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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Russische Polenpolitik

Das war zu derselben Zeit nach dem polnischen Aufstande, von der ein
alter Sozialist schreibt: "Der Bürgerkrieg von 1863 in Polen hatte eine
revolutionierende Wirkung auf die russische Gesellschaft. . . Menschen, die
prinzipiell jeder Nation das Recht auf kulturelle Selbstbestimmung zutrauten,
verloren sich selbst, als der Bürgerkrieg zwischen zwei verwandten Nationen
begann; die Polen zu unterstützen galt ihnen unvereinbar mit den Gefühlen
des Patriotismus, und deshalb traten die meisten von ihnen auf die Seite der
Regierung. Katkow, der den Augenblick vorzüglich nutzte und die russische Fahne
entrollte, gelang es, viele Wankelmültige in den Netzen der Reaktion zu
fangen."

Der Aufstand vernichtete mit einem Schlage und für lange Zeit den Einfluß
der Petersburger liberalen Gruppen auf die Bureaukratie und stempelte die
Wiedervereinigung der Arkaden mit der orthodoxen Kirche ebenso zu einer
nationalen Notwendigkeit wie die Knebelung der Presse. Graf Dimitri Tolstoj
kam zur Macht und damit seine Ansichten über die nationalen Aufgaben der
russisch-orthodoxen Kirche zur Anerkennung. Bis zum Jahre 1873 waren alle
diese reaktionären Einflüsse so stark geworden, daß die Negierung mit einer
erneuten Verfolgung der Sekten, der Kleinrussen, Deutschen, der Selbstverwaltung
und Schulen und damit zusammenhängend des gedruckten Wortes beginnen
konnte. Einzig gestützt auf einige hundert Großgrundbesitzer nahm die orthodoxe
Bureaukratie den Kampf gegen sämtliche Untertanen des Selbstherrschers auf.

Immerhin war man klug genug, zu verstehen, daß man die beiden nächst
dem Russentum selbst für das russische Staatsganze wichtigsten Nationalitäten,
Deutsche und Polen, nicht zu gleicher Zeit bekämpfen durfte, ohne das Reich
in noch schwerere, vielleicht gar mit internationalen Krisen verbundene Ver¬
wicklungen zu werfen. Und hierin finden wir den Schlüssel für zwei Erschei¬
nungen: für die öffentliche Zurückweisung der Ssamarinschen Agitation gegen
das Deutschtum und für die Zurückweisung des Panslavismus als einer politischen
Gefahr durch Alexander den Zweiten. Die Deutschen waren immer noch die
Zuverlässigeren neben den Polen, und die internationale Lage ließ es taktisch
richtiger erscheinen, erst mit den Polen aufzuräumen; die endgültige Unter¬
werfung der Deutschen konnte man einer späteren Generation überlassen, wenn
sie durch ihre Tätigkeit als Beamte den Haß des gesamten Russenvolkes auf
sich gezogen haben würden. Der Kampf gegen die Polen im Königreich war
auch im gegebenen Augenblick leichter als gegen die Deutschen, weil er sich
anknüpfen ließ an die Maßnahmen im Westgebiet, in Litauen, Weißrußland,
Wolhvnien und Podolien.

Immerhin mußte man im Zartum vorsichtig auftreten, um nicht auch dort
eine Interessengemeinschaft zwischen den verschiedenen Volkskreisen eintreten zu
lassen, wie sie in den russischen Gouvernements zwischen der studierenden Jugend,
der Arbeiterschaft und den gebildeten Kreisen in Stadt und Land immer deutlicher
zutage trat.


Russische Polenpolitik

Das war zu derselben Zeit nach dem polnischen Aufstande, von der ein
alter Sozialist schreibt: „Der Bürgerkrieg von 1863 in Polen hatte eine
revolutionierende Wirkung auf die russische Gesellschaft. . . Menschen, die
prinzipiell jeder Nation das Recht auf kulturelle Selbstbestimmung zutrauten,
verloren sich selbst, als der Bürgerkrieg zwischen zwei verwandten Nationen
begann; die Polen zu unterstützen galt ihnen unvereinbar mit den Gefühlen
des Patriotismus, und deshalb traten die meisten von ihnen auf die Seite der
Regierung. Katkow, der den Augenblick vorzüglich nutzte und die russische Fahne
entrollte, gelang es, viele Wankelmültige in den Netzen der Reaktion zu
fangen."

Der Aufstand vernichtete mit einem Schlage und für lange Zeit den Einfluß
der Petersburger liberalen Gruppen auf die Bureaukratie und stempelte die
Wiedervereinigung der Arkaden mit der orthodoxen Kirche ebenso zu einer
nationalen Notwendigkeit wie die Knebelung der Presse. Graf Dimitri Tolstoj
kam zur Macht und damit seine Ansichten über die nationalen Aufgaben der
russisch-orthodoxen Kirche zur Anerkennung. Bis zum Jahre 1873 waren alle
diese reaktionären Einflüsse so stark geworden, daß die Negierung mit einer
erneuten Verfolgung der Sekten, der Kleinrussen, Deutschen, der Selbstverwaltung
und Schulen und damit zusammenhängend des gedruckten Wortes beginnen
konnte. Einzig gestützt auf einige hundert Großgrundbesitzer nahm die orthodoxe
Bureaukratie den Kampf gegen sämtliche Untertanen des Selbstherrschers auf.

Immerhin war man klug genug, zu verstehen, daß man die beiden nächst
dem Russentum selbst für das russische Staatsganze wichtigsten Nationalitäten,
Deutsche und Polen, nicht zu gleicher Zeit bekämpfen durfte, ohne das Reich
in noch schwerere, vielleicht gar mit internationalen Krisen verbundene Ver¬
wicklungen zu werfen. Und hierin finden wir den Schlüssel für zwei Erschei¬
nungen: für die öffentliche Zurückweisung der Ssamarinschen Agitation gegen
das Deutschtum und für die Zurückweisung des Panslavismus als einer politischen
Gefahr durch Alexander den Zweiten. Die Deutschen waren immer noch die
Zuverlässigeren neben den Polen, und die internationale Lage ließ es taktisch
richtiger erscheinen, erst mit den Polen aufzuräumen; die endgültige Unter¬
werfung der Deutschen konnte man einer späteren Generation überlassen, wenn
sie durch ihre Tätigkeit als Beamte den Haß des gesamten Russenvolkes auf
sich gezogen haben würden. Der Kampf gegen die Polen im Königreich war
auch im gegebenen Augenblick leichter als gegen die Deutschen, weil er sich
anknüpfen ließ an die Maßnahmen im Westgebiet, in Litauen, Weißrußland,
Wolhvnien und Podolien.

Immerhin mußte man im Zartum vorsichtig auftreten, um nicht auch dort
eine Interessengemeinschaft zwischen den verschiedenen Volkskreisen eintreten zu
lassen, wie sie in den russischen Gouvernements zwischen der studierenden Jugend,
der Arbeiterschaft und den gebildeten Kreisen in Stadt und Land immer deutlicher
zutage trat.


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[0554] Russische Polenpolitik Das war zu derselben Zeit nach dem polnischen Aufstande, von der ein alter Sozialist schreibt: „Der Bürgerkrieg von 1863 in Polen hatte eine revolutionierende Wirkung auf die russische Gesellschaft. . . Menschen, die prinzipiell jeder Nation das Recht auf kulturelle Selbstbestimmung zutrauten, verloren sich selbst, als der Bürgerkrieg zwischen zwei verwandten Nationen begann; die Polen zu unterstützen galt ihnen unvereinbar mit den Gefühlen des Patriotismus, und deshalb traten die meisten von ihnen auf die Seite der Regierung. Katkow, der den Augenblick vorzüglich nutzte und die russische Fahne entrollte, gelang es, viele Wankelmültige in den Netzen der Reaktion zu fangen." Der Aufstand vernichtete mit einem Schlage und für lange Zeit den Einfluß der Petersburger liberalen Gruppen auf die Bureaukratie und stempelte die Wiedervereinigung der Arkaden mit der orthodoxen Kirche ebenso zu einer nationalen Notwendigkeit wie die Knebelung der Presse. Graf Dimitri Tolstoj kam zur Macht und damit seine Ansichten über die nationalen Aufgaben der russisch-orthodoxen Kirche zur Anerkennung. Bis zum Jahre 1873 waren alle diese reaktionären Einflüsse so stark geworden, daß die Negierung mit einer erneuten Verfolgung der Sekten, der Kleinrussen, Deutschen, der Selbstverwaltung und Schulen und damit zusammenhängend des gedruckten Wortes beginnen konnte. Einzig gestützt auf einige hundert Großgrundbesitzer nahm die orthodoxe Bureaukratie den Kampf gegen sämtliche Untertanen des Selbstherrschers auf. Immerhin war man klug genug, zu verstehen, daß man die beiden nächst dem Russentum selbst für das russische Staatsganze wichtigsten Nationalitäten, Deutsche und Polen, nicht zu gleicher Zeit bekämpfen durfte, ohne das Reich in noch schwerere, vielleicht gar mit internationalen Krisen verbundene Ver¬ wicklungen zu werfen. Und hierin finden wir den Schlüssel für zwei Erschei¬ nungen: für die öffentliche Zurückweisung der Ssamarinschen Agitation gegen das Deutschtum und für die Zurückweisung des Panslavismus als einer politischen Gefahr durch Alexander den Zweiten. Die Deutschen waren immer noch die Zuverlässigeren neben den Polen, und die internationale Lage ließ es taktisch richtiger erscheinen, erst mit den Polen aufzuräumen; die endgültige Unter¬ werfung der Deutschen konnte man einer späteren Generation überlassen, wenn sie durch ihre Tätigkeit als Beamte den Haß des gesamten Russenvolkes auf sich gezogen haben würden. Der Kampf gegen die Polen im Königreich war auch im gegebenen Augenblick leichter als gegen die Deutschen, weil er sich anknüpfen ließ an die Maßnahmen im Westgebiet, in Litauen, Weißrußland, Wolhvnien und Podolien. Immerhin mußte man im Zartum vorsichtig auftreten, um nicht auch dort eine Interessengemeinschaft zwischen den verschiedenen Volkskreisen eintreten zu lassen, wie sie in den russischen Gouvernements zwischen der studierenden Jugend, der Arbeiterschaft und den gebildeten Kreisen in Stadt und Land immer deutlicher zutage trat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/554>, abgerufen am 29.06.2024.