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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Lntenten und Bündnisse

Gegenwärtig kann man als positives Ziel der Triple-Entente bezeichnen:
die Sicherung des Besitzstandes der Teilhaber, und besonders die Sicherung
Frankreichs gegen die Möglichkeit eines deutschen Angriffs. Aber wenn bei jeder
einzelnen Frage, z. B. in jeder Phase der Orientpolitik von der Politik der Triple-
Entente die Rede ist, so ist das nicht viel mehr als eine journalistische Fiktion. Sie
wird ganz wesentlich durch die französische Presse aufrecht erhalten, die bei jeder
Gelegenheit verkündet, daß der jeweilige französische Standpunkt die rückhaltlose
Unterstützung der englischen und russischen Diplomatie fände. Das ist in der
jüngsten Zeit in ein paar Fällen geschehen -- wie bei den Demarchen Öster¬
reichs und Österreichs und Italiens in Belgrad und Athen -- wo die englische
Politik notorisch weit davon entfernt war, in den aufgeregten Chor der fran¬
zösischen Journalisten einzustimmen. Wenn die französische Presse immer wieder
von der unerschütterlichen Einheit und den gemeinsamen Plänen und Zielen
der Triple-Entente fabuliert, so ist lediglich der Wunsch der Vater des Gedankens;
und im allgemeinen ist es meist die österreichische Presse, die immer wieder
darauf hineinfällt und an die Existenz einer einigen und willensstarken Politik
der Triple-Entente glaubt, die in Wirklichkeit gar nicht besteht.

Nicht als ob damit die individuellen Bündnis- und Freundschaftsverhält¬
nisse zwischen England, Rußland und Frankreich erloschen wären. Das russisch-
französische Bündnis ist nach wie vor in Kraft. Aber eine Entente besteht auch
zwischen Rußland und Deutschland. Es bleibt ein dauerndes und vielleicht
eines der größten Verdienste Kiderlen-Waechters, daß er unsere Beziehungen zu
Nußland sorgfältig gepflegt hat. Unsere Beziehungen zu Nußland entsprechen
vielleicht nicht dem Ideal, aber das haben sie auch unter Bismarck nur selten
getan; und für diese schlechteste der Welten sind sie augenblicklich jedenfalls gut
genug. Die ernsthafte Schwierigkeit, die wegen der Bagdadbahn bestand, ist
seit Jahr und Tag durch Vertrag behoben, und wir brauchen uns nicht zu
sorgen, daß Rußland sein Bündnis mit Frankreich zu einer aggressiven Politik
gegen uns benutzen wollte. Vielmehr wirkt Nußland, wie schon Fürst Chlodwig
Hohenlohe richtig erkannt hatte, als Bremse auf die französische Politik, und in
neuester Zeit tut England in erheblichem Maße dasselbe.

Was England betrifft, so hält es, wie seine Staatsmänner in den letzten
Jahren wiederholt erklärt haben, an seinen Freundschaften mit Rußland und
Frankreich fest. Das ist begreiflich genug; denn England hat für die Erhaltung
dieser Freundschaften so manches Opfer gebracht, und es wäre von seinem
Standpunkte aus eine schlechte Politik, sie aufzugeben. Aber diese Freundschaften
stellen für England durchaus noch keine Willenseinigung mit Rußland und
Frankreich in den wichtigsten Fragen der europäischen Politik dar. Die Balkan¬
wirren der letzten Jahre haben die Beziehungen der Mächte auf eine neue
Basis gestellt. Gerade die englische Diplomatie hat dieses Ziel verfolgt, und viel¬
leicht am meisten dafür getan, die beiden großen Mächtegruppen in einem
europäischen Konzert zu einigen. Als vor einem Jahr der Balkankrieg aus-


Lntenten und Bündnisse

Gegenwärtig kann man als positives Ziel der Triple-Entente bezeichnen:
die Sicherung des Besitzstandes der Teilhaber, und besonders die Sicherung
Frankreichs gegen die Möglichkeit eines deutschen Angriffs. Aber wenn bei jeder
einzelnen Frage, z. B. in jeder Phase der Orientpolitik von der Politik der Triple-
Entente die Rede ist, so ist das nicht viel mehr als eine journalistische Fiktion. Sie
wird ganz wesentlich durch die französische Presse aufrecht erhalten, die bei jeder
Gelegenheit verkündet, daß der jeweilige französische Standpunkt die rückhaltlose
Unterstützung der englischen und russischen Diplomatie fände. Das ist in der
jüngsten Zeit in ein paar Fällen geschehen — wie bei den Demarchen Öster¬
reichs und Österreichs und Italiens in Belgrad und Athen — wo die englische
Politik notorisch weit davon entfernt war, in den aufgeregten Chor der fran¬
zösischen Journalisten einzustimmen. Wenn die französische Presse immer wieder
von der unerschütterlichen Einheit und den gemeinsamen Plänen und Zielen
der Triple-Entente fabuliert, so ist lediglich der Wunsch der Vater des Gedankens;
und im allgemeinen ist es meist die österreichische Presse, die immer wieder
darauf hineinfällt und an die Existenz einer einigen und willensstarken Politik
der Triple-Entente glaubt, die in Wirklichkeit gar nicht besteht.

Nicht als ob damit die individuellen Bündnis- und Freundschaftsverhält¬
nisse zwischen England, Rußland und Frankreich erloschen wären. Das russisch-
französische Bündnis ist nach wie vor in Kraft. Aber eine Entente besteht auch
zwischen Rußland und Deutschland. Es bleibt ein dauerndes und vielleicht
eines der größten Verdienste Kiderlen-Waechters, daß er unsere Beziehungen zu
Nußland sorgfältig gepflegt hat. Unsere Beziehungen zu Nußland entsprechen
vielleicht nicht dem Ideal, aber das haben sie auch unter Bismarck nur selten
getan; und für diese schlechteste der Welten sind sie augenblicklich jedenfalls gut
genug. Die ernsthafte Schwierigkeit, die wegen der Bagdadbahn bestand, ist
seit Jahr und Tag durch Vertrag behoben, und wir brauchen uns nicht zu
sorgen, daß Rußland sein Bündnis mit Frankreich zu einer aggressiven Politik
gegen uns benutzen wollte. Vielmehr wirkt Nußland, wie schon Fürst Chlodwig
Hohenlohe richtig erkannt hatte, als Bremse auf die französische Politik, und in
neuester Zeit tut England in erheblichem Maße dasselbe.

Was England betrifft, so hält es, wie seine Staatsmänner in den letzten
Jahren wiederholt erklärt haben, an seinen Freundschaften mit Rußland und
Frankreich fest. Das ist begreiflich genug; denn England hat für die Erhaltung
dieser Freundschaften so manches Opfer gebracht, und es wäre von seinem
Standpunkte aus eine schlechte Politik, sie aufzugeben. Aber diese Freundschaften
stellen für England durchaus noch keine Willenseinigung mit Rußland und
Frankreich in den wichtigsten Fragen der europäischen Politik dar. Die Balkan¬
wirren der letzten Jahre haben die Beziehungen der Mächte auf eine neue
Basis gestellt. Gerade die englische Diplomatie hat dieses Ziel verfolgt, und viel¬
leicht am meisten dafür getan, die beiden großen Mächtegruppen in einem
europäischen Konzert zu einigen. Als vor einem Jahr der Balkankrieg aus-


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[0401] Lntenten und Bündnisse Gegenwärtig kann man als positives Ziel der Triple-Entente bezeichnen: die Sicherung des Besitzstandes der Teilhaber, und besonders die Sicherung Frankreichs gegen die Möglichkeit eines deutschen Angriffs. Aber wenn bei jeder einzelnen Frage, z. B. in jeder Phase der Orientpolitik von der Politik der Triple- Entente die Rede ist, so ist das nicht viel mehr als eine journalistische Fiktion. Sie wird ganz wesentlich durch die französische Presse aufrecht erhalten, die bei jeder Gelegenheit verkündet, daß der jeweilige französische Standpunkt die rückhaltlose Unterstützung der englischen und russischen Diplomatie fände. Das ist in der jüngsten Zeit in ein paar Fällen geschehen — wie bei den Demarchen Öster¬ reichs und Österreichs und Italiens in Belgrad und Athen — wo die englische Politik notorisch weit davon entfernt war, in den aufgeregten Chor der fran¬ zösischen Journalisten einzustimmen. Wenn die französische Presse immer wieder von der unerschütterlichen Einheit und den gemeinsamen Plänen und Zielen der Triple-Entente fabuliert, so ist lediglich der Wunsch der Vater des Gedankens; und im allgemeinen ist es meist die österreichische Presse, die immer wieder darauf hineinfällt und an die Existenz einer einigen und willensstarken Politik der Triple-Entente glaubt, die in Wirklichkeit gar nicht besteht. Nicht als ob damit die individuellen Bündnis- und Freundschaftsverhält¬ nisse zwischen England, Rußland und Frankreich erloschen wären. Das russisch- französische Bündnis ist nach wie vor in Kraft. Aber eine Entente besteht auch zwischen Rußland und Deutschland. Es bleibt ein dauerndes und vielleicht eines der größten Verdienste Kiderlen-Waechters, daß er unsere Beziehungen zu Nußland sorgfältig gepflegt hat. Unsere Beziehungen zu Nußland entsprechen vielleicht nicht dem Ideal, aber das haben sie auch unter Bismarck nur selten getan; und für diese schlechteste der Welten sind sie augenblicklich jedenfalls gut genug. Die ernsthafte Schwierigkeit, die wegen der Bagdadbahn bestand, ist seit Jahr und Tag durch Vertrag behoben, und wir brauchen uns nicht zu sorgen, daß Rußland sein Bündnis mit Frankreich zu einer aggressiven Politik gegen uns benutzen wollte. Vielmehr wirkt Nußland, wie schon Fürst Chlodwig Hohenlohe richtig erkannt hatte, als Bremse auf die französische Politik, und in neuester Zeit tut England in erheblichem Maße dasselbe. Was England betrifft, so hält es, wie seine Staatsmänner in den letzten Jahren wiederholt erklärt haben, an seinen Freundschaften mit Rußland und Frankreich fest. Das ist begreiflich genug; denn England hat für die Erhaltung dieser Freundschaften so manches Opfer gebracht, und es wäre von seinem Standpunkte aus eine schlechte Politik, sie aufzugeben. Aber diese Freundschaften stellen für England durchaus noch keine Willenseinigung mit Rußland und Frankreich in den wichtigsten Fragen der europäischen Politik dar. Die Balkan¬ wirren der letzten Jahre haben die Beziehungen der Mächte auf eine neue Basis gestellt. Gerade die englische Diplomatie hat dieses Ziel verfolgt, und viel¬ leicht am meisten dafür getan, die beiden großen Mächtegruppen in einem europäischen Konzert zu einigen. Als vor einem Jahr der Balkankrieg aus-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/401>, abgerufen am 24.08.2024.