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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Lntcnten und Bündnisse

dieser Zweck auch erreicht worden. Wenn die Botschafterreunion nicht bestanden
hätte, so hätte das europäische Konzert noch viel langsamer und schwerfälliger
gearbeitet. Bei dem europäischen Konzert handelte es sich darum, sechs Mächte
unter einen Hut zu bringen. Bei der Triple-Entente sind es drei Mächte. Und
was immer die Möglichkeiten gewesen sein mögen: Tatsache ist jedenfalls, daß
Frankreich, das das größte Interesse daran hatte, nicht imstande war, in den
wichtigsten aktuellen Fragen der europäischen Politik eine so schnelle und wirk¬
same Willenseinigung mit der russischen und englischen Diplomatie zu erzielen,
die dem Phantom der Triple-Entente Blut und Leben eingeflößt haben würde.
Dieselbe französische Presse, die die Triple-Entente beständig im Munde führt,
klagt zwischendurch mit der gleichen Regelmäßigkeit: "qu'on ne pratique pÄ8 la
Inple Latente." Und diese Klage trifft zweifellos den Kern der Dinge.

Ein französischer Staatsmann, Reus Millet, hat einmal gesagt: "Es gibt
in der Diplomatie zwei Methoden; die eine ist eine systematische Politik; hier
sind die Bündnisse der Zweck, und die speziellen politischen Fragen das Mittel.
Dagegen sind bei der Realpolitik die Bündnisse das Mittel, und die nationalen
Fragen der Zweck." Frankreich, meinte Herr Millet -- er sprach im Jahre 1907,
also vor der Liquidation der Marokkofrage --, verfolge eine systematische und
keine Realpolitik; es habe eine Politik positiver Ergebnisse zugunsten einer
Politik glänzender Beziehungen verlassen. Im Gegensatz dazu schildert er die
Politik Englands, die immer die positiven Ziele im Auge behielte und dement¬
sprechend ihre Freundschaften wechselte. Und Herr Millet schloß mit der Mahnung,
einen genauen Unterschied zwischen der Kontinentalpolitik und der Kolonial¬
politik zu machen; die Kontinentalpolitik müsse rein defensiv, die Kolonialpolitik
müsse aktiv sein. In der Kolonialpolitik sollten die Franzosen sich als gute
Geschäftsleute zeigen, die bald mit dem einen, bald mit dem anderen Geschäfte
machten*).

In gewissem Sinne trifft das auch auf unsere deutsche Politik zu. Unsere
Kontinentalpolitik repräsentiert das stabile Element in unseren Beziehungen zu
den anderen Mächten. Hier verfolgen wir, wie Millet sagt, eine systematische
Politik; hier haben wir feste Bündnisse rein defensiven Charakters, die wir
durch eine, ebenfalls rein defensive Entente mit Nußland ergänzt haben. Da¬
gegen müssen auch wir in der Kolonial- und Weltpolitik eine aktive Politik
positiver Ergebnisse verfolgen. Die positiven Ergebnisse bilden das Ziel, und
die internationalen Freundschaften, deren wir dazu bedürfen, müssen das Mittel
bilden. Für unsere weltpolitischen Interessen können und sollen wir den Dreibund
nicht ausnützen; ebensowenig wie wir unsererseits österreichische Balkanpläne
oder das tripolitanische Unternehme,: Italiens aktiv fördern konnten. Hier
bedürfen wir einer Entente außerhalb des Dreibundes, und wie die Dinge



') "I^Sö questions sctuslles as politique edi-snA^e en Zuwpe", (Ze. eel, psris
I9II) Seite 69 ff.
Lntcnten und Bündnisse

dieser Zweck auch erreicht worden. Wenn die Botschafterreunion nicht bestanden
hätte, so hätte das europäische Konzert noch viel langsamer und schwerfälliger
gearbeitet. Bei dem europäischen Konzert handelte es sich darum, sechs Mächte
unter einen Hut zu bringen. Bei der Triple-Entente sind es drei Mächte. Und
was immer die Möglichkeiten gewesen sein mögen: Tatsache ist jedenfalls, daß
Frankreich, das das größte Interesse daran hatte, nicht imstande war, in den
wichtigsten aktuellen Fragen der europäischen Politik eine so schnelle und wirk¬
same Willenseinigung mit der russischen und englischen Diplomatie zu erzielen,
die dem Phantom der Triple-Entente Blut und Leben eingeflößt haben würde.
Dieselbe französische Presse, die die Triple-Entente beständig im Munde führt,
klagt zwischendurch mit der gleichen Regelmäßigkeit: „qu'on ne pratique pÄ8 la
Inple Latente." Und diese Klage trifft zweifellos den Kern der Dinge.

Ein französischer Staatsmann, Reus Millet, hat einmal gesagt: „Es gibt
in der Diplomatie zwei Methoden; die eine ist eine systematische Politik; hier
sind die Bündnisse der Zweck, und die speziellen politischen Fragen das Mittel.
Dagegen sind bei der Realpolitik die Bündnisse das Mittel, und die nationalen
Fragen der Zweck." Frankreich, meinte Herr Millet — er sprach im Jahre 1907,
also vor der Liquidation der Marokkofrage —, verfolge eine systematische und
keine Realpolitik; es habe eine Politik positiver Ergebnisse zugunsten einer
Politik glänzender Beziehungen verlassen. Im Gegensatz dazu schildert er die
Politik Englands, die immer die positiven Ziele im Auge behielte und dement¬
sprechend ihre Freundschaften wechselte. Und Herr Millet schloß mit der Mahnung,
einen genauen Unterschied zwischen der Kontinentalpolitik und der Kolonial¬
politik zu machen; die Kontinentalpolitik müsse rein defensiv, die Kolonialpolitik
müsse aktiv sein. In der Kolonialpolitik sollten die Franzosen sich als gute
Geschäftsleute zeigen, die bald mit dem einen, bald mit dem anderen Geschäfte
machten*).

In gewissem Sinne trifft das auch auf unsere deutsche Politik zu. Unsere
Kontinentalpolitik repräsentiert das stabile Element in unseren Beziehungen zu
den anderen Mächten. Hier verfolgen wir, wie Millet sagt, eine systematische
Politik; hier haben wir feste Bündnisse rein defensiven Charakters, die wir
durch eine, ebenfalls rein defensive Entente mit Nußland ergänzt haben. Da¬
gegen müssen auch wir in der Kolonial- und Weltpolitik eine aktive Politik
positiver Ergebnisse verfolgen. Die positiven Ergebnisse bilden das Ziel, und
die internationalen Freundschaften, deren wir dazu bedürfen, müssen das Mittel
bilden. Für unsere weltpolitischen Interessen können und sollen wir den Dreibund
nicht ausnützen; ebensowenig wie wir unsererseits österreichische Balkanpläne
oder das tripolitanische Unternehme,: Italiens aktiv fördern konnten. Hier
bedürfen wir einer Entente außerhalb des Dreibundes, und wie die Dinge



') „I^Sö questions sctuslles as politique edi-snA^e en Zuwpe", (Ze. eel, psris
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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/403>, abgerufen am 24.08.2024.