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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Russische Polcnpolitik

tadle, deren Vorbildung mit den gesteigerten Anforderungen der Reformgesetz¬
gebung nicht gleichen Schritt gehalten hatte, befand sich infolgedessen aus den
angedeuteten wirtschaftlichen Gründen vielfach in Übereinstimmung mit den
Großgrundbesitzern. Da man es aber nicht wagte, auch wohl praktisch nicht
mehr konnte, am Gesetz vom 19. Februar 1861 durch geeignete Ausführungs¬
bestimmungen zu rütteln, suchte man sich zu helfen durch Einschränkung der
politischen Freiheiten und brachte die Masse der Bauern auf Umwegen durch
Polizeivorschriften unter die Oberhoheit des Gutsadels zurück. Die Umwege
aber konnten die nicht bäuerliche Bevölkerung nicht unberührt lassen; sie führten
über alle jene Neubildungen, die seitens der Liberalen in Stadt und Land als
Vorstufe für ein verfassungsmäßiges Dasein in Rußland betrachtet wurden:
über das Sjemstwostatut, das Gerichtsstatut, die Preßfreiheit usw. Infolge¬
dessen wurden durch die Neuerungen nicht die Bauern allein betroffen, sondern,
und zwar am schwersten, auch die gebildeten und liberal denkenden Kreise.

Die Reaktion konnte daneben um so leichter gegen die Freiheiten der
Reformepoche wirken, als ihre Träger mit Recht auf die schweren nationalen
Gefahren hinweisen konnten, denen ein geschwächtes Nußland angesichts der
Veränderungen in West- und Mitteleuropa mehr und mehr ausgesetzt war.

Je länger, um so mehr fanden die sogenannten Konservativen bei den
Leitern der Negierung Anklang -- hauptsächlich, weil sie es'verstanden, nationale
Motive als für ihre Anschauung maßgebend voranzustellen.

Den Ausgangspunkt der nationalen Motive bildet der polnische Aufstand
von 1863/64.

Am 21. April 1865 schrieb der Freund Alexanders des Zweiten Fürst
Wjasemski in sein Tagebuch: "Gestern besuchte ich den in Ungnade gefallenen
Konstitutionalisten Orlow-Dawydow . . . Hier herrscht in den Köpfen eben solch ein
Wirrwarr (eralasck, wörtlich Unsinn) wie in der Witterung .... Aus der
Unterhaltung hörst du allgemeine Unzufriedenheit; doch bei jedem von seinem
besonderen Gesichtspunkt aus, infolgedessen wäre es auch unmöglich, die Ideen
zusammenzuführen; jeder will nicht das, was der andere fordert. Übertreibungen,
Jähzorn, Deklamationen machen jede Unterhaltung für den unerträglich, der
nicht vom allgemeinen Fieber angesteckt ist." Am 23 April ist Wjasemski bei
der Prinzessin von Oldenburg und bei der Großfürstin Katharina Michailowna,
tags darauf beim Fürsten Meschtscherski. Er knüpft an diese Besuche folgende
Bemerkung: ". . . Man hört hier solche plumpen Reden und rohe Ansichten,
daß ich wie Kutusow verfahren möchte, ... die Leute an den Puls fassen . . .
und sie fragen: bist du krank, mein Täubchen? . . . und alles das infolge von
Gehirnentzündung durch einen rasenden Patriotismus. Sie sprechen von
russischer Demut, von russischer Frömmigkeit, und doch verwandelt sich diese
Vaterlandsliebe in Haß gegen alles, was nicht russisch ist, und gegen alles,
was nicht im Einklang steht mit dem Menschenfresser-Katechismus dieser politischen
und engherzigen Sektierer."


Russische Polcnpolitik

tadle, deren Vorbildung mit den gesteigerten Anforderungen der Reformgesetz¬
gebung nicht gleichen Schritt gehalten hatte, befand sich infolgedessen aus den
angedeuteten wirtschaftlichen Gründen vielfach in Übereinstimmung mit den
Großgrundbesitzern. Da man es aber nicht wagte, auch wohl praktisch nicht
mehr konnte, am Gesetz vom 19. Februar 1861 durch geeignete Ausführungs¬
bestimmungen zu rütteln, suchte man sich zu helfen durch Einschränkung der
politischen Freiheiten und brachte die Masse der Bauern auf Umwegen durch
Polizeivorschriften unter die Oberhoheit des Gutsadels zurück. Die Umwege
aber konnten die nicht bäuerliche Bevölkerung nicht unberührt lassen; sie führten
über alle jene Neubildungen, die seitens der Liberalen in Stadt und Land als
Vorstufe für ein verfassungsmäßiges Dasein in Rußland betrachtet wurden:
über das Sjemstwostatut, das Gerichtsstatut, die Preßfreiheit usw. Infolge¬
dessen wurden durch die Neuerungen nicht die Bauern allein betroffen, sondern,
und zwar am schwersten, auch die gebildeten und liberal denkenden Kreise.

Die Reaktion konnte daneben um so leichter gegen die Freiheiten der
Reformepoche wirken, als ihre Träger mit Recht auf die schweren nationalen
Gefahren hinweisen konnten, denen ein geschwächtes Nußland angesichts der
Veränderungen in West- und Mitteleuropa mehr und mehr ausgesetzt war.

Je länger, um so mehr fanden die sogenannten Konservativen bei den
Leitern der Negierung Anklang — hauptsächlich, weil sie es'verstanden, nationale
Motive als für ihre Anschauung maßgebend voranzustellen.

Den Ausgangspunkt der nationalen Motive bildet der polnische Aufstand
von 1863/64.

Am 21. April 1865 schrieb der Freund Alexanders des Zweiten Fürst
Wjasemski in sein Tagebuch: „Gestern besuchte ich den in Ungnade gefallenen
Konstitutionalisten Orlow-Dawydow . . . Hier herrscht in den Köpfen eben solch ein
Wirrwarr (eralasck, wörtlich Unsinn) wie in der Witterung .... Aus der
Unterhaltung hörst du allgemeine Unzufriedenheit; doch bei jedem von seinem
besonderen Gesichtspunkt aus, infolgedessen wäre es auch unmöglich, die Ideen
zusammenzuführen; jeder will nicht das, was der andere fordert. Übertreibungen,
Jähzorn, Deklamationen machen jede Unterhaltung für den unerträglich, der
nicht vom allgemeinen Fieber angesteckt ist." Am 23 April ist Wjasemski bei
der Prinzessin von Oldenburg und bei der Großfürstin Katharina Michailowna,
tags darauf beim Fürsten Meschtscherski. Er knüpft an diese Besuche folgende
Bemerkung: „. . . Man hört hier solche plumpen Reden und rohe Ansichten,
daß ich wie Kutusow verfahren möchte, ... die Leute an den Puls fassen . . .
und sie fragen: bist du krank, mein Täubchen? . . . und alles das infolge von
Gehirnentzündung durch einen rasenden Patriotismus. Sie sprechen von
russischer Demut, von russischer Frömmigkeit, und doch verwandelt sich diese
Vaterlandsliebe in Haß gegen alles, was nicht russisch ist, und gegen alles,
was nicht im Einklang steht mit dem Menschenfresser-Katechismus dieser politischen
und engherzigen Sektierer."


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/553>, abgerufen am 26.06.2024.