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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Line dramatische Hoffnung

des Kätchens vom Schließenberg, die in der Angst ihres Herzens und in dem
dumpfen Drange des Blutes zu den geschminkten Mädchen in die verrufene
Gasse flieht, ihr Recht an der Jugend, am Leben, am Glück zu ertrotzen. Sie
mordet den alternden Lüstling, der die sehnsüchtigen Träume ihrer Jungfräu¬
lichkeit in täppisch roher Gier zertreten will. Sie wird in den Kerker geworfen
und soll nach dem Willen eines hohen Stadtrats sterben, noch "ehe sie einer
recht geküßt". Zwischen Wachen und Träumen harrt sie, Jungfrau und Dirne
in eins, aller Schrecknisse ihres Weges. Zwischen Wachen und Träumen gibt
sie sich widerstandslos in die starken Arme des Prinzen Aldewyn, der gekommen
ist, sie zu befreien, sie zum Weibe, zur Königin zu machen. Und zwischen
Wachen und Träumen wählt sie nach kurzem Glücksrausch den Tod durch eigene
Hand -- wohl in dem dumpfen Gefühl, daß etwas unverlöschlich Furchtbares
in ihr Leben getreten, daß etwas in ihr zerbrochen ist, was niemals wieder
heil werden kann.

Das ist, in groben Umrissen, die äußere Handlung der Korallenkettlin-
tragödie. Allerdings darf dabei nicht verschwiegen werden, daß die dramatische
Entwicklung, die Dülberg hier anstrebt, zweifellos einen bedenklichen Knick hat.
Die Linie dieses Mädchenschicksals, die mit prachtvoller Unerschrockenheit und
umwittert von dem keuschen Zauber deutscher Poesie ansteigt, wird schließlich
einer tragischen Lösung zuliebe etwas künstlich verbogen. Das Gesicht des
Kätchens vom Schließenberg, das die erste Hälfte der Tragödie so hold und
so leuchtend wie nur je ein deutscher Mädchenkopf bestrahlt und adelt, erhält
vom dritten Akt an einen leise zur Hysterie und Krampfhaftigkeit hinüber-
qleitenden Zug, der ihm innerlich fremd ist und innerlich fremd bleiben muß.
So kommt in den Gang der Geschehnisse letzten Endes etwas Konstruiertes und
Unlebendiges. Das restlose Aufgehen des Erlebten und Geschauten im Reiche
künstlerischer Gestaltung, das den beiden ersten Akten ihre Farbe, ihren mannhaften
Grundakkord gibt, macht späterhin einer ästhetischen Unsicherheit und einer auf
spitzfindige psychologische Lösungen erpichten Abstraktion Platz. Das tragische
Ende zwingt den Zuhörer nicht recht zum Mitgehen, zum unbedingten Glauben.
Es vcvflattert im Winde, weil es aus einem rechnenden Psychologenhirn und
nicht aus der Intuition eines instinktsicheren Poeten stammt.

Es tut weh, gerade einer mit so wundervoller Rhythmik ansteigenden
Tragödie diese Vorwürfe machen zu müssen. Der erste Teil und ganz besonders
der erste Akt des "Korallenkettlin" gehört unbedingt zu dem Schönsten, was die
deutsche Dramatik in den letzten zehn Jahren hervorgebracht hat. Da werden
die geheimsten Stimmen des mittelalterlichen Deutschlands lebendig. Da ersteht
das beglückende Bild der freien Stadt Nürnberg mit seinen Winkeln und Gäßchen
und Kirchen und Erkern, mit seinen blonden Mädchen und kundigen Rats¬
herren, mit seinen Zünften und Gilden, mit seinem Glanz und mit seinem Laster.
Da strömt schon die prächtig gemeißelte Sprache eine unvergeßliche Leuchtkraft
aus. Da ist alles zur Anschauung, zur Plastik, zu wahrhaft dichterischem Leben


Line dramatische Hoffnung

des Kätchens vom Schließenberg, die in der Angst ihres Herzens und in dem
dumpfen Drange des Blutes zu den geschminkten Mädchen in die verrufene
Gasse flieht, ihr Recht an der Jugend, am Leben, am Glück zu ertrotzen. Sie
mordet den alternden Lüstling, der die sehnsüchtigen Träume ihrer Jungfräu¬
lichkeit in täppisch roher Gier zertreten will. Sie wird in den Kerker geworfen
und soll nach dem Willen eines hohen Stadtrats sterben, noch „ehe sie einer
recht geküßt". Zwischen Wachen und Träumen harrt sie, Jungfrau und Dirne
in eins, aller Schrecknisse ihres Weges. Zwischen Wachen und Träumen gibt
sie sich widerstandslos in die starken Arme des Prinzen Aldewyn, der gekommen
ist, sie zu befreien, sie zum Weibe, zur Königin zu machen. Und zwischen
Wachen und Träumen wählt sie nach kurzem Glücksrausch den Tod durch eigene
Hand — wohl in dem dumpfen Gefühl, daß etwas unverlöschlich Furchtbares
in ihr Leben getreten, daß etwas in ihr zerbrochen ist, was niemals wieder
heil werden kann.

Das ist, in groben Umrissen, die äußere Handlung der Korallenkettlin-
tragödie. Allerdings darf dabei nicht verschwiegen werden, daß die dramatische
Entwicklung, die Dülberg hier anstrebt, zweifellos einen bedenklichen Knick hat.
Die Linie dieses Mädchenschicksals, die mit prachtvoller Unerschrockenheit und
umwittert von dem keuschen Zauber deutscher Poesie ansteigt, wird schließlich
einer tragischen Lösung zuliebe etwas künstlich verbogen. Das Gesicht des
Kätchens vom Schließenberg, das die erste Hälfte der Tragödie so hold und
so leuchtend wie nur je ein deutscher Mädchenkopf bestrahlt und adelt, erhält
vom dritten Akt an einen leise zur Hysterie und Krampfhaftigkeit hinüber-
qleitenden Zug, der ihm innerlich fremd ist und innerlich fremd bleiben muß.
So kommt in den Gang der Geschehnisse letzten Endes etwas Konstruiertes und
Unlebendiges. Das restlose Aufgehen des Erlebten und Geschauten im Reiche
künstlerischer Gestaltung, das den beiden ersten Akten ihre Farbe, ihren mannhaften
Grundakkord gibt, macht späterhin einer ästhetischen Unsicherheit und einer auf
spitzfindige psychologische Lösungen erpichten Abstraktion Platz. Das tragische
Ende zwingt den Zuhörer nicht recht zum Mitgehen, zum unbedingten Glauben.
Es vcvflattert im Winde, weil es aus einem rechnenden Psychologenhirn und
nicht aus der Intuition eines instinktsicheren Poeten stammt.

Es tut weh, gerade einer mit so wundervoller Rhythmik ansteigenden
Tragödie diese Vorwürfe machen zu müssen. Der erste Teil und ganz besonders
der erste Akt des „Korallenkettlin" gehört unbedingt zu dem Schönsten, was die
deutsche Dramatik in den letzten zehn Jahren hervorgebracht hat. Da werden
die geheimsten Stimmen des mittelalterlichen Deutschlands lebendig. Da ersteht
das beglückende Bild der freien Stadt Nürnberg mit seinen Winkeln und Gäßchen
und Kirchen und Erkern, mit seinen blonden Mädchen und kundigen Rats¬
herren, mit seinen Zünften und Gilden, mit seinem Glanz und mit seinem Laster.
Da strömt schon die prächtig gemeißelte Sprache eine unvergeßliche Leuchtkraft
aus. Da ist alles zur Anschauung, zur Plastik, zu wahrhaft dichterischem Leben


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/332>, abgerufen am 24.08.2024.