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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Russische Polenpolitik

öffentlichen Behandlung zu überweisen, ein Zauberer, wo er begangene Fehler
verbessern, Maßnahmen den praktischen Bedürfnissen anpassen sollte. Er
brauste leicht aus"), glaubte aber, in der Aufregung geäußerte Ansichten nicht
öffentlich modifizieren zu dürfen. Solche Auffassungen von seiner Stellung als
Selbstherrscher wurden getragen von einer persönlichen Treue, wie sie die Ge¬
schichte selten zeigt. Sie kommt zum Ausdruck ebenso in seinem Verhältnis zu
seinem Oheim, den? Könige von Preußen, wie zu seinen Beamten und den nicht
ebenbürtigen Freunden seines Hauses. Aus dieser Grundanlage seines Charakters
erklärt sich häufig seine Stellungnahme zu den Folgen seiner eigenen Werke, zu
den notwendigen, im voraus erkennbaren Folgeerscheinungen seiner radikalen
Reformen. Wie er seine Freunde nicht wechselte, so hielt er fest an seinen
Ratgebern, oft genug zum Schaden seiner eigenen Politik. Das Verhalten
Österreichs im Krimkriege hat ihn als eine tiefe Undankbarkeit gegen sein Haus
persönlich verletzt. Die Polen nennt er undankbar, weil sie die ihnen auf¬
genötigten Segnungen des Wielopolskischen Regimes nicht annahmen, obwohl
doch der Marquis nirgends in der Warschauer Gesellschaft namhaften Anhang
hatte; und doch hätte größere Standhaftigkeit bei der Verfolgung der Absichten
wahrscheinlich auch die Polen von 1863 zur Unterwerfung unter den zarischen
Willen und unter ihr eigenes Glück gezwungen I Die sozialen und liberalen
Reformer seines Landes identifiziert Alexander aber ohne Umschweife mit der
internationalen Revolution und bezeichnet sie als gemeine Verbrecher, ohne zu
bedenken, daß es doch Geschwister seines eigenen radikalen Geistes sind, die mit
ihm in der nikolaitischen Epoche aufgewachsen waren. Bei solcher Geistes¬
verfassung fanden jene Stimmen um so leichter Widerhall in ihm, die den
zarischen Absolutismus als etwas russisch-völkisches, als einen untrennbaren
Teil moskowitischer Kultur hinstellten, von der er, der Zar, nicht abgehen dürfe.
Solche mehr gefühlsmäßige Hingabe an das Moskowitertum hat den Zaren in
den Krieg zur Befreiung der Balkanslawen getrieben, hat ihn danach verleitet,
sich jener heiligen Schar anzuvertrauen, die sich anmaßte, ihn vor den Attentaten
der Narodnaja Wolja schützen zu wollen, während doch russische Richter die
Revolutionäre freisprachen und russische Edelleute solchem Freispruch Beifall
klatschten, hat ihn aber auch -- und das ist der springende Punkt -- in Gegensatz
zu den eigenen modernen Staatsideen gebracht und hat die Macht des kirchlichen
Staatsgedankens, den der Minister Tolstoj so nachdrücklich vertrat, neu erstarken
lassen. sekundärer Art sind die rein persönlichen Momente, wenn sie auch die
Wirksamkeit der Reaktion verstärkten. Nach dem Attentatsversuch von 1878 war
Alexander einer schweren, alle Entschlußkraft hemmenden Nervosität unterworfen.



") Die Großfürsten Konstantin und Dmitri Konstantinowitsch zum Senator W. P.
Besobrasow am 8./2V, November 1884: "Der verstorbene Kaiser war schrecklich aufbrausend,
während sich der jetzige (Alexander der Dritte) lange ärgert, brummt und quängelt und
nicht leicht vergißt." Aus dem Tagebuch des Senators W. P. Besobrasow, Byloje, Sep¬
tember 1907, S. 18,
Russische Polenpolitik

öffentlichen Behandlung zu überweisen, ein Zauberer, wo er begangene Fehler
verbessern, Maßnahmen den praktischen Bedürfnissen anpassen sollte. Er
brauste leicht aus"), glaubte aber, in der Aufregung geäußerte Ansichten nicht
öffentlich modifizieren zu dürfen. Solche Auffassungen von seiner Stellung als
Selbstherrscher wurden getragen von einer persönlichen Treue, wie sie die Ge¬
schichte selten zeigt. Sie kommt zum Ausdruck ebenso in seinem Verhältnis zu
seinem Oheim, den? Könige von Preußen, wie zu seinen Beamten und den nicht
ebenbürtigen Freunden seines Hauses. Aus dieser Grundanlage seines Charakters
erklärt sich häufig seine Stellungnahme zu den Folgen seiner eigenen Werke, zu
den notwendigen, im voraus erkennbaren Folgeerscheinungen seiner radikalen
Reformen. Wie er seine Freunde nicht wechselte, so hielt er fest an seinen
Ratgebern, oft genug zum Schaden seiner eigenen Politik. Das Verhalten
Österreichs im Krimkriege hat ihn als eine tiefe Undankbarkeit gegen sein Haus
persönlich verletzt. Die Polen nennt er undankbar, weil sie die ihnen auf¬
genötigten Segnungen des Wielopolskischen Regimes nicht annahmen, obwohl
doch der Marquis nirgends in der Warschauer Gesellschaft namhaften Anhang
hatte; und doch hätte größere Standhaftigkeit bei der Verfolgung der Absichten
wahrscheinlich auch die Polen von 1863 zur Unterwerfung unter den zarischen
Willen und unter ihr eigenes Glück gezwungen I Die sozialen und liberalen
Reformer seines Landes identifiziert Alexander aber ohne Umschweife mit der
internationalen Revolution und bezeichnet sie als gemeine Verbrecher, ohne zu
bedenken, daß es doch Geschwister seines eigenen radikalen Geistes sind, die mit
ihm in der nikolaitischen Epoche aufgewachsen waren. Bei solcher Geistes¬
verfassung fanden jene Stimmen um so leichter Widerhall in ihm, die den
zarischen Absolutismus als etwas russisch-völkisches, als einen untrennbaren
Teil moskowitischer Kultur hinstellten, von der er, der Zar, nicht abgehen dürfe.
Solche mehr gefühlsmäßige Hingabe an das Moskowitertum hat den Zaren in
den Krieg zur Befreiung der Balkanslawen getrieben, hat ihn danach verleitet,
sich jener heiligen Schar anzuvertrauen, die sich anmaßte, ihn vor den Attentaten
der Narodnaja Wolja schützen zu wollen, während doch russische Richter die
Revolutionäre freisprachen und russische Edelleute solchem Freispruch Beifall
klatschten, hat ihn aber auch — und das ist der springende Punkt — in Gegensatz
zu den eigenen modernen Staatsideen gebracht und hat die Macht des kirchlichen
Staatsgedankens, den der Minister Tolstoj so nachdrücklich vertrat, neu erstarken
lassen. sekundärer Art sind die rein persönlichen Momente, wenn sie auch die
Wirksamkeit der Reaktion verstärkten. Nach dem Attentatsversuch von 1878 war
Alexander einer schweren, alle Entschlußkraft hemmenden Nervosität unterworfen.



") Die Großfürsten Konstantin und Dmitri Konstantinowitsch zum Senator W. P.
Besobrasow am 8./2V, November 1884: „Der verstorbene Kaiser war schrecklich aufbrausend,
während sich der jetzige (Alexander der Dritte) lange ärgert, brummt und quängelt und
nicht leicht vergißt." Aus dem Tagebuch des Senators W. P. Besobrasow, Byloje, Sep¬
tember 1907, S. 18,
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/557>, abgerufen am 03.07.2024.