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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Neue Bücher über U'lnsel

wirklich große Kunstwerke zu schaffen. Bei Wagner hingegen tritt zu der
Differenzierung auch die Jntegrierung der Seele, so oaß er imstande ist, seine
inneren Erlebnisse mit klarem Bewußtsein zusammenzufassen und sicher zu
gestalten. Der zweite Hauptteil des Buches sucht Probleme zu lösen, welche
sich dem Verfasser aus der Betrachtung der einzelnen Werke ergaben. Dabei
betont er mit Recht, daß man auf die von Wagner selbst herrührenden Deutungen
nicht allzuviel Gewicht legen dürfe, da die dichterischen Gestalten auch noch
nach ihrer Objektivierung zum Teil die seelischen Wandlungen ihres Schöpfers
mitgemacht hätten; man solle sich in erster Linie an das halten, was aus den
Werken selbst unmittelbar hervorleuchte. Leider muß ich es mir versagen, auf
die einzelnen Abschnitte, "Lohengrin und Elsa", "Tannhäuser, Tristan und
Amfortas", "Wotan und Siegfried", "Sachs und Stolzing als Dichter",
"Parsifal, der Knabe und Erlöser", einzugehen. Wem es um ein tiefes, vom
Parteistandpunkt und von philosophischen Absurditäten ungetrübtes Verständnis
der Wagnerschen Dichtungen zu tun ist, der versäume nicht, das Buch von
Schrenck zur Hand zu nehmen.

Stärker als in den übrigen Künsten machte sich in der Musik schon seit
Jahrhunderten das Bedürfnis geltend, gewisse Erscheinungen, die man an den
Tonwerken immer wieder beobachtete, in Regeln zusammenzufassen, an welche der
Schüler der Tonsetzkunst, aber nicht selten auch der Meister gebunden sein sollte.
So hauptsächlich entstand die sogenannte Musiktheorie, namentlich durch Harmonie¬
lehre und Kontrapunkt vertreten. Da sie dem Schüler das Handwerkzeug und
die Handwerksgriffe zu übermitteln hat, enthält sie sich mit Recht im Gegensatz
zur Musikästhetik im allgemeinen der Begründung ihrer Forderungen. Wir
werden heute mit Lehrbüchern der Harmonie geradezu überschwemmt. Nicht
um ein solches Lehrbuch, wohl aber darum, den Laien mit den Grundlagen
der Harmonielehre bekannt zu machen, handelt es sich in einem Bändchen der
großen, bei Teubner erscheinenden Sammlung "Ans Natur und Geisteswelt".
(Siegfried Garibaldi Kallenberg, "Musikalische Kompositionsformen".
1. Die elementaren Tonverbindungen als Grundlage der Harmonielehre, Leipzig
1913. Ein zweites Bändchen, das den Kontrapunkt behandeln soll, ist in Aussicht
gestellt.) So werden hier die Intervalle, Dreiklänge, Septimenakkorde usw.
erklärt; aber der Leser wird nicht dazu angeleitet, selbst Akkordverbindungen
herzustellen. Daher stiftet die aus A. Schönbergs "Harmonielehre" übernommene,
in ihrer Einseitigkeit höchst oberflächliche Behauptung, man dürfe keine Regeln
aufstellen, hier weniger Verwirrungen als es bei einem eigentlichen Lehrbuch
der Fall wäre. Kann man sich den Text im allgemeinen gefallen lassen, so
muß dagegen vor den Beispielen geradezu gewarnt werden. Die größeren
unter ihnen (vgl. besonders Seite 47 und 49 und die Harmonisierung des
Chorals "Wie schön leucht uns der Morgenstern") zeigen nicht nur, daß
Kallenberg, wie er im Vorwort selbst hervorhebt, im Lager der Modernsten
steht, sondern beweisen zugleich eine derartige Ungeschicklichkeit und Un-


Neue Bücher über U'lnsel

wirklich große Kunstwerke zu schaffen. Bei Wagner hingegen tritt zu der
Differenzierung auch die Jntegrierung der Seele, so oaß er imstande ist, seine
inneren Erlebnisse mit klarem Bewußtsein zusammenzufassen und sicher zu
gestalten. Der zweite Hauptteil des Buches sucht Probleme zu lösen, welche
sich dem Verfasser aus der Betrachtung der einzelnen Werke ergaben. Dabei
betont er mit Recht, daß man auf die von Wagner selbst herrührenden Deutungen
nicht allzuviel Gewicht legen dürfe, da die dichterischen Gestalten auch noch
nach ihrer Objektivierung zum Teil die seelischen Wandlungen ihres Schöpfers
mitgemacht hätten; man solle sich in erster Linie an das halten, was aus den
Werken selbst unmittelbar hervorleuchte. Leider muß ich es mir versagen, auf
die einzelnen Abschnitte, „Lohengrin und Elsa", „Tannhäuser, Tristan und
Amfortas", „Wotan und Siegfried", „Sachs und Stolzing als Dichter",
„Parsifal, der Knabe und Erlöser", einzugehen. Wem es um ein tiefes, vom
Parteistandpunkt und von philosophischen Absurditäten ungetrübtes Verständnis
der Wagnerschen Dichtungen zu tun ist, der versäume nicht, das Buch von
Schrenck zur Hand zu nehmen.

Stärker als in den übrigen Künsten machte sich in der Musik schon seit
Jahrhunderten das Bedürfnis geltend, gewisse Erscheinungen, die man an den
Tonwerken immer wieder beobachtete, in Regeln zusammenzufassen, an welche der
Schüler der Tonsetzkunst, aber nicht selten auch der Meister gebunden sein sollte.
So hauptsächlich entstand die sogenannte Musiktheorie, namentlich durch Harmonie¬
lehre und Kontrapunkt vertreten. Da sie dem Schüler das Handwerkzeug und
die Handwerksgriffe zu übermitteln hat, enthält sie sich mit Recht im Gegensatz
zur Musikästhetik im allgemeinen der Begründung ihrer Forderungen. Wir
werden heute mit Lehrbüchern der Harmonie geradezu überschwemmt. Nicht
um ein solches Lehrbuch, wohl aber darum, den Laien mit den Grundlagen
der Harmonielehre bekannt zu machen, handelt es sich in einem Bändchen der
großen, bei Teubner erscheinenden Sammlung „Ans Natur und Geisteswelt".
(Siegfried Garibaldi Kallenberg, „Musikalische Kompositionsformen".
1. Die elementaren Tonverbindungen als Grundlage der Harmonielehre, Leipzig
1913. Ein zweites Bändchen, das den Kontrapunkt behandeln soll, ist in Aussicht
gestellt.) So werden hier die Intervalle, Dreiklänge, Septimenakkorde usw.
erklärt; aber der Leser wird nicht dazu angeleitet, selbst Akkordverbindungen
herzustellen. Daher stiftet die aus A. Schönbergs „Harmonielehre" übernommene,
in ihrer Einseitigkeit höchst oberflächliche Behauptung, man dürfe keine Regeln
aufstellen, hier weniger Verwirrungen als es bei einem eigentlichen Lehrbuch
der Fall wäre. Kann man sich den Text im allgemeinen gefallen lassen, so
muß dagegen vor den Beispielen geradezu gewarnt werden. Die größeren
unter ihnen (vgl. besonders Seite 47 und 49 und die Harmonisierung des
Chorals „Wie schön leucht uns der Morgenstern") zeigen nicht nur, daß
Kallenberg, wie er im Vorwort selbst hervorhebt, im Lager der Modernsten
steht, sondern beweisen zugleich eine derartige Ungeschicklichkeit und Un-


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[0339] Neue Bücher über U'lnsel wirklich große Kunstwerke zu schaffen. Bei Wagner hingegen tritt zu der Differenzierung auch die Jntegrierung der Seele, so oaß er imstande ist, seine inneren Erlebnisse mit klarem Bewußtsein zusammenzufassen und sicher zu gestalten. Der zweite Hauptteil des Buches sucht Probleme zu lösen, welche sich dem Verfasser aus der Betrachtung der einzelnen Werke ergaben. Dabei betont er mit Recht, daß man auf die von Wagner selbst herrührenden Deutungen nicht allzuviel Gewicht legen dürfe, da die dichterischen Gestalten auch noch nach ihrer Objektivierung zum Teil die seelischen Wandlungen ihres Schöpfers mitgemacht hätten; man solle sich in erster Linie an das halten, was aus den Werken selbst unmittelbar hervorleuchte. Leider muß ich es mir versagen, auf die einzelnen Abschnitte, „Lohengrin und Elsa", „Tannhäuser, Tristan und Amfortas", „Wotan und Siegfried", „Sachs und Stolzing als Dichter", „Parsifal, der Knabe und Erlöser", einzugehen. Wem es um ein tiefes, vom Parteistandpunkt und von philosophischen Absurditäten ungetrübtes Verständnis der Wagnerschen Dichtungen zu tun ist, der versäume nicht, das Buch von Schrenck zur Hand zu nehmen. Stärker als in den übrigen Künsten machte sich in der Musik schon seit Jahrhunderten das Bedürfnis geltend, gewisse Erscheinungen, die man an den Tonwerken immer wieder beobachtete, in Regeln zusammenzufassen, an welche der Schüler der Tonsetzkunst, aber nicht selten auch der Meister gebunden sein sollte. So hauptsächlich entstand die sogenannte Musiktheorie, namentlich durch Harmonie¬ lehre und Kontrapunkt vertreten. Da sie dem Schüler das Handwerkzeug und die Handwerksgriffe zu übermitteln hat, enthält sie sich mit Recht im Gegensatz zur Musikästhetik im allgemeinen der Begründung ihrer Forderungen. Wir werden heute mit Lehrbüchern der Harmonie geradezu überschwemmt. Nicht um ein solches Lehrbuch, wohl aber darum, den Laien mit den Grundlagen der Harmonielehre bekannt zu machen, handelt es sich in einem Bändchen der großen, bei Teubner erscheinenden Sammlung „Ans Natur und Geisteswelt". (Siegfried Garibaldi Kallenberg, „Musikalische Kompositionsformen". 1. Die elementaren Tonverbindungen als Grundlage der Harmonielehre, Leipzig 1913. Ein zweites Bändchen, das den Kontrapunkt behandeln soll, ist in Aussicht gestellt.) So werden hier die Intervalle, Dreiklänge, Septimenakkorde usw. erklärt; aber der Leser wird nicht dazu angeleitet, selbst Akkordverbindungen herzustellen. Daher stiftet die aus A. Schönbergs „Harmonielehre" übernommene, in ihrer Einseitigkeit höchst oberflächliche Behauptung, man dürfe keine Regeln aufstellen, hier weniger Verwirrungen als es bei einem eigentlichen Lehrbuch der Fall wäre. Kann man sich den Text im allgemeinen gefallen lassen, so muß dagegen vor den Beispielen geradezu gewarnt werden. Die größeren unter ihnen (vgl. besonders Seite 47 und 49 und die Harmonisierung des Chorals „Wie schön leucht uns der Morgenstern") zeigen nicht nur, daß Kallenberg, wie er im Vorwort selbst hervorhebt, im Lager der Modernsten steht, sondern beweisen zugleich eine derartige Ungeschicklichkeit und Un-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/339>, abgerufen am 25.08.2024.