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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Russische Polenpolitik

Für die Gesinnung des Zarbefreiers den Polen gegenüber gewinnen wir
einige Anhaltspunkte aus den Erfahrungen, die er persönlich mit den Polen
gemacht hat, und aus seinem Verhalten in den Fragen der großen Politik. Die
Polen waren es, die ihn durch ihren Aufstand im Jahre 1863 gehindert hatten,
Rußland mit allen den Reformen und deren systematischem Ausbau zu beglücken,
die er ins Auge gefaßt hatte. Ein Pole, Berezowski, war es, der im Jahre
1867 gelegentlich seines Besuches der Weltausstellung zu Paris auf ihn schoß.
Im Jahre 1870/71 waren es wieder Polen, die Frankreich hinderten, geschlossen
gegen den deutschen Feind zu stehen, dessen beispiellose Siege Alexander den
Zweiten tief innerlich beunruhigten. (Bismarck.) Stand doch an der Spitze
der Kommune ein Trüger desselben Namens, der einst den Begründer der
polnischen Legion zierte, Dombrowski!

Alexander hatte aus den erwähnten Vorgängen gelernt, die Polen als
Träger der internationalen Revolution zu betrachten, gegen die er im Innern
die orthodoxe Kirche als Bundesgenossen fand, während er von außen die
beiden deutschen Kaiserstaaten zu Hilfe rief. Unterm ?. Juni 1871 meldete
der deutsche Gesandte am Petersburger Hofe, Prinz Reuß, nach Berlin, "Kaiser
Alexander habe ihm an diesem Tage gesagt, daß er mit Kaiser Wilhelm und
Bismarck die Frage zu besprechen beabsichtige, was zu tun sei, um Sicherheit
vor der Gefahr zu gewinnen, mit der die Sozialisten und namentlich die
Internationalen die europäischen Monarchien bedrohten. Nach seiner Meinung
müßten alle Regierungen Europas unter sich solidarisch sein und sich gegen¬
seitig zur Bekämpfung dieses Feindes unterstützen. Der Kaiser will durch seinen
Justizminister eine Denkschrift ausarbeiten lassen, in der besonders der Nachweis
geführt werden soll, daß die Mitglieder dieser Genossenschaft von Sozialisten
nicht wie politische, sondern wie gemeine Verbrecher zu behandeln seien." Die
Tatsache, daß der Aufruf zur Sozialistenverfolgung von Alexander ausging,
spricht dafür, daß nicht König Wilhelm für die reaktionären Auffassungen
Alexanders verantwortlich zu machen ist. Bismarck hatte den großen Kampf
gegen die Sozialisten viel später aufgenommen als Alexander, wenn er auch
aus Gründen der Sicherheit Deutschlands das Zustandekommen des Dreikmser-
bündnisses eifrig betrieb.

Nun fällt uns auf, daß derselbe Zar, der hier die Mächte zum Kampf
gegen die Internationale und damit gegen die revolutionären Polen auffordert,
gegen die Polen des eignen Landes ein durchaus mildes Regiment vertritt und mit
seinen Maßnahmen bis ans Lebensende immer mild bleibt. Soweit sich persönliche
Eingriffe des Zaren in die Polenfrage bemerkbar machen, z. B. bei der Be-
setzung von Ämtern, tritt größte Rücksichtnahme zutage. Wo Brutalitäten
geschehen, wie in der Behandlung der Umladen, erweist sich der Zar als
unbeteiligt, ja unorientiert. Als es im Jahre 1880 zwischen dem Warschauer
Generalgouvemeur Graf Kotzebue und der Zentralbehörde wegen Zuständigkeit
des Gerichts gegenüber einhundertsiebenunddreißig polnischen Sozialisten zur


Russische Polenpolitik

Für die Gesinnung des Zarbefreiers den Polen gegenüber gewinnen wir
einige Anhaltspunkte aus den Erfahrungen, die er persönlich mit den Polen
gemacht hat, und aus seinem Verhalten in den Fragen der großen Politik. Die
Polen waren es, die ihn durch ihren Aufstand im Jahre 1863 gehindert hatten,
Rußland mit allen den Reformen und deren systematischem Ausbau zu beglücken,
die er ins Auge gefaßt hatte. Ein Pole, Berezowski, war es, der im Jahre
1867 gelegentlich seines Besuches der Weltausstellung zu Paris auf ihn schoß.
Im Jahre 1870/71 waren es wieder Polen, die Frankreich hinderten, geschlossen
gegen den deutschen Feind zu stehen, dessen beispiellose Siege Alexander den
Zweiten tief innerlich beunruhigten. (Bismarck.) Stand doch an der Spitze
der Kommune ein Trüger desselben Namens, der einst den Begründer der
polnischen Legion zierte, Dombrowski!

Alexander hatte aus den erwähnten Vorgängen gelernt, die Polen als
Träger der internationalen Revolution zu betrachten, gegen die er im Innern
die orthodoxe Kirche als Bundesgenossen fand, während er von außen die
beiden deutschen Kaiserstaaten zu Hilfe rief. Unterm ?. Juni 1871 meldete
der deutsche Gesandte am Petersburger Hofe, Prinz Reuß, nach Berlin, „Kaiser
Alexander habe ihm an diesem Tage gesagt, daß er mit Kaiser Wilhelm und
Bismarck die Frage zu besprechen beabsichtige, was zu tun sei, um Sicherheit
vor der Gefahr zu gewinnen, mit der die Sozialisten und namentlich die
Internationalen die europäischen Monarchien bedrohten. Nach seiner Meinung
müßten alle Regierungen Europas unter sich solidarisch sein und sich gegen¬
seitig zur Bekämpfung dieses Feindes unterstützen. Der Kaiser will durch seinen
Justizminister eine Denkschrift ausarbeiten lassen, in der besonders der Nachweis
geführt werden soll, daß die Mitglieder dieser Genossenschaft von Sozialisten
nicht wie politische, sondern wie gemeine Verbrecher zu behandeln seien." Die
Tatsache, daß der Aufruf zur Sozialistenverfolgung von Alexander ausging,
spricht dafür, daß nicht König Wilhelm für die reaktionären Auffassungen
Alexanders verantwortlich zu machen ist. Bismarck hatte den großen Kampf
gegen die Sozialisten viel später aufgenommen als Alexander, wenn er auch
aus Gründen der Sicherheit Deutschlands das Zustandekommen des Dreikmser-
bündnisses eifrig betrieb.

Nun fällt uns auf, daß derselbe Zar, der hier die Mächte zum Kampf
gegen die Internationale und damit gegen die revolutionären Polen auffordert,
gegen die Polen des eignen Landes ein durchaus mildes Regiment vertritt und mit
seinen Maßnahmen bis ans Lebensende immer mild bleibt. Soweit sich persönliche
Eingriffe des Zaren in die Polenfrage bemerkbar machen, z. B. bei der Be-
setzung von Ämtern, tritt größte Rücksichtnahme zutage. Wo Brutalitäten
geschehen, wie in der Behandlung der Umladen, erweist sich der Zar als
unbeteiligt, ja unorientiert. Als es im Jahre 1880 zwischen dem Warschauer
Generalgouvemeur Graf Kotzebue und der Zentralbehörde wegen Zuständigkeit
des Gerichts gegenüber einhundertsiebenunddreißig polnischen Sozialisten zur


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[0559] Russische Polenpolitik Für die Gesinnung des Zarbefreiers den Polen gegenüber gewinnen wir einige Anhaltspunkte aus den Erfahrungen, die er persönlich mit den Polen gemacht hat, und aus seinem Verhalten in den Fragen der großen Politik. Die Polen waren es, die ihn durch ihren Aufstand im Jahre 1863 gehindert hatten, Rußland mit allen den Reformen und deren systematischem Ausbau zu beglücken, die er ins Auge gefaßt hatte. Ein Pole, Berezowski, war es, der im Jahre 1867 gelegentlich seines Besuches der Weltausstellung zu Paris auf ihn schoß. Im Jahre 1870/71 waren es wieder Polen, die Frankreich hinderten, geschlossen gegen den deutschen Feind zu stehen, dessen beispiellose Siege Alexander den Zweiten tief innerlich beunruhigten. (Bismarck.) Stand doch an der Spitze der Kommune ein Trüger desselben Namens, der einst den Begründer der polnischen Legion zierte, Dombrowski! Alexander hatte aus den erwähnten Vorgängen gelernt, die Polen als Träger der internationalen Revolution zu betrachten, gegen die er im Innern die orthodoxe Kirche als Bundesgenossen fand, während er von außen die beiden deutschen Kaiserstaaten zu Hilfe rief. Unterm ?. Juni 1871 meldete der deutsche Gesandte am Petersburger Hofe, Prinz Reuß, nach Berlin, „Kaiser Alexander habe ihm an diesem Tage gesagt, daß er mit Kaiser Wilhelm und Bismarck die Frage zu besprechen beabsichtige, was zu tun sei, um Sicherheit vor der Gefahr zu gewinnen, mit der die Sozialisten und namentlich die Internationalen die europäischen Monarchien bedrohten. Nach seiner Meinung müßten alle Regierungen Europas unter sich solidarisch sein und sich gegen¬ seitig zur Bekämpfung dieses Feindes unterstützen. Der Kaiser will durch seinen Justizminister eine Denkschrift ausarbeiten lassen, in der besonders der Nachweis geführt werden soll, daß die Mitglieder dieser Genossenschaft von Sozialisten nicht wie politische, sondern wie gemeine Verbrecher zu behandeln seien." Die Tatsache, daß der Aufruf zur Sozialistenverfolgung von Alexander ausging, spricht dafür, daß nicht König Wilhelm für die reaktionären Auffassungen Alexanders verantwortlich zu machen ist. Bismarck hatte den großen Kampf gegen die Sozialisten viel später aufgenommen als Alexander, wenn er auch aus Gründen der Sicherheit Deutschlands das Zustandekommen des Dreikmser- bündnisses eifrig betrieb. Nun fällt uns auf, daß derselbe Zar, der hier die Mächte zum Kampf gegen die Internationale und damit gegen die revolutionären Polen auffordert, gegen die Polen des eignen Landes ein durchaus mildes Regiment vertritt und mit seinen Maßnahmen bis ans Lebensende immer mild bleibt. Soweit sich persönliche Eingriffe des Zaren in die Polenfrage bemerkbar machen, z. B. bei der Be- setzung von Ämtern, tritt größte Rücksichtnahme zutage. Wo Brutalitäten geschehen, wie in der Behandlung der Umladen, erweist sich der Zar als unbeteiligt, ja unorientiert. Als es im Jahre 1880 zwischen dem Warschauer Generalgouvemeur Graf Kotzebue und der Zentralbehörde wegen Zuständigkeit des Gerichts gegenüber einhundertsiebenunddreißig polnischen Sozialisten zur

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/559>, abgerufen am 03.07.2024.