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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Erdeulen und Bündnisse

brach, wünschte England ihn zu lokalisieren und den Frieden unter den Gro߬
mächten zu bewahren. Das war leichter dadurch zu erreichen, daß England
selbst sich Deutschland näherte und gemeinsam mit uns eine Annäherung der
beiden Gruppen zuwege brachte, als wenn es, wie in der böhmischen Krisis,
eine einseitige Triple-Entente-Politik getrieben hätte. England und Deutschland
haben, wie die Staatsmänner beiderseits mehr als einmal erklärt haben, in
diesem letzten Jahr in enger Intimität zusammengewirkt, um den Frieden zu
erhalten. Ein solches enges Zusammenarbeiten für ein gemeinsames Ziel erzeugt
notwendig gegenseitiges Vertrauen. Und die Wirkung ist dieselbe, wie wir sie
bei der englisch-französischen Entente beobachtet haben: je mehr das gegen¬
seitige Vertrauen wuchs, sind England und Deutschland auch in anderen Fragen
zusammengegangen. England hat also, wenn es auch an seiner Freundschaft
mit Frankreich und Rußland durchaus festhält, keinen Anlaß, sich in
aktuellen Fragen, an denen es interessiert ist, in erster Linie oder ausschließlich
deren Unterstützung zu sichern. Es kann ebensogut zusehen, ob es nicht die
Unterstützung Deutschlands finden kann; es hat also die Wahl, und kann die
Wahl nach dem Charakter der betreffenden Frage treffen, je nachdem ihm die
Unterstützung Deutschlands oder Frankreichs und Rußlands wertvoller erscheint.

Für Frankreich liegen die Dinge etwas anders. Frankreich gehört selbst¬
verständlich zu den großen europäischen Militär- und Kolonialmächten, aber mehr
und mehr macht sich bei den Franzosen selbst die Empfindung geltend, daß es
seine Stellung nicht mehr ganz allein der eigenen Kraft verdankt, sondern zum guten
Teil seinem Bündnis mit Rußland und seiner Entente mit England. Sie wissen, daß
weder Rußland noch England mit verschränkten Armen zusehen würde, wenn ihnen
die Gefahr drohte, durch einen Krieg aus der Reihe der Großmächte gestrichen zu
werden. Dadurch haben die Bündnis- und Freundschaftsverhältnisse Frankreichs doch
einen etwas einseitigen Charakter erhalten; Frankreich ist mit einer gewissen
Nervosität besorgt, daß die Großmächte erster Ordnung sich über große politische
Fragen untereinander verständigen könnten, ohne daß es selbst in dem Matze,
wie es beansprucht, zu ihrer Entscheidung zugezogen würde. Dieses Gefühl
machte sich recht bemerklich, als sich Deutschland und Rußland allein über die
Bagdadbahnsrage verständigten. Deshalb hat Frankreich den stärksten Wunsch
nach einer geschlossenen, zielbewußter Triple - Entente; und man liest nirgends
soviel von der Triple - Entente als in der französischen Presse. Man könnte
auch wohl annehmen, daß es einer überragenden Persönlichkeit am Quai d'Orsay,
zumal wenn sie durch gleich hervorragende Diplomaten der befreundeten Mächte
unterstützt würde, gelingen könnte, die Triple - Entente zu einer so einheitlichen
und starken Mächtegruppe zu entwickeln, wie es der französischen Presse vor¬
schwebt. Aber tatsächlich ist es nicht der Fall. Man hat der Londoner Bot-
schafterreunion vorgeworfen, daß sie gar zu langsam und schwerfällig arbeitet.
Und doch wurde sie geschaffen, um eine schnellere Verständigung zwischen den sechs
Kabinetten zu ermöglichen; und nach dem Urteil kompetenter Diplomaten ist


Erdeulen und Bündnisse

brach, wünschte England ihn zu lokalisieren und den Frieden unter den Gro߬
mächten zu bewahren. Das war leichter dadurch zu erreichen, daß England
selbst sich Deutschland näherte und gemeinsam mit uns eine Annäherung der
beiden Gruppen zuwege brachte, als wenn es, wie in der böhmischen Krisis,
eine einseitige Triple-Entente-Politik getrieben hätte. England und Deutschland
haben, wie die Staatsmänner beiderseits mehr als einmal erklärt haben, in
diesem letzten Jahr in enger Intimität zusammengewirkt, um den Frieden zu
erhalten. Ein solches enges Zusammenarbeiten für ein gemeinsames Ziel erzeugt
notwendig gegenseitiges Vertrauen. Und die Wirkung ist dieselbe, wie wir sie
bei der englisch-französischen Entente beobachtet haben: je mehr das gegen¬
seitige Vertrauen wuchs, sind England und Deutschland auch in anderen Fragen
zusammengegangen. England hat also, wenn es auch an seiner Freundschaft
mit Frankreich und Rußland durchaus festhält, keinen Anlaß, sich in
aktuellen Fragen, an denen es interessiert ist, in erster Linie oder ausschließlich
deren Unterstützung zu sichern. Es kann ebensogut zusehen, ob es nicht die
Unterstützung Deutschlands finden kann; es hat also die Wahl, und kann die
Wahl nach dem Charakter der betreffenden Frage treffen, je nachdem ihm die
Unterstützung Deutschlands oder Frankreichs und Rußlands wertvoller erscheint.

Für Frankreich liegen die Dinge etwas anders. Frankreich gehört selbst¬
verständlich zu den großen europäischen Militär- und Kolonialmächten, aber mehr
und mehr macht sich bei den Franzosen selbst die Empfindung geltend, daß es
seine Stellung nicht mehr ganz allein der eigenen Kraft verdankt, sondern zum guten
Teil seinem Bündnis mit Rußland und seiner Entente mit England. Sie wissen, daß
weder Rußland noch England mit verschränkten Armen zusehen würde, wenn ihnen
die Gefahr drohte, durch einen Krieg aus der Reihe der Großmächte gestrichen zu
werden. Dadurch haben die Bündnis- und Freundschaftsverhältnisse Frankreichs doch
einen etwas einseitigen Charakter erhalten; Frankreich ist mit einer gewissen
Nervosität besorgt, daß die Großmächte erster Ordnung sich über große politische
Fragen untereinander verständigen könnten, ohne daß es selbst in dem Matze,
wie es beansprucht, zu ihrer Entscheidung zugezogen würde. Dieses Gefühl
machte sich recht bemerklich, als sich Deutschland und Rußland allein über die
Bagdadbahnsrage verständigten. Deshalb hat Frankreich den stärksten Wunsch
nach einer geschlossenen, zielbewußter Triple - Entente; und man liest nirgends
soviel von der Triple - Entente als in der französischen Presse. Man könnte
auch wohl annehmen, daß es einer überragenden Persönlichkeit am Quai d'Orsay,
zumal wenn sie durch gleich hervorragende Diplomaten der befreundeten Mächte
unterstützt würde, gelingen könnte, die Triple - Entente zu einer so einheitlichen
und starken Mächtegruppe zu entwickeln, wie es der französischen Presse vor¬
schwebt. Aber tatsächlich ist es nicht der Fall. Man hat der Londoner Bot-
schafterreunion vorgeworfen, daß sie gar zu langsam und schwerfällig arbeitet.
Und doch wurde sie geschaffen, um eine schnellere Verständigung zwischen den sechs
Kabinetten zu ermöglichen; und nach dem Urteil kompetenter Diplomaten ist


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/402>, abgerufen am 24.08.2024.