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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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geworden. Man braucht den selbstverständlichen Schimmer dieser Bilder nur
einmal neben die zusammengequälten Homunculi unserer artistischen Bergangen-
heitserneuerer zu halten, um sofort, auch ohne ästhetischen Dogmenkram, die
ganze Breite der Kluft zu fühlen, die den echten Dichter vom gespreizten
Dilettanten scheidet. Den ersten Akt des "Korallenkettlin" zur unmoralischen
Kundgebung zu stempeln, ist genau so sinnlos, wie wenn man solches
Goethes Grctchentragödie antun wollte. Man soll das Wort "Keuschheit"
gewiß nicht unnützlich führen. Aber hier ist wirklich und wahrhaftig
ein im besten Sinne keuscher und nobler Wille Herr eines Gegenstandes
geworden, den banalere Hände unfehlbar in den Schmutz des Alltags und der
Philisterzote gerissen hätten. Wenn irgendeiner auf dieser Welt -- Franz
Dülberg durfte an diesen Gegenstand rühren. Seine reinen Hände, seine lautere
Menschlichkeit, sein erdentrückter, in romantischen Träumen lebender Idealismus
wiesen ihm den Weg. Er allein durfte und konnte ihn gehen. Und man soll
ihn deshalb wahrhaftig nicht schelten.

In seinem dritten und bisher letzten Drama "Cardenio" finden wir den
Dichter auf neuen, phantastisch nachdenklichen Wegen. Der Techniker in ihm ist
straffer, disziplinierter, bewußter geworden, und seine, wenn man so sagen darf,
theatralische Sendung tritt hier zum ersten Male entschieden in den Vorder¬
grund. Wieder geht er mit prachtvollem Schwunge entschlossen und männlich
auf das dramatische Problem los: ein Menschenschicksal zu malen, das die
Gesichtszüge des "halben Helden", des an tragikomischen Hemmungen zer¬
splitternden Ritters de la Mancha trägt. Franz Dülberg ist in der Beziehung
durchaus das vollblütige Kind seiner zaghaften, tatenuufroheu und ratlosem Zeit.
Er liebt die Menschen, die der grelle Kontrast zwischen Wollen und Vollbringen
zerreibt, liebt die romantischen Träumer, die die unbarmherzige Sprache der
Wirklichkeit nicht lernen. Schon der junge Fürst im "König Schrei" weist diese
-- bei ihm freilich ausschließlich tragischen -- Züge auf, die, wenn man so
will, an den vierten Friedrich Wilhelm von Preußen oder an den zweiten
Ludwig von Bayern erinnern. Dagegen zeigt der "Cardenio" das fragliche
Problem viel entschiedener unter dem Gesichtswinkel der gebrochenen Linie, in
der unruhig zitternden Beleuchtung zwiespältigen Erlebens. Cardenio, dem
jungen Träumer, wird die schmerzhaft Geliebte durch rohe Willkür geraubt.
Oder besser gesagt: ein anderer, Stärkerer, ein rüstiger Tatmensch, ist seiner
schamhafter Zaghaftigkeit zuvorgekommen. Wo er anbetete, hat jener genossen.
Olimpia, die den Cardenio zu umarmen glaubte, in"ß zu spät erfahren, daß
nicht er. sondern Graf Lissandro es war, der sich nachts in ihr Schlafzimmer
stahl. Cardenio bricht in der Erkenntnis dessen, was ihm verloren ging, ver¬
zweifelt zusammen und stürzt sich in Räusche, die seinem Leibe wie seiner Seele
gleichmäßig fremd bleiben -- immer in dem dumpf ungeklärten Rachegefühl,
das ein klein wenig an das Wort des gekränkten Jungen aus der Anekdote
erinnert: "Es ist meinem Vater ganz recht, wenn ich mir die Ohren erfriere.


Grenzboten IV 1913 2t
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geworden. Man braucht den selbstverständlichen Schimmer dieser Bilder nur
einmal neben die zusammengequälten Homunculi unserer artistischen Bergangen-
heitserneuerer zu halten, um sofort, auch ohne ästhetischen Dogmenkram, die
ganze Breite der Kluft zu fühlen, die den echten Dichter vom gespreizten
Dilettanten scheidet. Den ersten Akt des „Korallenkettlin" zur unmoralischen
Kundgebung zu stempeln, ist genau so sinnlos, wie wenn man solches
Goethes Grctchentragödie antun wollte. Man soll das Wort „Keuschheit"
gewiß nicht unnützlich führen. Aber hier ist wirklich und wahrhaftig
ein im besten Sinne keuscher und nobler Wille Herr eines Gegenstandes
geworden, den banalere Hände unfehlbar in den Schmutz des Alltags und der
Philisterzote gerissen hätten. Wenn irgendeiner auf dieser Welt — Franz
Dülberg durfte an diesen Gegenstand rühren. Seine reinen Hände, seine lautere
Menschlichkeit, sein erdentrückter, in romantischen Träumen lebender Idealismus
wiesen ihm den Weg. Er allein durfte und konnte ihn gehen. Und man soll
ihn deshalb wahrhaftig nicht schelten.

In seinem dritten und bisher letzten Drama „Cardenio" finden wir den
Dichter auf neuen, phantastisch nachdenklichen Wegen. Der Techniker in ihm ist
straffer, disziplinierter, bewußter geworden, und seine, wenn man so sagen darf,
theatralische Sendung tritt hier zum ersten Male entschieden in den Vorder¬
grund. Wieder geht er mit prachtvollem Schwunge entschlossen und männlich
auf das dramatische Problem los: ein Menschenschicksal zu malen, das die
Gesichtszüge des „halben Helden", des an tragikomischen Hemmungen zer¬
splitternden Ritters de la Mancha trägt. Franz Dülberg ist in der Beziehung
durchaus das vollblütige Kind seiner zaghaften, tatenuufroheu und ratlosem Zeit.
Er liebt die Menschen, die der grelle Kontrast zwischen Wollen und Vollbringen
zerreibt, liebt die romantischen Träumer, die die unbarmherzige Sprache der
Wirklichkeit nicht lernen. Schon der junge Fürst im „König Schrei" weist diese
— bei ihm freilich ausschließlich tragischen — Züge auf, die, wenn man so
will, an den vierten Friedrich Wilhelm von Preußen oder an den zweiten
Ludwig von Bayern erinnern. Dagegen zeigt der „Cardenio" das fragliche
Problem viel entschiedener unter dem Gesichtswinkel der gebrochenen Linie, in
der unruhig zitternden Beleuchtung zwiespältigen Erlebens. Cardenio, dem
jungen Träumer, wird die schmerzhaft Geliebte durch rohe Willkür geraubt.
Oder besser gesagt: ein anderer, Stärkerer, ein rüstiger Tatmensch, ist seiner
schamhafter Zaghaftigkeit zuvorgekommen. Wo er anbetete, hat jener genossen.
Olimpia, die den Cardenio zu umarmen glaubte, in«ß zu spät erfahren, daß
nicht er. sondern Graf Lissandro es war, der sich nachts in ihr Schlafzimmer
stahl. Cardenio bricht in der Erkenntnis dessen, was ihm verloren ging, ver¬
zweifelt zusammen und stürzt sich in Räusche, die seinem Leibe wie seiner Seele
gleichmäßig fremd bleiben — immer in dem dumpf ungeklärten Rachegefühl,
das ein klein wenig an das Wort des gekränkten Jungen aus der Anekdote
erinnert: „Es ist meinem Vater ganz recht, wenn ich mir die Ohren erfriere.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/333>, abgerufen am 22.07.2024.