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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Line dramatische Hoffnung

deutschen Meistern Matsch Grünewald, Heinrich von Kleist und Richard Wagner
dargebracht. Der Hauch ihres Geistes weht lebendig in die Tragödie hinein,
und ganz besonders, so will uns scheinen, flattern aus dem Lorbeerkranze des
Guiskard-Dichters ein paar zerstreute Blätter zu dem Werke des Nachgeborenen
hinüber. Den Titel des Dülbergschen Dramas erläutern, heißt schon: einen
Begriff von der unerhörten Kühnheit des dichterischen Vorwurfs geben.
In einer prachtvollen Vision wird das zertretene, rechtlose, mißhandelte, arme
und hungernde Volk gesehen, wie es in ohnmächtiger Wut die Fäuste wider
die Besitzenden, die Machthaber ballt. Zu einem millionenköpsigen Riesen¬
ungeheuer reckt es sich empor und steht drohend und gespenstisch da wie eine
dunkle Wolkenwand, die sich vor den blauen Himmel schiebt. Und der Druck
und die Dumpfheit und das Elend jahrhundertelanger Knechtschaft löst sich in
einem wahnwitzig gellenden Schrei, der "durch die graue Wölbung steigt und
fließt, der die Mauern zersprengt und weit sich breitet über den Berg, über die
Welt". Er ist der wahre König über Dinge und Menschen, dieser Schrei des
geknechteten Volkes. Und sein Reich ist weit, unendlich weit. "Dringt hinaus
aus der Kirche, erfüllet mit eurem Schrei den Berg, erfüllet die Stadt, erfüllet
das Reich, bis alles, was sich regt auf den bewohnten Inseln, unter dem
blauen Himmelsglase verlange. . ., daß er, der stets verhüllte, die Welt in
seinen Leib zurückschlinge, eine Welt, wo manche auf magerem Lager und vor
schmutzigem Speisenapf stöhnen und ein diamentenHeller Traum zertreten
würde."

Diese kurze Andeutung möge genügen, um eine Vorstellung von dem zu
geben, was hier ein Dichter geschaut und gewollt hat. Es schändet den Dramatiker
Dülberg nicht, wenn man ihm sagt, daß sein Stoff schließlich doch größer
gewesen ist als seine Kraft. Auch ein Heinrich von Kleist ist am Robert
Guiskard zerbrochen. Den "König Schrei" gewollt zu haben, ist mehr
als alle gekörnte Mittelmäßigkeit unserer Durchschnittsdramatiker. Gewiß
steckt in den fünf Akten noch sehr viel Chaotisches. Ungeklärtes, Tastendes und
nicht ganz Ausgereiftes. Gewiß ist der Dichter mit all den jubelnden und
klagenden Stimmen, die in ihm lebendig geworden sind, noch längst nicht fertig
geworden. Aber das ungeberdige Chaos, das sich hier auftut, ist von jener
Art. die eine stolze Zukunft verheißt. Es ist das Chaos, das man nach Nietzsches
Wort im Leibe haben muß, um einen tanzenden Stern zu gebären.

"Korallenkettlin", die zweite Dülbergsche Tragödie, zeigt den Dichter auf
dem Wege zur Reife, zur ruhigeren Objektivität, zur dramatischen Ökonomie.
Während der "König Schrei" im wesentlichen den Eindruck einer ungeheuren,
chaotisch anstürmenden musikalischen Impression hinterläßt, die der banaleren
Lebensbedingungen unseres Alltags-Theaters geradezu spottet, steigt im "Korallen-
kettlin" ein klar umrissenes und mit bunten Farben gesättigtes Bild von erlesener
Schönheit auf. Vor einem Prospekt, der den ganzen zarten, holdtraurigen Duft
des deutschen Mittelalters ausströmt, ersteht in festen Balladenklängen das Schicksal


Line dramatische Hoffnung

deutschen Meistern Matsch Grünewald, Heinrich von Kleist und Richard Wagner
dargebracht. Der Hauch ihres Geistes weht lebendig in die Tragödie hinein,
und ganz besonders, so will uns scheinen, flattern aus dem Lorbeerkranze des
Guiskard-Dichters ein paar zerstreute Blätter zu dem Werke des Nachgeborenen
hinüber. Den Titel des Dülbergschen Dramas erläutern, heißt schon: einen
Begriff von der unerhörten Kühnheit des dichterischen Vorwurfs geben.
In einer prachtvollen Vision wird das zertretene, rechtlose, mißhandelte, arme
und hungernde Volk gesehen, wie es in ohnmächtiger Wut die Fäuste wider
die Besitzenden, die Machthaber ballt. Zu einem millionenköpsigen Riesen¬
ungeheuer reckt es sich empor und steht drohend und gespenstisch da wie eine
dunkle Wolkenwand, die sich vor den blauen Himmel schiebt. Und der Druck
und die Dumpfheit und das Elend jahrhundertelanger Knechtschaft löst sich in
einem wahnwitzig gellenden Schrei, der „durch die graue Wölbung steigt und
fließt, der die Mauern zersprengt und weit sich breitet über den Berg, über die
Welt". Er ist der wahre König über Dinge und Menschen, dieser Schrei des
geknechteten Volkes. Und sein Reich ist weit, unendlich weit. „Dringt hinaus
aus der Kirche, erfüllet mit eurem Schrei den Berg, erfüllet die Stadt, erfüllet
das Reich, bis alles, was sich regt auf den bewohnten Inseln, unter dem
blauen Himmelsglase verlange. . ., daß er, der stets verhüllte, die Welt in
seinen Leib zurückschlinge, eine Welt, wo manche auf magerem Lager und vor
schmutzigem Speisenapf stöhnen und ein diamentenHeller Traum zertreten
würde."

Diese kurze Andeutung möge genügen, um eine Vorstellung von dem zu
geben, was hier ein Dichter geschaut und gewollt hat. Es schändet den Dramatiker
Dülberg nicht, wenn man ihm sagt, daß sein Stoff schließlich doch größer
gewesen ist als seine Kraft. Auch ein Heinrich von Kleist ist am Robert
Guiskard zerbrochen. Den „König Schrei" gewollt zu haben, ist mehr
als alle gekörnte Mittelmäßigkeit unserer Durchschnittsdramatiker. Gewiß
steckt in den fünf Akten noch sehr viel Chaotisches. Ungeklärtes, Tastendes und
nicht ganz Ausgereiftes. Gewiß ist der Dichter mit all den jubelnden und
klagenden Stimmen, die in ihm lebendig geworden sind, noch längst nicht fertig
geworden. Aber das ungeberdige Chaos, das sich hier auftut, ist von jener
Art. die eine stolze Zukunft verheißt. Es ist das Chaos, das man nach Nietzsches
Wort im Leibe haben muß, um einen tanzenden Stern zu gebären.

„Korallenkettlin", die zweite Dülbergsche Tragödie, zeigt den Dichter auf
dem Wege zur Reife, zur ruhigeren Objektivität, zur dramatischen Ökonomie.
Während der „König Schrei" im wesentlichen den Eindruck einer ungeheuren,
chaotisch anstürmenden musikalischen Impression hinterläßt, die der banaleren
Lebensbedingungen unseres Alltags-Theaters geradezu spottet, steigt im „Korallen-
kettlin" ein klar umrissenes und mit bunten Farben gesättigtes Bild von erlesener
Schönheit auf. Vor einem Prospekt, der den ganzen zarten, holdtraurigen Duft
des deutschen Mittelalters ausströmt, ersteht in festen Balladenklängen das Schicksal


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/331>, abgerufen am 24.08.2024.