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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Russische j?olcnpolitik

Krapotkin, der bekannte Anarchist, bereitete schon im Jahre 1872 einen
Arbeiteraufstand vor, da nach seiner Auffassung ein Krieg zwischen Deutschland
und Rußland unvermeidlich war. Die Sjemstwoleute und Stadtliberalen aber
hofften noch, daß Alexander ihnen eine Volksvertretung zubilligen werde.

Inmitten dieser Stimmungen und Verhältnisse wandte sich der Zar ge¬
legentlich eines Aufenthaltes in Moskau an den Adel und forderte ihn auf,
der Tradition entsprechend, auch in dieser schweren Zeit die Stütze des Thrones
zu sein. Alexander der Zweite nannte sich ein Mitglied des Moskaner Adels
und sagte, der Adel bilde die stärkste Stütze des Thrones, und Gott gebe, daß
diese Stütze niemals wanken möchte. Die russischen Liberalen und ganz besonders
auch der Gelehrtenkreis um den "Wjestnik Jewropy", knüpften daran die weitest-
gehenden Hoffnungen bezüglich Berufung wenigstens des Adels zu gesetzgebender
Arbeit. Die Radikalen und Föderalisten sahen darin nur eine neue Gefahr,
und Dragomanow, der Kleinrusse, hat solchem Bangen beredten Ausdruck verliehen.
Dragomanows Deklamationen nutzten aber ebensowenig wie die Warnungen
Wjasemskis, die Tiefe der russischen Begeisterung nicht zu überschätzen. Der
Zar-Befreier führte die russische Armee auf den Balkan, um die slawischen
Brüder dem Türkenjoch zu entziehen. Man glaubte allgemein, nunmehr würden,
wie nach dem Krimkriege, wieder völkische Gesichtspunkte in den Vordergrund
rücken. Die Sjemstwo organisierten opferfreudig das Verpflegungswesen und
den Samariterdienst. Die Reihen der Narodniki lichteten sich, weil zahlreiche
Studenten als Kriegsfreiwillige zu den Regimentern strömten. Aller innere
Streit hörte auf, weil die Gebildeten aller Stände fest davon überzeugt waren,
daß ein Zar, der unter dem Losungswort der Befreiung eines Brudervolkes in
den Krieg zog, auch die berechtigten Forderungen der eigenen Völker nicht mehr
unberücksichtigt lassen würde.

Der Krieg ging zu Ende -- siegreich nach schweren Opfern, und nachdem
er die Erkenntnis geweckt hatte, wie morsch das russische Verwaltungssystem
war. Die Hoffnungen der Liberalen wurden aber nicht nur nicht erfüllt, sondern
die Reaktion, die aus der Kriegsstimmung heraus neue moralische Kräfte geschöpft
hatte, setzte mit verschärfter Macht ein. Die Narodniki, die vorher auf den
Terror verzichtet hatten, sahen nunmehr im Meuchelmord das einzige Mittel,
um die Selbstherrschaft zu erschüttern. Viele Liberale gaben ihnen recht, und
es gab einen Augenblick, nach dem Nihilistenkongreß zu Lipetzk im Jahre 1879,
in dem die radikale Sjemstwopartei entschlossen war, mit den Terroristen zu
paktieren, sofern diese auf den Kaisermord verzichteten.

Der Zar seinerseits wurde über die Stimmung im Lande falsch unter¬
richtet. Er hoffte, daß die gebildete russische Gesellschaft gegen das nichts¬
würdige Treiben der Sozialrevolutionäre auftreten würde, sobald man sie dem
Abgrund gegenüberstellte, in den die Nihilisten das Reich trieben. Infolge¬
dessen ordnete er vollste Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen gegen die
Revolutionäre an. Die Ansicht erwies sich als falsch. Der russische Richter,


Russische j?olcnpolitik

Krapotkin, der bekannte Anarchist, bereitete schon im Jahre 1872 einen
Arbeiteraufstand vor, da nach seiner Auffassung ein Krieg zwischen Deutschland
und Rußland unvermeidlich war. Die Sjemstwoleute und Stadtliberalen aber
hofften noch, daß Alexander ihnen eine Volksvertretung zubilligen werde.

Inmitten dieser Stimmungen und Verhältnisse wandte sich der Zar ge¬
legentlich eines Aufenthaltes in Moskau an den Adel und forderte ihn auf,
der Tradition entsprechend, auch in dieser schweren Zeit die Stütze des Thrones
zu sein. Alexander der Zweite nannte sich ein Mitglied des Moskaner Adels
und sagte, der Adel bilde die stärkste Stütze des Thrones, und Gott gebe, daß
diese Stütze niemals wanken möchte. Die russischen Liberalen und ganz besonders
auch der Gelehrtenkreis um den „Wjestnik Jewropy", knüpften daran die weitest-
gehenden Hoffnungen bezüglich Berufung wenigstens des Adels zu gesetzgebender
Arbeit. Die Radikalen und Föderalisten sahen darin nur eine neue Gefahr,
und Dragomanow, der Kleinrusse, hat solchem Bangen beredten Ausdruck verliehen.
Dragomanows Deklamationen nutzten aber ebensowenig wie die Warnungen
Wjasemskis, die Tiefe der russischen Begeisterung nicht zu überschätzen. Der
Zar-Befreier führte die russische Armee auf den Balkan, um die slawischen
Brüder dem Türkenjoch zu entziehen. Man glaubte allgemein, nunmehr würden,
wie nach dem Krimkriege, wieder völkische Gesichtspunkte in den Vordergrund
rücken. Die Sjemstwo organisierten opferfreudig das Verpflegungswesen und
den Samariterdienst. Die Reihen der Narodniki lichteten sich, weil zahlreiche
Studenten als Kriegsfreiwillige zu den Regimentern strömten. Aller innere
Streit hörte auf, weil die Gebildeten aller Stände fest davon überzeugt waren,
daß ein Zar, der unter dem Losungswort der Befreiung eines Brudervolkes in
den Krieg zog, auch die berechtigten Forderungen der eigenen Völker nicht mehr
unberücksichtigt lassen würde.

Der Krieg ging zu Ende — siegreich nach schweren Opfern, und nachdem
er die Erkenntnis geweckt hatte, wie morsch das russische Verwaltungssystem
war. Die Hoffnungen der Liberalen wurden aber nicht nur nicht erfüllt, sondern
die Reaktion, die aus der Kriegsstimmung heraus neue moralische Kräfte geschöpft
hatte, setzte mit verschärfter Macht ein. Die Narodniki, die vorher auf den
Terror verzichtet hatten, sahen nunmehr im Meuchelmord das einzige Mittel,
um die Selbstherrschaft zu erschüttern. Viele Liberale gaben ihnen recht, und
es gab einen Augenblick, nach dem Nihilistenkongreß zu Lipetzk im Jahre 1879,
in dem die radikale Sjemstwopartei entschlossen war, mit den Terroristen zu
paktieren, sofern diese auf den Kaisermord verzichteten.

Der Zar seinerseits wurde über die Stimmung im Lande falsch unter¬
richtet. Er hoffte, daß die gebildete russische Gesellschaft gegen das nichts¬
würdige Treiben der Sozialrevolutionäre auftreten würde, sobald man sie dem
Abgrund gegenüberstellte, in den die Nihilisten das Reich trieben. Infolge¬
dessen ordnete er vollste Öffentlichkeit der Gerichtsverhandlungen gegen die
Revolutionäre an. Die Ansicht erwies sich als falsch. Der russische Richter,


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/555>, abgerufen am 01.07.2024.