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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Politik der Rangordnung

für die Nation. Ohne sie wird das, was man im engeren Sinne "Gesell¬
schaft" nennt, nicht entstehen können, und damit fehlt dem nationalen Leben
die Regulative. Ja, es fehlt der feste Punkt, um den die eigentliche Kultur sich
ankristallisteren kann. Es ist sehr möglich, daß die süllose Vielspältigkeit des
heutigen Europas zum großen Teil darin ihre Ursache hat, daß der Adel ent¬
weder beseitigt oder machtlos geworden ist. So empfinden auch die Juden,
soweit sie am nationalen Leben ihres Volkes interessiert sind, es als schweres
Unglück, daß unter ihnen in der Zerstreuung begreiflicherweise es zur Bildung
eines Patriziats nicht hat kommen können.

Die Rangordnung nach der Geburt macht, wo sie besteht, die Oberschicht
aus, und daraus folgt, daß erst, wo diese aufhört, die Rangordnung nach dem
Besitz anfängt. Eine Vermischung beider und ein Vorrang des Besitzes vor
der Geburt kann nur an dem, freilich sehr breiten, Grenzgebiet eintreten. Der
Besitz wird allgemein als etwas Zufälliges und Äußerliches aufgefaßt, und jeder
billig Denkende wird fordern, daß die Steuerquittung keinen Einfluß auf die
Bewertung eines Menschen habe. In der Tat? Kein Zweifel, daß der reich¬
gewordene Fleischermeister damit allein noch nicht aufhört, ein Fleischermeister
zu sein; aber ein Mann, in dem, sagen wir, ein Mommsen steckt, wenn er
arm ist und nicht zum Ersatz über eine eiserne Gesundheit und die zäheste
Willenskraft verfügt, kann bloß durch seine Besitzlosigkeit nicht nur um den
Erfolg, nicht nur um feine Leistung, sondern um den größten Teil seines
Wertes gebracht werden. Schopenhauer war für sich selbst und für die Philo¬
sophie überhaupt völlig überzeugt, daß zum Philosophen pekuniäre Unabhängigkeit
gehöre. Eine Geistesgeschichte in Verbindung mit Wirtschaftslehre ist noch nicht
geschrieben, vielleicht überhaupt nicht zu schreiben, weil die interessantesten
Objekte, nämlich die aus äußerer Not trotz Begabung nichts geleistet haben,
dem Geschichtsschreiber entgehen; gäbe es sie, so würde sie unzweifelhaft be¬
weisen, daß Leistung in der Regel Besitz voraussetzt, wenigstens Freiheit vom
Zwange des Broterwerbs, die ja freilich auch durch geschickte Benutzung der
Geldmittel anderer, wie bei Hebbel, Wagner, Ibsen, gewonnen werden kann.
Anderseits nun der Fleischermeister. Er selbst wird nicht über sich hinaus
gelangen, vielleicht auch nicht sein Sohn. Aber die dritte und vierte Generation
wird schon in einer ganz anderen Atmosphäre leben, sie wird, bloß durch ihren
Besitz und die dadurch gebotenen Möglichkeiten, eine Reihe von Werten er¬
worben, kurz an Wert gewonnen haben. In Wahrheit erkennen wir doch den
Menschen aus wohlhabenden Hause, daß heißt aus einem solchen, in dem der
Besitz seit mehreren Generationen heimisch ist, sofort und bevorzugen, unter
sonst gleichen Umständen, den Verkehr mit ihm. (Unnötig zu sagen, daß hier
nicht gemeint sei, die Leute nach ihrem Gelde, statt nach ihren menschlichen
Qualitäten zu beurteilen.) Mit einem Worte: Geld an sich macht nicht wert¬
voller; aber seine Wirkung ist, wenn auch erst nach einigen Generationen,
kultursteigemd.


Politik der Rangordnung

für die Nation. Ohne sie wird das, was man im engeren Sinne „Gesell¬
schaft" nennt, nicht entstehen können, und damit fehlt dem nationalen Leben
die Regulative. Ja, es fehlt der feste Punkt, um den die eigentliche Kultur sich
ankristallisteren kann. Es ist sehr möglich, daß die süllose Vielspältigkeit des
heutigen Europas zum großen Teil darin ihre Ursache hat, daß der Adel ent¬
weder beseitigt oder machtlos geworden ist. So empfinden auch die Juden,
soweit sie am nationalen Leben ihres Volkes interessiert sind, es als schweres
Unglück, daß unter ihnen in der Zerstreuung begreiflicherweise es zur Bildung
eines Patriziats nicht hat kommen können.

Die Rangordnung nach der Geburt macht, wo sie besteht, die Oberschicht
aus, und daraus folgt, daß erst, wo diese aufhört, die Rangordnung nach dem
Besitz anfängt. Eine Vermischung beider und ein Vorrang des Besitzes vor
der Geburt kann nur an dem, freilich sehr breiten, Grenzgebiet eintreten. Der
Besitz wird allgemein als etwas Zufälliges und Äußerliches aufgefaßt, und jeder
billig Denkende wird fordern, daß die Steuerquittung keinen Einfluß auf die
Bewertung eines Menschen habe. In der Tat? Kein Zweifel, daß der reich¬
gewordene Fleischermeister damit allein noch nicht aufhört, ein Fleischermeister
zu sein; aber ein Mann, in dem, sagen wir, ein Mommsen steckt, wenn er
arm ist und nicht zum Ersatz über eine eiserne Gesundheit und die zäheste
Willenskraft verfügt, kann bloß durch seine Besitzlosigkeit nicht nur um den
Erfolg, nicht nur um feine Leistung, sondern um den größten Teil seines
Wertes gebracht werden. Schopenhauer war für sich selbst und für die Philo¬
sophie überhaupt völlig überzeugt, daß zum Philosophen pekuniäre Unabhängigkeit
gehöre. Eine Geistesgeschichte in Verbindung mit Wirtschaftslehre ist noch nicht
geschrieben, vielleicht überhaupt nicht zu schreiben, weil die interessantesten
Objekte, nämlich die aus äußerer Not trotz Begabung nichts geleistet haben,
dem Geschichtsschreiber entgehen; gäbe es sie, so würde sie unzweifelhaft be¬
weisen, daß Leistung in der Regel Besitz voraussetzt, wenigstens Freiheit vom
Zwange des Broterwerbs, die ja freilich auch durch geschickte Benutzung der
Geldmittel anderer, wie bei Hebbel, Wagner, Ibsen, gewonnen werden kann.
Anderseits nun der Fleischermeister. Er selbst wird nicht über sich hinaus
gelangen, vielleicht auch nicht sein Sohn. Aber die dritte und vierte Generation
wird schon in einer ganz anderen Atmosphäre leben, sie wird, bloß durch ihren
Besitz und die dadurch gebotenen Möglichkeiten, eine Reihe von Werten er¬
worben, kurz an Wert gewonnen haben. In Wahrheit erkennen wir doch den
Menschen aus wohlhabenden Hause, daß heißt aus einem solchen, in dem der
Besitz seit mehreren Generationen heimisch ist, sofort und bevorzugen, unter
sonst gleichen Umständen, den Verkehr mit ihm. (Unnötig zu sagen, daß hier
nicht gemeint sei, die Leute nach ihrem Gelde, statt nach ihren menschlichen
Qualitäten zu beurteilen.) Mit einem Worte: Geld an sich macht nicht wert¬
voller; aber seine Wirkung ist, wenn auch erst nach einigen Generationen,
kultursteigemd.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/412>, abgerufen am 23.07.2024.