens noch
nirgends zu Gesicht gekommen, und ich halte demgegenüber an der Auffassung
fest: die russischen Einflüsse, die den Zaren nach dem polnischen Auf¬
stande von 1863 immer stärker hinderten, das Reformwerk konsequent fortzu¬
setzen, sind es auch, die ihn hinderten, die Vorschläge von Walujew (1863),
des Großfürsten Konstantin Nikolajewitsch (1866), Schuwalows (1874) und
wiederum Walujews (1879/80) und Loris - Melikows (1880) für den Übergang
zum konstitutionellen System ernsthaft und nachdrücklich zu betreiben. Er hörte
die Vorschläge zwar an, setzte ihnen auch keinen offenen Widerstand entgegen,
aber er lauschte doch nur auf das, was der Festigung der Selbstherrschaft galt,
und dazu gehörte auch die Bewertung der orthodoxen Kirche.




Wie stellte sich nun Alexander der Zweite zu den Polen? Folgte er irgend¬
welchen persönlichen Sympathien? Hatte er bestimmte politische Neigungen und
weit ausschauende Pläne mit den Polen? Stand der Zar tatsächlich, wie
von Pcmslawisten behauptet wird, unter dem Einfluß polnischer Intriganten,
ähnlich wie Alexander der Erste unter dem Czartoryskis stand? Wirkten in
ihm Gedanken, wie sie Laharpe einst seinem Oheim zuflüsterte, daß er sich der
Polen und Deutschen bedienen sollte, um das Russenvolk zu regieren? Solcher
Ausfassung würden die Worte widersprechen, die er im November 1871 an
Baron Lcmgenau, den österreichischen Gesandten am Petersburger Hofe, richtete:
"Sie sehen das Bild meines Onkels (Alexanders des Ersten), der gewiß alles,
was er nur vermochte, für die Polen tat, und wie undankbar waren sie
dennoch I"



') Zitiert in Byloje, Heft 12 von 1906, S, 266.
Russische Polenpolitik

„Zar und Zarin." schreibt Walujew in seinem Tagebuch am 3./15. Juni 1879,
„hinterließen mir einen schweren Eindruck. Der Kaiser steht abgespannt aus
und sprach selbst von nervöser Erregung, die er sich zwinge zu verbergen. In
einer Epoche, wo ihm Kraft nottut, kann man sich augenscheinlich auf ihn nicht
verlassen. . . ." Und von der Kaiserin fügt er hinzu: „. . . es scheint, als spiele
jemand eine ihm fremde Rolle. Sie ist in dem gegebenen Zeitraum mehr
gealtert als er. . . . Man fühlt, daß der Boden wankt, daß dem Gebäude der
Zusammensturz droht, doch die Besucher scheinen davon nichts zu bemerken, —
die Hausherren aber fühlen traurig das Unglück, doch verbergen sie die innere
Besorgnis. . . .*)" Aus den bisher der Öffentlichkeit zugänglichen Berichten über
die „konstitutionellen Versuche" Alexanders des Zweiten läßt sich allein ein
klares Bild von seiner politischen Auffassung nicht gewinnen. In Nußland und
bei den Polen überwiegt die Auffassung, als sei er lediglich durch den Einfluß
Kaiser Wilhelms zu seiner reaktionären Haltung gekommen. Doch ein Beweis
für die Richtigkeit solcher Auffassungen ist mir trotz eifrigen Suchens noch
nirgends zu Gesicht gekommen, und ich halte demgegenüber an der Auffassung
fest: die russischen Einflüsse, die den Zaren nach dem polnischen Auf¬
stande von 1863 immer stärker hinderten, das Reformwerk konsequent fortzu¬
setzen, sind es auch, die ihn hinderten, die Vorschläge von Walujew (1863),
des Großfürsten Konstantin Nikolajewitsch (1866), Schuwalows (1874) und
wiederum Walujews (1879/80) und Loris - Melikows (1880) für den Übergang
zum konstitutionellen System ernsthaft und nachdrücklich zu betreiben. Er hörte
die Vorschläge zwar an, setzte ihnen auch keinen offenen Widerstand entgegen,
aber er lauschte doch nur auf das, was der Festigung der Selbstherrschaft galt,
und dazu gehörte auch die Bewertung der orthodoxen Kirche.




Wie stellte sich nun Alexander der Zweite zu den Polen? Folgte er irgend¬
welchen persönlichen Sympathien? Hatte er bestimmte politische Neigungen und
weit ausschauende Pläne mit den Polen? Stand der Zar tatsächlich, wie
von Pcmslawisten behauptet wird, unter dem Einfluß polnischer Intriganten,
ähnlich wie Alexander der Erste unter dem Czartoryskis stand? Wirkten in
ihm Gedanken, wie sie Laharpe einst seinem Oheim zuflüsterte, daß er sich der
Polen und Deutschen bedienen sollte, um das Russenvolk zu regieren? Solcher
Ausfassung würden die Worte widersprechen, die er im November 1871 an
Baron Lcmgenau, den österreichischen Gesandten am Petersburger Hofe, richtete:
„Sie sehen das Bild meines Onkels (Alexanders des Ersten), der gewiß alles,
was er nur vermochte, für die Polen tat, und wie undankbar waren sie
dennoch I"



') Zitiert in Byloje, Heft 12 von 1906, S, 266.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0558" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/327370"/>
          <fw type="header" place="top"> Russische Polenpolitik</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_2208" prev="#ID_2207"> &#x201E;Zar und Zarin." schreibt Walujew in seinem Tagebuch am 3./15. Juni 1879,<lb/>
&#x201E;hinterließen mir einen schweren Eindruck. Der Kaiser steht abgespannt aus<lb/>
und sprach selbst von nervöser Erregung, die er sich zwinge zu verbergen. In<lb/>
einer Epoche, wo ihm Kraft nottut, kann man sich augenscheinlich auf ihn nicht<lb/>
verlassen. . . ." Und von der Kaiserin fügt er hinzu: &#x201E;. . . es scheint, als spiele<lb/>
jemand eine ihm fremde Rolle. Sie ist in dem gegebenen Zeitraum mehr<lb/>
gealtert als er. . . . Man fühlt, daß der Boden wankt, daß dem Gebäude der<lb/>
Zusammensturz droht, doch die Besucher scheinen davon nichts zu bemerken, &#x2014;<lb/>
die Hausherren aber fühlen traurig das Unglück, doch verbergen sie die innere<lb/>
Besorgnis. . . .*)" Aus den bisher der Öffentlichkeit zugänglichen Berichten über<lb/>
die &#x201E;konstitutionellen Versuche" Alexanders des Zweiten läßt sich allein ein<lb/>
klares Bild von seiner politischen Auffassung nicht gewinnen. In Nußland und<lb/>
bei den Polen überwiegt die Auffassung, als sei er lediglich durch den Einfluß<lb/>
Kaiser Wilhelms zu seiner reaktionären Haltung gekommen. Doch ein Beweis<lb/>
für die Richtigkeit solcher Auffassungen ist mir trotz eifrigen Suchens noch<lb/>
nirgends zu Gesicht gekommen, und ich halte demgegenüber an der Auffassung<lb/>
fest: die russischen Einflüsse, die den Zaren nach dem polnischen Auf¬<lb/>
stande von 1863 immer stärker hinderten, das Reformwerk konsequent fortzu¬<lb/>
setzen, sind es auch, die ihn hinderten, die Vorschläge von Walujew (1863),<lb/>
des Großfürsten Konstantin Nikolajewitsch (1866), Schuwalows (1874) und<lb/>
wiederum Walujews (1879/80) und Loris - Melikows (1880) für den Übergang<lb/>
zum konstitutionellen System ernsthaft und nachdrücklich zu betreiben. Er hörte<lb/>
die Vorschläge zwar an, setzte ihnen auch keinen offenen Widerstand entgegen,<lb/>
aber er lauschte doch nur auf das, was der Festigung der Selbstherrschaft galt,<lb/>
und dazu gehörte auch die Bewertung der orthodoxen Kirche.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <p xml:id="ID_2209"> Wie stellte sich nun Alexander der Zweite zu den Polen? Folgte er irgend¬<lb/>
welchen persönlichen Sympathien? Hatte er bestimmte politische Neigungen und<lb/>
weit ausschauende Pläne mit den Polen? Stand der Zar tatsächlich, wie<lb/>
von Pcmslawisten behauptet wird, unter dem Einfluß polnischer Intriganten,<lb/>
ähnlich wie Alexander der Erste unter dem Czartoryskis stand? Wirkten in<lb/>
ihm Gedanken, wie sie Laharpe einst seinem Oheim zuflüsterte, daß er sich der<lb/>
Polen und Deutschen bedienen sollte, um das Russenvolk zu regieren? Solcher<lb/>
Ausfassung würden die Worte widersprechen, die er im November 1871 an<lb/>
Baron Lcmgenau, den österreichischen Gesandten am Petersburger Hofe, richtete:<lb/>
&#x201E;Sie sehen das Bild meines Onkels (Alexanders des Ersten), der gewiß alles,<lb/>
was er nur vermochte, für die Polen tat, und wie undankbar waren sie<lb/>
dennoch I"</p><lb/>
          <note xml:id="FID_103" place="foot"> ') Zitiert in Byloje, Heft 12 von 1906, S, 266.</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0558] Russische Polenpolitik „Zar und Zarin." schreibt Walujew in seinem Tagebuch am 3./15. Juni 1879, „hinterließen mir einen schweren Eindruck. Der Kaiser steht abgespannt aus und sprach selbst von nervöser Erregung, die er sich zwinge zu verbergen. In einer Epoche, wo ihm Kraft nottut, kann man sich augenscheinlich auf ihn nicht verlassen. . . ." Und von der Kaiserin fügt er hinzu: „. . . es scheint, als spiele jemand eine ihm fremde Rolle. Sie ist in dem gegebenen Zeitraum mehr gealtert als er. . . . Man fühlt, daß der Boden wankt, daß dem Gebäude der Zusammensturz droht, doch die Besucher scheinen davon nichts zu bemerken, — die Hausherren aber fühlen traurig das Unglück, doch verbergen sie die innere Besorgnis. . . .*)" Aus den bisher der Öffentlichkeit zugänglichen Berichten über die „konstitutionellen Versuche" Alexanders des Zweiten läßt sich allein ein klares Bild von seiner politischen Auffassung nicht gewinnen. In Nußland und bei den Polen überwiegt die Auffassung, als sei er lediglich durch den Einfluß Kaiser Wilhelms zu seiner reaktionären Haltung gekommen. Doch ein Beweis für die Richtigkeit solcher Auffassungen ist mir trotz eifrigen Suchens noch nirgends zu Gesicht gekommen, und ich halte demgegenüber an der Auffassung fest: die russischen Einflüsse, die den Zaren nach dem polnischen Auf¬ stande von 1863 immer stärker hinderten, das Reformwerk konsequent fortzu¬ setzen, sind es auch, die ihn hinderten, die Vorschläge von Walujew (1863), des Großfürsten Konstantin Nikolajewitsch (1866), Schuwalows (1874) und wiederum Walujews (1879/80) und Loris - Melikows (1880) für den Übergang zum konstitutionellen System ernsthaft und nachdrücklich zu betreiben. Er hörte die Vorschläge zwar an, setzte ihnen auch keinen offenen Widerstand entgegen, aber er lauschte doch nur auf das, was der Festigung der Selbstherrschaft galt, und dazu gehörte auch die Bewertung der orthodoxen Kirche. Wie stellte sich nun Alexander der Zweite zu den Polen? Folgte er irgend¬ welchen persönlichen Sympathien? Hatte er bestimmte politische Neigungen und weit ausschauende Pläne mit den Polen? Stand der Zar tatsächlich, wie von Pcmslawisten behauptet wird, unter dem Einfluß polnischer Intriganten, ähnlich wie Alexander der Erste unter dem Czartoryskis stand? Wirkten in ihm Gedanken, wie sie Laharpe einst seinem Oheim zuflüsterte, daß er sich der Polen und Deutschen bedienen sollte, um das Russenvolk zu regieren? Solcher Ausfassung würden die Worte widersprechen, die er im November 1871 an Baron Lcmgenau, den österreichischen Gesandten am Petersburger Hofe, richtete: „Sie sehen das Bild meines Onkels (Alexanders des Ersten), der gewiß alles, was er nur vermochte, für die Polen tat, und wie undankbar waren sie dennoch I" ') Zitiert in Byloje, Heft 12 von 1906, S, 266.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/558
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/558>, abgerufen am 03.07.2024.