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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Lin Streifzug in die Volksetymologie und Volksmythologie

greifen. Nicht bloß schriftlichen sind es, die hier den Weg weisen, auch die
ältesten bildlichen Darstellungen spielen dabei eine Rolle, namentlich soweit sie
mit geheiligten Bräuchen in Zusammenhang stehen. Hierhin gehören vor allem
die Feiern religiöser Feste und die bei ihnen gespendeten Opfer. Solche Dar¬
stellungen liefert nicht bloß die Skulptur, sondern auch sehr unbewußt manches
von dem, was die arbeitende Menschenhand im Getriebe des täglichen Lebens
von langher bis in die Gegenwart für jeden Hausstand schuf und noch schafft.
Darunter spielen mehr, als auf den ersten Blick glaublich erscheint, Gebäcke eine
Rolle, wie sie der Bäcker oder die Hausfrau aus unschwer gefügigem Material
von Generation zu Generation gewohnheitsmäßig mit den einfachsten und natür¬
lichsten, sich eigentlich von selbst ergebenden Handgriffen formen. Was wäre
wohl natürlicher, als daß derjenige, dem die Aufgabe gestellt ist, einen Klumpen
zurechtgemachten Teiges zu backen, zunächst auf die Bildung runder oder läng¬
licher Laibe Brot verfällt, dann aber, wenn er etwas Besonderes schaffen will,
darauf, den Teig zu schmalen Streifen in die Länge zu ziehen und, weil solches
schmale Gebäck weder für ihn, noch für den, der es verwenden soll, härtlich ist,
die zwei Spitzen, in die es naturgemäß ausläuft, umbiegt, so daß sie sich nähern
oder zu einem Ringe vereinen? Die ältesten Gebäcke werden großen Maßes
und einfachster Gestalt gewesen sein, erst die späteren klein und in der Form
künstlich. Die Gebäcke, die so entstehen, sind eine Quelle, die sowohl für
mythologische wie etymologische Forschung nicht zu mißachten ist, und sie sind
als solche bereits mannigfach literarisch verwertet worden, indes noch keineswegs
erschöpfend. Ein Beispiel mag das lehren.

So ziemlich jeder Deutsche kennt eine "Bretzel"; wie viele wissen den Ur¬
sprung des Wortes, wie viele seine Bedeutung? Und doch hat jedermann, der
die Feder niederlegend, darüber mit untergeschlagenen Armen nachsinnt, un¬
bewußt im wahrsten Sinne des Wortes die Bretzel "vor sich", wenn er gesenkten
Hauptes seinen Blick auf sich selbst richtet. Denn nichts anderes gibt die Bretzel
wieder, als eine Nachbildung seiner untergeschlagenen Arme, zwar nicht in ihrer
vollen Größe, aber doch im Kleinen. Gerade zu Ehren des letzteren Umstandes
heißt das Gebäck Bretzel; sonst müßte es Bretze heißen. Bretzel ist nur das
Diminutiv von Bretze, einem uns verloren gegangenen Worte, das in Grimms
Deutschem Wörterbuche aufgeführt wird mit der Erläuterung: Zpira pi8toria
paris tiZuram draLliiorum plicatorum Kaden8, also ein in Gestalt unter¬
geschlagener Arme gebackener Brotring. Da die Bretze von der Bretzel verdrängt
ist, so lernt man, daß das Gebäck im Laufe der Zeit an seiner Größe verloren
hat; die Bretzel hat die Überhand erlangt. Die Bretze ist aber gleich der
Bretzel, wie wir wohl alle fühlen, nicht urdeutsch. Sie kam zu uns aus Italien
und wanderte in dessen Sprache aus dem Lateinischen, aber in dieses aus dem
Griechischen: das dortige Wort brackion (Arm) wurde zum lateinischen braekium
und dann zum italienischen bracLio. Schwerlich hat der Italiener das gebackene
Abbild untergeschlagener Arme braLeio genannt; denn so wenig der Deutsche


Lin Streifzug in die Volksetymologie und Volksmythologie

greifen. Nicht bloß schriftlichen sind es, die hier den Weg weisen, auch die
ältesten bildlichen Darstellungen spielen dabei eine Rolle, namentlich soweit sie
mit geheiligten Bräuchen in Zusammenhang stehen. Hierhin gehören vor allem
die Feiern religiöser Feste und die bei ihnen gespendeten Opfer. Solche Dar¬
stellungen liefert nicht bloß die Skulptur, sondern auch sehr unbewußt manches
von dem, was die arbeitende Menschenhand im Getriebe des täglichen Lebens
von langher bis in die Gegenwart für jeden Hausstand schuf und noch schafft.
Darunter spielen mehr, als auf den ersten Blick glaublich erscheint, Gebäcke eine
Rolle, wie sie der Bäcker oder die Hausfrau aus unschwer gefügigem Material
von Generation zu Generation gewohnheitsmäßig mit den einfachsten und natür¬
lichsten, sich eigentlich von selbst ergebenden Handgriffen formen. Was wäre
wohl natürlicher, als daß derjenige, dem die Aufgabe gestellt ist, einen Klumpen
zurechtgemachten Teiges zu backen, zunächst auf die Bildung runder oder läng¬
licher Laibe Brot verfällt, dann aber, wenn er etwas Besonderes schaffen will,
darauf, den Teig zu schmalen Streifen in die Länge zu ziehen und, weil solches
schmale Gebäck weder für ihn, noch für den, der es verwenden soll, härtlich ist,
die zwei Spitzen, in die es naturgemäß ausläuft, umbiegt, so daß sie sich nähern
oder zu einem Ringe vereinen? Die ältesten Gebäcke werden großen Maßes
und einfachster Gestalt gewesen sein, erst die späteren klein und in der Form
künstlich. Die Gebäcke, die so entstehen, sind eine Quelle, die sowohl für
mythologische wie etymologische Forschung nicht zu mißachten ist, und sie sind
als solche bereits mannigfach literarisch verwertet worden, indes noch keineswegs
erschöpfend. Ein Beispiel mag das lehren.

So ziemlich jeder Deutsche kennt eine „Bretzel"; wie viele wissen den Ur¬
sprung des Wortes, wie viele seine Bedeutung? Und doch hat jedermann, der
die Feder niederlegend, darüber mit untergeschlagenen Armen nachsinnt, un¬
bewußt im wahrsten Sinne des Wortes die Bretzel „vor sich", wenn er gesenkten
Hauptes seinen Blick auf sich selbst richtet. Denn nichts anderes gibt die Bretzel
wieder, als eine Nachbildung seiner untergeschlagenen Arme, zwar nicht in ihrer
vollen Größe, aber doch im Kleinen. Gerade zu Ehren des letzteren Umstandes
heißt das Gebäck Bretzel; sonst müßte es Bretze heißen. Bretzel ist nur das
Diminutiv von Bretze, einem uns verloren gegangenen Worte, das in Grimms
Deutschem Wörterbuche aufgeführt wird mit der Erläuterung: Zpira pi8toria
paris tiZuram draLliiorum plicatorum Kaden8, also ein in Gestalt unter¬
geschlagener Arme gebackener Brotring. Da die Bretze von der Bretzel verdrängt
ist, so lernt man, daß das Gebäck im Laufe der Zeit an seiner Größe verloren
hat; die Bretzel hat die Überhand erlangt. Die Bretze ist aber gleich der
Bretzel, wie wir wohl alle fühlen, nicht urdeutsch. Sie kam zu uns aus Italien
und wanderte in dessen Sprache aus dem Lateinischen, aber in dieses aus dem
Griechischen: das dortige Wort brackion (Arm) wurde zum lateinischen braekium
und dann zum italienischen bracLio. Schwerlich hat der Italiener das gebackene
Abbild untergeschlagener Arme braLeio genannt; denn so wenig der Deutsche


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/264>, abgerufen am 24.08.2024.