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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Neue Lücher ne'er Musik

Vergangenheit handeln. In gewissem Sinne enthält schon das eben besprochene
Buch angewandte Ästhetik. Noch weit mehr gilt dies von den kurzen Aufsätzen,
welche F. Weingärtner, der berühmte Dirigent, im Laufe der Jahre in ver¬
schiedenen Blättern veröffentlicht und dann in einem Bande vereinigt heraus¬
gegeben hat. ("Akkorde", gesammelte Aufsätze von Felix Weingärtner,
Breitkopf u. Härtel, Leipzig 1912.) Mag auch der Verfasser zuweilen zum Wider¬
spruch herausfordern, beispielsweise mit seiner wohl überschätzenden Bewunderung
für Berlioz. so erkennen wir doch in ihm mit Vergnügen einen ebenso gewandten
wie freimütiger Schriftsteller, der, unabhängig von Mode- und Parteiströmungen,
die Erscheinungen selbständig beurteilt. Auch gegen sich selbst ist er offen und
gerecht. Seine frühere Abneigung gegen I. Brahms (vgl. seine Schrift: "Die
Sinfonie nach Beethoven", erste Auflage) verwandelte sich später in Bewunderung,
und so verteidigt er jetzt den Meister gegen den von den sogenannten Modernen
erhobenen Vorwurf wirkungsloser Instrumentierung: Brahms habe durchaus
diejenige Instrumentierung gesunden, die dem Wesen seiner musikalischen Ge¬
danken angemessen sei. Die modernste Tonkunst erscheint Weingärtner überreizt
und unbefriedigend, nicht erhebend und beglückend; man sollte, so meint er,
unter Verwendung der modernen Ausdrucksmittel zur Klarheit und Gesundheit
Mozarts zurückkehren. Freilich weiß er sehr wohl, daß solche Forderungen
nutzlos bleiben, solange nicht das Genie erscheint, das sie erfüllt. Sehr schöne
Worte findet er, zweifellos der hervorragendste Becthovendirigent der Gegen¬
wart, über die sechste und achte Sinfonie, die nach seiner Meinung heute etwas
unterschätzt werden, Übrigens ist das Buch auch reich an interessanten persön¬
lichen Mitteilungen (Begegnung mit einer Zeitgenossin Beethovens, Erinnerungen
an Liszt usw.) und an praktischen Winken (Striche bei Wagner, Solisten in
Orchesterkonzerten, Zur Reform der Partitur usw.).

Ein Stück angewandter Ästhetik, freilich mehr auf dem Felde der Poesie
als auf dem der Musik, bietet uns auch ein vorzügliches Buch, das sich mit
N. Wagner, dem Dichter, beschäftigt. (Erich von Schrenck, "Richard Wagner
als Dichter". C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung. München 1913.) Der erste
Abschnitt, Wagner, der Dichter, worin nacheinander Charakteristerungskunst,
Aufbau, Ideen und Stimmungsgehalt, Sprache behandelt werden, gelangt zu
dem Ergebnis, daß Wagner nicht zu den großen Wortdichtern, wohl aber zu
den großen Sängern gehöre, diesen Ausdruck im alten Sinne verstanden, d. h.
zu den Künstlern, welche poetisch-musikalische Werke von untrennbarer Einheit
schufen. Demnach können seine Dichtungen mir in Verbindung mit ihrer Musik
ihre vollsten und tiefsten Wirkungen entfalten. Der zweite Abschnitt, Wagner,
der Romantiker, zeigt, was ja auch schon von anderen betont worden war,
seine nahe Verwandtschaft mit der romantischen Dichterschule auf, hebt aber
auch die Unterschiede scharf hervor: das Wesen der alten Romantik ist äußerste
Differenzierung der Seele; daher waren die Romantiker der feinsten und kom¬
pliziertesten Empfindungen fähig, während es ihnen fast immer versagt blieb,


Neue Lücher ne'er Musik

Vergangenheit handeln. In gewissem Sinne enthält schon das eben besprochene
Buch angewandte Ästhetik. Noch weit mehr gilt dies von den kurzen Aufsätzen,
welche F. Weingärtner, der berühmte Dirigent, im Laufe der Jahre in ver¬
schiedenen Blättern veröffentlicht und dann in einem Bande vereinigt heraus¬
gegeben hat. („Akkorde", gesammelte Aufsätze von Felix Weingärtner,
Breitkopf u. Härtel, Leipzig 1912.) Mag auch der Verfasser zuweilen zum Wider¬
spruch herausfordern, beispielsweise mit seiner wohl überschätzenden Bewunderung
für Berlioz. so erkennen wir doch in ihm mit Vergnügen einen ebenso gewandten
wie freimütiger Schriftsteller, der, unabhängig von Mode- und Parteiströmungen,
die Erscheinungen selbständig beurteilt. Auch gegen sich selbst ist er offen und
gerecht. Seine frühere Abneigung gegen I. Brahms (vgl. seine Schrift: „Die
Sinfonie nach Beethoven", erste Auflage) verwandelte sich später in Bewunderung,
und so verteidigt er jetzt den Meister gegen den von den sogenannten Modernen
erhobenen Vorwurf wirkungsloser Instrumentierung: Brahms habe durchaus
diejenige Instrumentierung gesunden, die dem Wesen seiner musikalischen Ge¬
danken angemessen sei. Die modernste Tonkunst erscheint Weingärtner überreizt
und unbefriedigend, nicht erhebend und beglückend; man sollte, so meint er,
unter Verwendung der modernen Ausdrucksmittel zur Klarheit und Gesundheit
Mozarts zurückkehren. Freilich weiß er sehr wohl, daß solche Forderungen
nutzlos bleiben, solange nicht das Genie erscheint, das sie erfüllt. Sehr schöne
Worte findet er, zweifellos der hervorragendste Becthovendirigent der Gegen¬
wart, über die sechste und achte Sinfonie, die nach seiner Meinung heute etwas
unterschätzt werden, Übrigens ist das Buch auch reich an interessanten persön¬
lichen Mitteilungen (Begegnung mit einer Zeitgenossin Beethovens, Erinnerungen
an Liszt usw.) und an praktischen Winken (Striche bei Wagner, Solisten in
Orchesterkonzerten, Zur Reform der Partitur usw.).

Ein Stück angewandter Ästhetik, freilich mehr auf dem Felde der Poesie
als auf dem der Musik, bietet uns auch ein vorzügliches Buch, das sich mit
N. Wagner, dem Dichter, beschäftigt. (Erich von Schrenck, „Richard Wagner
als Dichter". C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung. München 1913.) Der erste
Abschnitt, Wagner, der Dichter, worin nacheinander Charakteristerungskunst,
Aufbau, Ideen und Stimmungsgehalt, Sprache behandelt werden, gelangt zu
dem Ergebnis, daß Wagner nicht zu den großen Wortdichtern, wohl aber zu
den großen Sängern gehöre, diesen Ausdruck im alten Sinne verstanden, d. h.
zu den Künstlern, welche poetisch-musikalische Werke von untrennbarer Einheit
schufen. Demnach können seine Dichtungen mir in Verbindung mit ihrer Musik
ihre vollsten und tiefsten Wirkungen entfalten. Der zweite Abschnitt, Wagner,
der Romantiker, zeigt, was ja auch schon von anderen betont worden war,
seine nahe Verwandtschaft mit der romantischen Dichterschule auf, hebt aber
auch die Unterschiede scharf hervor: das Wesen der alten Romantik ist äußerste
Differenzierung der Seele; daher waren die Romantiker der feinsten und kom¬
pliziertesten Empfindungen fähig, während es ihnen fast immer versagt blieb,


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[0338] Neue Lücher ne'er Musik Vergangenheit handeln. In gewissem Sinne enthält schon das eben besprochene Buch angewandte Ästhetik. Noch weit mehr gilt dies von den kurzen Aufsätzen, welche F. Weingärtner, der berühmte Dirigent, im Laufe der Jahre in ver¬ schiedenen Blättern veröffentlicht und dann in einem Bande vereinigt heraus¬ gegeben hat. („Akkorde", gesammelte Aufsätze von Felix Weingärtner, Breitkopf u. Härtel, Leipzig 1912.) Mag auch der Verfasser zuweilen zum Wider¬ spruch herausfordern, beispielsweise mit seiner wohl überschätzenden Bewunderung für Berlioz. so erkennen wir doch in ihm mit Vergnügen einen ebenso gewandten wie freimütiger Schriftsteller, der, unabhängig von Mode- und Parteiströmungen, die Erscheinungen selbständig beurteilt. Auch gegen sich selbst ist er offen und gerecht. Seine frühere Abneigung gegen I. Brahms (vgl. seine Schrift: „Die Sinfonie nach Beethoven", erste Auflage) verwandelte sich später in Bewunderung, und so verteidigt er jetzt den Meister gegen den von den sogenannten Modernen erhobenen Vorwurf wirkungsloser Instrumentierung: Brahms habe durchaus diejenige Instrumentierung gesunden, die dem Wesen seiner musikalischen Ge¬ danken angemessen sei. Die modernste Tonkunst erscheint Weingärtner überreizt und unbefriedigend, nicht erhebend und beglückend; man sollte, so meint er, unter Verwendung der modernen Ausdrucksmittel zur Klarheit und Gesundheit Mozarts zurückkehren. Freilich weiß er sehr wohl, daß solche Forderungen nutzlos bleiben, solange nicht das Genie erscheint, das sie erfüllt. Sehr schöne Worte findet er, zweifellos der hervorragendste Becthovendirigent der Gegen¬ wart, über die sechste und achte Sinfonie, die nach seiner Meinung heute etwas unterschätzt werden, Übrigens ist das Buch auch reich an interessanten persön¬ lichen Mitteilungen (Begegnung mit einer Zeitgenossin Beethovens, Erinnerungen an Liszt usw.) und an praktischen Winken (Striche bei Wagner, Solisten in Orchesterkonzerten, Zur Reform der Partitur usw.). Ein Stück angewandter Ästhetik, freilich mehr auf dem Felde der Poesie als auf dem der Musik, bietet uns auch ein vorzügliches Buch, das sich mit N. Wagner, dem Dichter, beschäftigt. (Erich von Schrenck, „Richard Wagner als Dichter". C. H. Becksche Verlagsbuchhandlung. München 1913.) Der erste Abschnitt, Wagner, der Dichter, worin nacheinander Charakteristerungskunst, Aufbau, Ideen und Stimmungsgehalt, Sprache behandelt werden, gelangt zu dem Ergebnis, daß Wagner nicht zu den großen Wortdichtern, wohl aber zu den großen Sängern gehöre, diesen Ausdruck im alten Sinne verstanden, d. h. zu den Künstlern, welche poetisch-musikalische Werke von untrennbarer Einheit schufen. Demnach können seine Dichtungen mir in Verbindung mit ihrer Musik ihre vollsten und tiefsten Wirkungen entfalten. Der zweite Abschnitt, Wagner, der Romantiker, zeigt, was ja auch schon von anderen betont worden war, seine nahe Verwandtschaft mit der romantischen Dichterschule auf, hebt aber auch die Unterschiede scharf hervor: das Wesen der alten Romantik ist äußerste Differenzierung der Seele; daher waren die Romantiker der feinsten und kom¬ pliziertesten Empfindungen fähig, während es ihnen fast immer versagt blieb,

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/338>, abgerufen am 22.07.2024.