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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Erdeulen und Bündnisse

sich in dieser Zeit zwischen beiden Regierungen gebildet hatte, führte weiter
dazu, daß sie auch in verschiedenen anderen Fragen, die ganz außerhalb des
Rahmens des Vertrages von 1904 standen, Hand in Hand gingen. Und das
ist das Bezeichnendste für das Wesen der Lntsnts eorälalö, daß bei dem
wachsenden Vertrauen, das zwischen den leitenden Staatsmännern entstand, das
ursprüngliche Ziel mehrfach erweitert wurde.

Die Entente zwischen England und Rußland hat niemals denselben Grad
von Intimität erreicht. Sie wurde eingeleitet durch die Abmachungen über den
mittleren Osten von 1907. und ist im wesentlichen auf dies Gebiet beschränkt
geblieben, dem jene Abmachungen galten, und zwar besonders auf Persien, da
Afghanistan und Tibet keinen Anlaß zu, wichtigen politischen Entscheidungen
boten. Aber die andauernden Wirren in Persten machten einmal über das
andere eine Verständigung zwischen London und Petersburg notwendig. Und
wenn auch die dauernde und grundlegende Divergenz der englischen und russischen
Endziele zu immer neuen Meinungsverschiedenheiten führen mußte, so ermög¬
lichte doch die Existenz der Entente einen Ausgleich von Fall zu Fall, und ein
Bruch wurde vermieden. Über die Möglichkeit der Dauer der englisch-russischen
Entente herrscht allerdings bei ihren Schöpfern selbst eine gewisse Skepsis. Eine
Erweiterung des Zieles dieser Entente wurde im Grunde nur einmal versucht,
nämlich im Frühjahr und Sommer 1908. als zwischen Downing Street und
der Sängerbrücke über neue Reformpläne für Mazedonien verhandelt wurde.
Diese Pläne wurden durch die jungtürkische Revolution vereitelt. Aber als
darauf die böhmische Krisis ausbrach, fand eine starke Annäherung Englands
an Nußland in der allgemeinen europäischen Politik statt; und da Frankreich
sich dieser Politik anschloß, so konnte man mit Recht von einer Politik der
Triple-Entente sprechen.

Während der böhmischen Krisis zeigte die Triple-Entente den höchsten Grad
von Geschlossenheit, den sie je erreicht hat. In der Marokkokrisis von 1911
hat zwar England Frankreich den Rücken gedeckt, aber Rußland verhielt sich
äußerst passiv. Jedoch selbst in der Krisis von 1908/09 hatte die Geschlossenheit
der Triple-Entente ihre bestimmte Grenzen. Eine aktive Stoßkraft besaß sie
so wenig, daß man einer hochgestellten englischen Persönlichkeit das gut erfundene
bonmot zuschreiben konnte: "Wie soll man denn Krieg führen, wenn der eine
Verbündete keinen Krieg führen kann, und der andere keinen Krieg führen
willt" Vom Kriegführen war allerdings in dieser Zeit nicht ernstlich die Rede-
Gerade während der Krisis bestanden oder bildeten sich engere Beziehungen
zwischen einzelnen Staaten der entgegengesetzten Mächtegruppen, die deutlich
genug erkennen ließen, daß eine wirklich identische Politik im Lager der Triple-
Entente nicht bestand. Zwischen den Höfen von Berlin und Petersburg blieben
die überlieferten freundschaftlichen Beziehungen erhalten; Frankreich machte eifrige
und erfolgreiche Vermittlungsversuche in Wien, und selbst zwischen ihm und Deutsch'
land fand eine Annäherung statt, die zu dem Marokkoabkommen von 1909 führte-


Erdeulen und Bündnisse

sich in dieser Zeit zwischen beiden Regierungen gebildet hatte, führte weiter
dazu, daß sie auch in verschiedenen anderen Fragen, die ganz außerhalb des
Rahmens des Vertrages von 1904 standen, Hand in Hand gingen. Und das
ist das Bezeichnendste für das Wesen der Lntsnts eorälalö, daß bei dem
wachsenden Vertrauen, das zwischen den leitenden Staatsmännern entstand, das
ursprüngliche Ziel mehrfach erweitert wurde.

Die Entente zwischen England und Rußland hat niemals denselben Grad
von Intimität erreicht. Sie wurde eingeleitet durch die Abmachungen über den
mittleren Osten von 1907. und ist im wesentlichen auf dies Gebiet beschränkt
geblieben, dem jene Abmachungen galten, und zwar besonders auf Persien, da
Afghanistan und Tibet keinen Anlaß zu, wichtigen politischen Entscheidungen
boten. Aber die andauernden Wirren in Persten machten einmal über das
andere eine Verständigung zwischen London und Petersburg notwendig. Und
wenn auch die dauernde und grundlegende Divergenz der englischen und russischen
Endziele zu immer neuen Meinungsverschiedenheiten führen mußte, so ermög¬
lichte doch die Existenz der Entente einen Ausgleich von Fall zu Fall, und ein
Bruch wurde vermieden. Über die Möglichkeit der Dauer der englisch-russischen
Entente herrscht allerdings bei ihren Schöpfern selbst eine gewisse Skepsis. Eine
Erweiterung des Zieles dieser Entente wurde im Grunde nur einmal versucht,
nämlich im Frühjahr und Sommer 1908. als zwischen Downing Street und
der Sängerbrücke über neue Reformpläne für Mazedonien verhandelt wurde.
Diese Pläne wurden durch die jungtürkische Revolution vereitelt. Aber als
darauf die böhmische Krisis ausbrach, fand eine starke Annäherung Englands
an Nußland in der allgemeinen europäischen Politik statt; und da Frankreich
sich dieser Politik anschloß, so konnte man mit Recht von einer Politik der
Triple-Entente sprechen.

Während der böhmischen Krisis zeigte die Triple-Entente den höchsten Grad
von Geschlossenheit, den sie je erreicht hat. In der Marokkokrisis von 1911
hat zwar England Frankreich den Rücken gedeckt, aber Rußland verhielt sich
äußerst passiv. Jedoch selbst in der Krisis von 1908/09 hatte die Geschlossenheit
der Triple-Entente ihre bestimmte Grenzen. Eine aktive Stoßkraft besaß sie
so wenig, daß man einer hochgestellten englischen Persönlichkeit das gut erfundene
bonmot zuschreiben konnte: „Wie soll man denn Krieg führen, wenn der eine
Verbündete keinen Krieg führen kann, und der andere keinen Krieg führen
willt" Vom Kriegführen war allerdings in dieser Zeit nicht ernstlich die Rede-
Gerade während der Krisis bestanden oder bildeten sich engere Beziehungen
zwischen einzelnen Staaten der entgegengesetzten Mächtegruppen, die deutlich
genug erkennen ließen, daß eine wirklich identische Politik im Lager der Triple-
Entente nicht bestand. Zwischen den Höfen von Berlin und Petersburg blieben
die überlieferten freundschaftlichen Beziehungen erhalten; Frankreich machte eifrige
und erfolgreiche Vermittlungsversuche in Wien, und selbst zwischen ihm und Deutsch'
land fand eine Annäherung statt, die zu dem Marokkoabkommen von 1909 führte-


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/400>, abgerufen am 24.08.2024.