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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Zur Geschichte der modernen Arbeiterbewegung

vereine. Charakteristisch für die russische Gewerkschaftsbewegung ist die Tatsache,
daß lange Zeit hierdurch der größte Teil der Organisationen eine ungesetzliche
Existenz führte und selbst heute noch viele Gewerkschaften illegal arbeiten.

Die unabhängigen Gewerkschaftsorganisationen Belgiens haben in einem
alljährlich stattfindenden Gewerkschaftskongreß eine gewisse lose Zentralisation.
Eine der größten der hier in Frage kommenden Vereinigungen ist die der
Diamantarbeiter in Antwerpen.

Die unparlamentarischen (im Gegensatz zu den sozialistisch-parlamenta¬
rischen) Gewerkschaften der Niederlande haben eine Zentralisation in dem in
den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von einer Reihe damals ton¬
angebender Fachverbände gegründeten "National ^rböiäs-LeLl-LtÄiraat". Größere
unparlamentarische Organisationen der Niederlande sind der im Jahre 1866
gegründete "Allgemeine niederländische Typographenbund" mit 1902 : 1200
und 1909 : 2709 Mitgliedern, die im Jahre 1890 errichtete Maurerföderation
mit 1909 : 600 Mitgliedern und die im Jahre 1905 errichtete freie Zimmerer¬
föderation mit 1909 : 500 Mitgliedern.

Die unabhängigen Gewerkschaftsorganisationen der französischen und
italienischen Schweiz sind teilweise im "Romanischen Gewerkschaftsbund" zen¬
tralisiert. Größere Organisationen sind hier u. a. der im Jahre 1873
gegründete "Typographenbund der romanischen Schweiz" mit 1902 : 692 und
1911 : 800 Mitgliedern, der "Verband der Maurer und Handlanger der
romanischen Schweiz" u. a. in.

Im Gegensatze zu den freien Gewerkschaften Deutschlands verlangt die
"Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften", die anarchistische (auch anarcho-
sozialistische) Zentrale nach ihrem vorliegenden Programm u. a. die Abschaffung
des Systems der Zentralverbände; die Schaffung starker vom proletarischen
Geiste durchdrungenen Lokalorganisationen, die völlig unabhängig von jedem
Beamten der Partei, wie von jeder Parteiherrschast sein sollen; die Verwerfung
jedes Paktierens mit dem Unternehmertum in Form von Tarifverträgen sowie
die Beseitigung aller Unterstützungseinrichtungen.

Zu der anarchistischen Gruppe sind dann noch die tschecho-slawischen Ar¬
beiterorganisationen Österreichs mit der Zentrale "Gewerkschaftskommission in
Prag", die unabhängigen Arbeitervereinigungen Finnlands, die unabhängigen
Arbeitersyndikate Südamerikas und die unabhängige Arbeiterbewegung in Japan,
welche im Jahre 1900 einsetzte, hinzuzuzählen. Bemerkt sei hier noch, daß,
obgleich die Anregung der Errichtung der unabhängigen Organisationen in
Japan von sozialistischer Seite erfolgte, es dem Sozialismus selbst nicht möglich
war, in dieser Arbeiterbewegung die Oberhand zu behalten und er mußte gar
bald seine Herrschaft dem revolutionären Syndikalismus überlassen.*)



*) Hier seien auch nicht die anarchistischen Arbeitervereinigungen in der Landwirtschaft
Frankreichs und Italiens vergessen. Bemerkt sei gleich noch, daß man bei einer Verwendung
der in Frage kommenden Zahlen (Frankreich 1909 : S16 630, Italien 1909 : 426 983 Mit-
Zur Geschichte der modernen Arbeiterbewegung

vereine. Charakteristisch für die russische Gewerkschaftsbewegung ist die Tatsache,
daß lange Zeit hierdurch der größte Teil der Organisationen eine ungesetzliche
Existenz führte und selbst heute noch viele Gewerkschaften illegal arbeiten.

Die unabhängigen Gewerkschaftsorganisationen Belgiens haben in einem
alljährlich stattfindenden Gewerkschaftskongreß eine gewisse lose Zentralisation.
Eine der größten der hier in Frage kommenden Vereinigungen ist die der
Diamantarbeiter in Antwerpen.

Die unparlamentarischen (im Gegensatz zu den sozialistisch-parlamenta¬
rischen) Gewerkschaften der Niederlande haben eine Zentralisation in dem in
den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von einer Reihe damals ton¬
angebender Fachverbände gegründeten „National ^rböiäs-LeLl-LtÄiraat". Größere
unparlamentarische Organisationen der Niederlande sind der im Jahre 1866
gegründete „Allgemeine niederländische Typographenbund" mit 1902 : 1200
und 1909 : 2709 Mitgliedern, die im Jahre 1890 errichtete Maurerföderation
mit 1909 : 600 Mitgliedern und die im Jahre 1905 errichtete freie Zimmerer¬
föderation mit 1909 : 500 Mitgliedern.

Die unabhängigen Gewerkschaftsorganisationen der französischen und
italienischen Schweiz sind teilweise im „Romanischen Gewerkschaftsbund" zen¬
tralisiert. Größere Organisationen sind hier u. a. der im Jahre 1873
gegründete „Typographenbund der romanischen Schweiz" mit 1902 : 692 und
1911 : 800 Mitgliedern, der „Verband der Maurer und Handlanger der
romanischen Schweiz" u. a. in.

Im Gegensatze zu den freien Gewerkschaften Deutschlands verlangt die
„Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften", die anarchistische (auch anarcho-
sozialistische) Zentrale nach ihrem vorliegenden Programm u. a. die Abschaffung
des Systems der Zentralverbände; die Schaffung starker vom proletarischen
Geiste durchdrungenen Lokalorganisationen, die völlig unabhängig von jedem
Beamten der Partei, wie von jeder Parteiherrschast sein sollen; die Verwerfung
jedes Paktierens mit dem Unternehmertum in Form von Tarifverträgen sowie
die Beseitigung aller Unterstützungseinrichtungen.

Zu der anarchistischen Gruppe sind dann noch die tschecho-slawischen Ar¬
beiterorganisationen Österreichs mit der Zentrale „Gewerkschaftskommission in
Prag", die unabhängigen Arbeitervereinigungen Finnlands, die unabhängigen
Arbeitersyndikate Südamerikas und die unabhängige Arbeiterbewegung in Japan,
welche im Jahre 1900 einsetzte, hinzuzuzählen. Bemerkt sei hier noch, daß,
obgleich die Anregung der Errichtung der unabhängigen Organisationen in
Japan von sozialistischer Seite erfolgte, es dem Sozialismus selbst nicht möglich
war, in dieser Arbeiterbewegung die Oberhand zu behalten und er mußte gar
bald seine Herrschaft dem revolutionären Syndikalismus überlassen.*)



*) Hier seien auch nicht die anarchistischen Arbeitervereinigungen in der Landwirtschaft
Frankreichs und Italiens vergessen. Bemerkt sei gleich noch, daß man bei einer Verwendung
der in Frage kommenden Zahlen (Frankreich 1909 : S16 630, Italien 1909 : 426 983 Mit-
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[0078] Zur Geschichte der modernen Arbeiterbewegung vereine. Charakteristisch für die russische Gewerkschaftsbewegung ist die Tatsache, daß lange Zeit hierdurch der größte Teil der Organisationen eine ungesetzliche Existenz führte und selbst heute noch viele Gewerkschaften illegal arbeiten. Die unabhängigen Gewerkschaftsorganisationen Belgiens haben in einem alljährlich stattfindenden Gewerkschaftskongreß eine gewisse lose Zentralisation. Eine der größten der hier in Frage kommenden Vereinigungen ist die der Diamantarbeiter in Antwerpen. Die unparlamentarischen (im Gegensatz zu den sozialistisch-parlamenta¬ rischen) Gewerkschaften der Niederlande haben eine Zentralisation in dem in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts von einer Reihe damals ton¬ angebender Fachverbände gegründeten „National ^rböiäs-LeLl-LtÄiraat". Größere unparlamentarische Organisationen der Niederlande sind der im Jahre 1866 gegründete „Allgemeine niederländische Typographenbund" mit 1902 : 1200 und 1909 : 2709 Mitgliedern, die im Jahre 1890 errichtete Maurerföderation mit 1909 : 600 Mitgliedern und die im Jahre 1905 errichtete freie Zimmerer¬ föderation mit 1909 : 500 Mitgliedern. Die unabhängigen Gewerkschaftsorganisationen der französischen und italienischen Schweiz sind teilweise im „Romanischen Gewerkschaftsbund" zen¬ tralisiert. Größere Organisationen sind hier u. a. der im Jahre 1873 gegründete „Typographenbund der romanischen Schweiz" mit 1902 : 692 und 1911 : 800 Mitgliedern, der „Verband der Maurer und Handlanger der romanischen Schweiz" u. a. in. Im Gegensatze zu den freien Gewerkschaften Deutschlands verlangt die „Freie Vereinigung deutscher Gewerkschaften", die anarchistische (auch anarcho- sozialistische) Zentrale nach ihrem vorliegenden Programm u. a. die Abschaffung des Systems der Zentralverbände; die Schaffung starker vom proletarischen Geiste durchdrungenen Lokalorganisationen, die völlig unabhängig von jedem Beamten der Partei, wie von jeder Parteiherrschast sein sollen; die Verwerfung jedes Paktierens mit dem Unternehmertum in Form von Tarifverträgen sowie die Beseitigung aller Unterstützungseinrichtungen. Zu der anarchistischen Gruppe sind dann noch die tschecho-slawischen Ar¬ beiterorganisationen Österreichs mit der Zentrale „Gewerkschaftskommission in Prag", die unabhängigen Arbeitervereinigungen Finnlands, die unabhängigen Arbeitersyndikate Südamerikas und die unabhängige Arbeiterbewegung in Japan, welche im Jahre 1900 einsetzte, hinzuzuzählen. Bemerkt sei hier noch, daß, obgleich die Anregung der Errichtung der unabhängigen Organisationen in Japan von sozialistischer Seite erfolgte, es dem Sozialismus selbst nicht möglich war, in dieser Arbeiterbewegung die Oberhand zu behalten und er mußte gar bald seine Herrschaft dem revolutionären Syndikalismus überlassen.*) *) Hier seien auch nicht die anarchistischen Arbeitervereinigungen in der Landwirtschaft Frankreichs und Italiens vergessen. Bemerkt sei gleich noch, daß man bei einer Verwendung der in Frage kommenden Zahlen (Frankreich 1909 : S16 630, Italien 1909 : 426 983 Mit-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/78>, abgerufen am 19.10.2024.