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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Der alte Orient und seine Beziehungen zum Westen

gefunden haben*). Da sie den Herrscher und dessen Regierungsjahr nennen,
aus dem sie herrühren, so wird ein fester Punkt gewonnen, und den reichlich
vorhandenen Dynastien- und Königslisten auf Tontafeln, die erst jüngst wieder
um eine höchst wichtige bereichert worden sind, kann so, trotz der Verstümmelungen,
die einer lückenlosen Rückberechnung entgegenstehen, eine absolute Chronologie
abgerungen werden.

Die dauerhafteste Schöpfung der Babylonier ist ihre auf dem Sexagesimal-
system aufgebaute Zeitmessung. Jedes Zifferblatt unserer Uhren spiegelt babylo¬
nischen Einfluß wider, nicht minder die Einteilung des Kreises in 360 Grade.
Sie waren auch die ersten, die im Zusammenhang mit der Himmels- und Zeit¬
beobachtung ein auf wissenschaftlichen Prinzipien beruhendes System der Raum¬
messung aufbauten, in welchem die Maßkategorien einander bedingten, indem
Hohlmaß und Gewicht Funktionen des Längenmaßes waren, wie später bei
ihren Schülern, den Griechen und Römern, und wie in unserem metrischen
System.

Aus den babylonischen haben sich die übrigen Maße und Gewichte des
Altertums vielverzweigt entwickelt. Das Nebeneinanderstehen einer gemeinen
und einer erhöhten, den Vorrechten für Könige und Tempeln dienenden Gewichts¬
norm, das sich in den Hohlmaßen wiederholt, erklärt eine Reihe von Er¬
scheinungen der für die Verkehrsgeschichte so wichtigen Maß- und Münzkunde,
die bisher als Regellosigkeit ausgelegt wurden und vielfach mit Unrecht auch
heute noch werden"*). Wie heute gebräuchliche Gewichtsnormen uralte Größen
des Altertums darstellen -- so das in Zolotniki "Goldstücke" zerfallende,
russische Pfund, die leichte babylonische Goldmine gemeiner Norm --, so lebt
auch der seltsame Brauch der Sondergewichte in unseren Tagen fort: in Rom
wog man noch im neunzehnten Jahrhundert mit Wagen, die pro 100 Pfund
vielmehr auf 104 Pfund lauteten. Auch fehlt es nicht an mittelalterlichen
und neueren selbständig entwickelten Analogien, die nur auf verwandten An¬
schauungen beruhen.

Assur, die alte Hauptstadt Assyriens, am rechten westlichen Tigrisufer be¬
legen, bildete einen vorgeschobenen Posten des im Kerne östlicheren Gebietes.
Die Stadt mußte daher gegen mesopotamische Angriffe verteidigt werden. So
haben uns die deutschen Ausgrabungen hier die Entwicklung und Anlage einer
assyrischen Festung**') kennen gelehrt. -- doppelt wichtig, weil die Assyrer in
vieler Hinsicht als die mittelbaren Lehrmeister des gesamten Altertums (die
Makedonier nicht ausgeschlossen) in der Befestigungs- und Belagerungstechnik
zu gelten haben.





*) K, X. Kugler: "Sternkunde und Sterndienst in Babel". II, 1. Münster 191,2.
**) C, F. Lehmann-Haupt:, "Vergleichende Metrologie und keilinschriftliche Gewichts¬
kunde", Leipzig 1912,""
***) W, Andrae: "Die Festungswerke von Assur und "Die Stelenreihen in Assur (23.
u, 24. Wiss. Veröff. d. Deutschen Orient-Gesellschaft), Leipzig 1913.
Der alte Orient und seine Beziehungen zum Westen

gefunden haben*). Da sie den Herrscher und dessen Regierungsjahr nennen,
aus dem sie herrühren, so wird ein fester Punkt gewonnen, und den reichlich
vorhandenen Dynastien- und Königslisten auf Tontafeln, die erst jüngst wieder
um eine höchst wichtige bereichert worden sind, kann so, trotz der Verstümmelungen,
die einer lückenlosen Rückberechnung entgegenstehen, eine absolute Chronologie
abgerungen werden.

Die dauerhafteste Schöpfung der Babylonier ist ihre auf dem Sexagesimal-
system aufgebaute Zeitmessung. Jedes Zifferblatt unserer Uhren spiegelt babylo¬
nischen Einfluß wider, nicht minder die Einteilung des Kreises in 360 Grade.
Sie waren auch die ersten, die im Zusammenhang mit der Himmels- und Zeit¬
beobachtung ein auf wissenschaftlichen Prinzipien beruhendes System der Raum¬
messung aufbauten, in welchem die Maßkategorien einander bedingten, indem
Hohlmaß und Gewicht Funktionen des Längenmaßes waren, wie später bei
ihren Schülern, den Griechen und Römern, und wie in unserem metrischen
System.

Aus den babylonischen haben sich die übrigen Maße und Gewichte des
Altertums vielverzweigt entwickelt. Das Nebeneinanderstehen einer gemeinen
und einer erhöhten, den Vorrechten für Könige und Tempeln dienenden Gewichts¬
norm, das sich in den Hohlmaßen wiederholt, erklärt eine Reihe von Er¬
scheinungen der für die Verkehrsgeschichte so wichtigen Maß- und Münzkunde,
die bisher als Regellosigkeit ausgelegt wurden und vielfach mit Unrecht auch
heute noch werden"*). Wie heute gebräuchliche Gewichtsnormen uralte Größen
des Altertums darstellen — so das in Zolotniki „Goldstücke" zerfallende,
russische Pfund, die leichte babylonische Goldmine gemeiner Norm —, so lebt
auch der seltsame Brauch der Sondergewichte in unseren Tagen fort: in Rom
wog man noch im neunzehnten Jahrhundert mit Wagen, die pro 100 Pfund
vielmehr auf 104 Pfund lauteten. Auch fehlt es nicht an mittelalterlichen
und neueren selbständig entwickelten Analogien, die nur auf verwandten An¬
schauungen beruhen.

Assur, die alte Hauptstadt Assyriens, am rechten westlichen Tigrisufer be¬
legen, bildete einen vorgeschobenen Posten des im Kerne östlicheren Gebietes.
Die Stadt mußte daher gegen mesopotamische Angriffe verteidigt werden. So
haben uns die deutschen Ausgrabungen hier die Entwicklung und Anlage einer
assyrischen Festung**') kennen gelehrt. — doppelt wichtig, weil die Assyrer in
vieler Hinsicht als die mittelbaren Lehrmeister des gesamten Altertums (die
Makedonier nicht ausgeschlossen) in der Befestigungs- und Belagerungstechnik
zu gelten haben.





*) K, X. Kugler: „Sternkunde und Sterndienst in Babel". II, 1. Münster 191,2.
**) C, F. Lehmann-Haupt:, „Vergleichende Metrologie und keilinschriftliche Gewichts¬
kunde", Leipzig 1912,""
***) W, Andrae: „Die Festungswerke von Assur und „Die Stelenreihen in Assur (23.
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[0311] Der alte Orient und seine Beziehungen zum Westen gefunden haben*). Da sie den Herrscher und dessen Regierungsjahr nennen, aus dem sie herrühren, so wird ein fester Punkt gewonnen, und den reichlich vorhandenen Dynastien- und Königslisten auf Tontafeln, die erst jüngst wieder um eine höchst wichtige bereichert worden sind, kann so, trotz der Verstümmelungen, die einer lückenlosen Rückberechnung entgegenstehen, eine absolute Chronologie abgerungen werden. Die dauerhafteste Schöpfung der Babylonier ist ihre auf dem Sexagesimal- system aufgebaute Zeitmessung. Jedes Zifferblatt unserer Uhren spiegelt babylo¬ nischen Einfluß wider, nicht minder die Einteilung des Kreises in 360 Grade. Sie waren auch die ersten, die im Zusammenhang mit der Himmels- und Zeit¬ beobachtung ein auf wissenschaftlichen Prinzipien beruhendes System der Raum¬ messung aufbauten, in welchem die Maßkategorien einander bedingten, indem Hohlmaß und Gewicht Funktionen des Längenmaßes waren, wie später bei ihren Schülern, den Griechen und Römern, und wie in unserem metrischen System. Aus den babylonischen haben sich die übrigen Maße und Gewichte des Altertums vielverzweigt entwickelt. Das Nebeneinanderstehen einer gemeinen und einer erhöhten, den Vorrechten für Könige und Tempeln dienenden Gewichts¬ norm, das sich in den Hohlmaßen wiederholt, erklärt eine Reihe von Er¬ scheinungen der für die Verkehrsgeschichte so wichtigen Maß- und Münzkunde, die bisher als Regellosigkeit ausgelegt wurden und vielfach mit Unrecht auch heute noch werden"*). Wie heute gebräuchliche Gewichtsnormen uralte Größen des Altertums darstellen — so das in Zolotniki „Goldstücke" zerfallende, russische Pfund, die leichte babylonische Goldmine gemeiner Norm —, so lebt auch der seltsame Brauch der Sondergewichte in unseren Tagen fort: in Rom wog man noch im neunzehnten Jahrhundert mit Wagen, die pro 100 Pfund vielmehr auf 104 Pfund lauteten. Auch fehlt es nicht an mittelalterlichen und neueren selbständig entwickelten Analogien, die nur auf verwandten An¬ schauungen beruhen. Assur, die alte Hauptstadt Assyriens, am rechten westlichen Tigrisufer be¬ legen, bildete einen vorgeschobenen Posten des im Kerne östlicheren Gebietes. Die Stadt mußte daher gegen mesopotamische Angriffe verteidigt werden. So haben uns die deutschen Ausgrabungen hier die Entwicklung und Anlage einer assyrischen Festung**') kennen gelehrt. — doppelt wichtig, weil die Assyrer in vieler Hinsicht als die mittelbaren Lehrmeister des gesamten Altertums (die Makedonier nicht ausgeschlossen) in der Befestigungs- und Belagerungstechnik zu gelten haben. *) K, X. Kugler: „Sternkunde und Sterndienst in Babel". II, 1. Münster 191,2. **) C, F. Lehmann-Haupt:, „Vergleichende Metrologie und keilinschriftliche Gewichts¬ kunde", Leipzig 1912,"" ***) W, Andrae: „Die Festungswerke von Assur und „Die Stelenreihen in Assur (23. u, 24. Wiss. Veröff. d. Deutschen Orient-Gesellschaft), Leipzig 1913.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/311>, abgerufen am 01.07.2024.