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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr.

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Ein Streifzug in die Volksetymologie und Volksmythologic

je darauf verfallen wäre, das Wort "Arm" für die Bezeichnung der beiden in
einander geschlagenen Arme zu verwenden, konnte der Italiener dazu kommen,
solche Armverschlingung brsLcio zu nennen. Ein einzelner Arm, in Teig nachgeformt,
hätte nimmermehr die Gestalt einer Bretze angenommen. Anders wurde die
Lage der Dinge, sobald man in dem zu wählenden Worte zum Ausdruck brachte,
daß es sich um beide Arme handle. Das geschah durch den Gebrauch des
Plural, der im Italienischen braeci heißt. Es ist darum wohl zu unterstellen,
daß die Italiener das Gebäck, wenn sie es kannten, bracLl, und nicht etwa
braLew nannten. Aus dem italienischen braLLi-Gebäck lag es denn auch viel
näher, das deutsche Bretze-Gebäck zu entwickeln, als aus einem etwaigen
braLeio - Gebäck. Weiter bildete sich, wie aus dem lateinischen braLllium das
braLkivIum, so aus dem italienischen braeLio das braLLiolo und aus Bretze
die deutsche Bretzel. Sie ist also nicht etwa eine Schöpfung ältester deutscher
Sprache.

Eine in gewisser Beziehung ähnliche Entwicklung aus dem italienischen
braccio vollzog sich im Französischen. LracLio bedeutet nicht bloß den Arm,
sondern auch ein durch die Armeslänge bestimmtes Maß, die italienische wie die
deutsche Elle. Die französische Elle hat etwa die doppelte Länge, also die Länge
beider Arme; sie heißt im Französischen dra8Sö, was anscheinend -- wie die
Bretze -- vom Plural bracci stammt. Während der Italiener dem Worte
braLLio die Doppelbedeutung von Arm und Längenmaß gab, schuf sich der
Franzose aus den beiden Bedeutungen des bmLLio zwei Wörter (dra8 und
das8L), der Deutsche benutzte das italienische bi-aceio nur, um ein Gebäck danach
zu benennen.

Dies Gebäck hatte eine unverkennbare Verwandtschaft mit einem ein¬
facheren und schon deshalb wohl älteren Gebäck, das von seiner Gestalt her
einen urdeutschen Namen trägt. Es bildet einen Kreis, einen Ring und heißt
deshalb Ring oder Kring, verwandelte sich aber mit der Zeit -- genau wie
die Bretze -- in sein Diminutiv, weil es (gleich der Bretze) allmählich mehr
in verkleinerter Form gebacken zu werden pflegte. So entstand der heutige
Kringel. Der "Kring" oder "Ring" als Gebäck ragt aber noch in die neuere
Zeit herüber: denn um 1780 schrieb z. B. Merck aus Darmstadt an Goethe:
"meine Frau läßt schon einen PfinWringen mehr für Sie backen," und
Vilmars "Namenbüchlein" kennt (1865) noch den "Ninkenbecker". Das Ring¬
gebäck ist zwar nach dem Grimmschen Wörterbuch erst seit dem fünfzehnten
Jahrhundert bezeugt, aber "sicher uralt".

Aus erheblich viel früherer Zeit als der gebackene Ring datiert der metallene.
Nach heidnischer altgermanischer Sage besitzt Odin (Wotan) den goldenen Ring
Draupnir, von den? jede neunte Nacht acht ebensolche Ringe niederträufen.
Diesen mit Wotan verbrannten Ring bietet der Diener der Frühlingssonne
Frevr der jungfräulichen Erde Gerda, um sie für seinen Herrn zu gewinnen.
So lehrt die Edda, deren Sagenkreis, gleich dem unserer anderen alten Helden-


Ein Streifzug in die Volksetymologie und Volksmythologic

je darauf verfallen wäre, das Wort „Arm" für die Bezeichnung der beiden in
einander geschlagenen Arme zu verwenden, konnte der Italiener dazu kommen,
solche Armverschlingung brsLcio zu nennen. Ein einzelner Arm, in Teig nachgeformt,
hätte nimmermehr die Gestalt einer Bretze angenommen. Anders wurde die
Lage der Dinge, sobald man in dem zu wählenden Worte zum Ausdruck brachte,
daß es sich um beide Arme handle. Das geschah durch den Gebrauch des
Plural, der im Italienischen braeci heißt. Es ist darum wohl zu unterstellen,
daß die Italiener das Gebäck, wenn sie es kannten, bracLl, und nicht etwa
braLew nannten. Aus dem italienischen braLLi-Gebäck lag es denn auch viel
näher, das deutsche Bretze-Gebäck zu entwickeln, als aus einem etwaigen
braLeio - Gebäck. Weiter bildete sich, wie aus dem lateinischen braLllium das
braLkivIum, so aus dem italienischen braeLio das braLLiolo und aus Bretze
die deutsche Bretzel. Sie ist also nicht etwa eine Schöpfung ältester deutscher
Sprache.

Eine in gewisser Beziehung ähnliche Entwicklung aus dem italienischen
braccio vollzog sich im Französischen. LracLio bedeutet nicht bloß den Arm,
sondern auch ein durch die Armeslänge bestimmtes Maß, die italienische wie die
deutsche Elle. Die französische Elle hat etwa die doppelte Länge, also die Länge
beider Arme; sie heißt im Französischen dra8Sö, was anscheinend — wie die
Bretze — vom Plural bracci stammt. Während der Italiener dem Worte
braLLio die Doppelbedeutung von Arm und Längenmaß gab, schuf sich der
Franzose aus den beiden Bedeutungen des bmLLio zwei Wörter (dra8 und
das8L), der Deutsche benutzte das italienische bi-aceio nur, um ein Gebäck danach
zu benennen.

Dies Gebäck hatte eine unverkennbare Verwandtschaft mit einem ein¬
facheren und schon deshalb wohl älteren Gebäck, das von seiner Gestalt her
einen urdeutschen Namen trägt. Es bildet einen Kreis, einen Ring und heißt
deshalb Ring oder Kring, verwandelte sich aber mit der Zeit — genau wie
die Bretze — in sein Diminutiv, weil es (gleich der Bretze) allmählich mehr
in verkleinerter Form gebacken zu werden pflegte. So entstand der heutige
Kringel. Der „Kring" oder „Ring" als Gebäck ragt aber noch in die neuere
Zeit herüber: denn um 1780 schrieb z. B. Merck aus Darmstadt an Goethe:
„meine Frau läßt schon einen PfinWringen mehr für Sie backen," und
Vilmars „Namenbüchlein" kennt (1865) noch den „Ninkenbecker". Das Ring¬
gebäck ist zwar nach dem Grimmschen Wörterbuch erst seit dem fünfzehnten
Jahrhundert bezeugt, aber „sicher uralt".

Aus erheblich viel früherer Zeit als der gebackene Ring datiert der metallene.
Nach heidnischer altgermanischer Sage besitzt Odin (Wotan) den goldenen Ring
Draupnir, von den? jede neunte Nacht acht ebensolche Ringe niederträufen.
Diesen mit Wotan verbrannten Ring bietet der Diener der Frühlingssonne
Frevr der jungfräulichen Erde Gerda, um sie für seinen Herrn zu gewinnen.
So lehrt die Edda, deren Sagenkreis, gleich dem unserer anderen alten Helden-


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[0265] Ein Streifzug in die Volksetymologie und Volksmythologic je darauf verfallen wäre, das Wort „Arm" für die Bezeichnung der beiden in einander geschlagenen Arme zu verwenden, konnte der Italiener dazu kommen, solche Armverschlingung brsLcio zu nennen. Ein einzelner Arm, in Teig nachgeformt, hätte nimmermehr die Gestalt einer Bretze angenommen. Anders wurde die Lage der Dinge, sobald man in dem zu wählenden Worte zum Ausdruck brachte, daß es sich um beide Arme handle. Das geschah durch den Gebrauch des Plural, der im Italienischen braeci heißt. Es ist darum wohl zu unterstellen, daß die Italiener das Gebäck, wenn sie es kannten, bracLl, und nicht etwa braLew nannten. Aus dem italienischen braLLi-Gebäck lag es denn auch viel näher, das deutsche Bretze-Gebäck zu entwickeln, als aus einem etwaigen braLeio - Gebäck. Weiter bildete sich, wie aus dem lateinischen braLllium das braLkivIum, so aus dem italienischen braeLio das braLLiolo und aus Bretze die deutsche Bretzel. Sie ist also nicht etwa eine Schöpfung ältester deutscher Sprache. Eine in gewisser Beziehung ähnliche Entwicklung aus dem italienischen braccio vollzog sich im Französischen. LracLio bedeutet nicht bloß den Arm, sondern auch ein durch die Armeslänge bestimmtes Maß, die italienische wie die deutsche Elle. Die französische Elle hat etwa die doppelte Länge, also die Länge beider Arme; sie heißt im Französischen dra8Sö, was anscheinend — wie die Bretze — vom Plural bracci stammt. Während der Italiener dem Worte braLLio die Doppelbedeutung von Arm und Längenmaß gab, schuf sich der Franzose aus den beiden Bedeutungen des bmLLio zwei Wörter (dra8 und das8L), der Deutsche benutzte das italienische bi-aceio nur, um ein Gebäck danach zu benennen. Dies Gebäck hatte eine unverkennbare Verwandtschaft mit einem ein¬ facheren und schon deshalb wohl älteren Gebäck, das von seiner Gestalt her einen urdeutschen Namen trägt. Es bildet einen Kreis, einen Ring und heißt deshalb Ring oder Kring, verwandelte sich aber mit der Zeit — genau wie die Bretze — in sein Diminutiv, weil es (gleich der Bretze) allmählich mehr in verkleinerter Form gebacken zu werden pflegte. So entstand der heutige Kringel. Der „Kring" oder „Ring" als Gebäck ragt aber noch in die neuere Zeit herüber: denn um 1780 schrieb z. B. Merck aus Darmstadt an Goethe: „meine Frau läßt schon einen PfinWringen mehr für Sie backen," und Vilmars „Namenbüchlein" kennt (1865) noch den „Ninkenbecker". Das Ring¬ gebäck ist zwar nach dem Grimmschen Wörterbuch erst seit dem fünfzehnten Jahrhundert bezeugt, aber „sicher uralt". Aus erheblich viel früherer Zeit als der gebackene Ring datiert der metallene. Nach heidnischer altgermanischer Sage besitzt Odin (Wotan) den goldenen Ring Draupnir, von den? jede neunte Nacht acht ebensolche Ringe niederträufen. Diesen mit Wotan verbrannten Ring bietet der Diener der Frühlingssonne Frevr der jungfräulichen Erde Gerda, um sie für seinen Herrn zu gewinnen. So lehrt die Edda, deren Sagenkreis, gleich dem unserer anderen alten Helden-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326811/265>, abgerufen am 24.08.2024.