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Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.

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Kinematograph und Zeitgeschichte

Vater der schwedischen Gymnastik; andere Bilder behandelten originelle Esel-
rennen auf der Bellecourer Kirmeß, das vierzigjährige Stiftungsfest eines Wiener
Veteranenvereins, sowie den begeisterten Empfang Königs Alphons bei seiner
Rückkehr aus Paris; aus Fort Williams am Ontario konnten wir die mit
kanadischen Korn beladenen Dampfer den Hafen, in dem sie bisher vom Eise
eingeschlossen waren, verlassen sehen, aus Lübeck ein Großfeuer und aus Berlin
die Ankunft zu den Hochzeitsfeierlichkeiten der Prinzessin Viktoria Luise; und die
Gaumont-Woche, nicht weniger reichhaltig und vielseitig, brachte in derselben
Zeit Bilder über die Mode in Paris, über das Bundesfest der Turner Frank¬
reichs in Vichy, über den Stapellauf des Panzers "Alfonso XIII.," in Ferrol,
Bilder aus Skutari während des Balkankrieges, über ein anläßlich der Gedenk¬
feier des Jahres 1813 veranstaltetes Volkstrachtenfest, sowie über Versuche mit
Wasseischuhen bayerischer Pioniere auf der Jsar und über die Hochzeitsfeier¬
lichkeiten der Prinzessin Viktoria Luise von Preußen mit dem Prinzen Ernst
August von Cumberland.

Man mag aber auch von der Annahme ausgehen, daß derartige bunt"
scheckige Darbietungen, die auf der weißen Wand im schnellen Wechsel im Nu
an uns vorüberhuschen, viel Gutes nicht stiften können, mag man sogar zugeben,
daß der Hang zur Oberflächlichkeit, eine gewisse seichte Auffassung, hierdurch
bestärkt werden kann, so wäre das doch keineswegs ein Grund, diesen aktuellen
Darbietungen gleichgültig oder gar unfreundlich gegenüber zu stehen.

Daß nicht erst der Kinematograph die Neigung zu seichten Zerstreuungen
geschaffen hat -- wenngleich er sie vielleicht verstärkt haben mag --, dürfte
unbestreitbar sein. Wer die Entwicklung der Tagespresse, oder wenigstens eines
beträchtlichen Teiles der Tagespresse, auch zu Zeiten, wo der Kinematograph
noch nicht die große Rolle als Volksunterhaltungsmittel wie heutzutage spielte,
wer die Wiedergabe aktueller Ereignisse in den Tageszeitungen und besonders
in den wie Pilze ans dem Boden schießenden populären illustrierten Wochen-
schriften beobachtet hat, wer die Freude unserer Generation an faden Operetten
und seichten Schwanken mit Bedauern konstatiert hat, wer den Spezialitäten -
theatern und Tingeltangeln einen besonders kulturfördernden Einfluß nicht bei¬
mißt, der wird uns recht geben, daß der Kinematograph mit seinen aktuellen-
Darbietungen lediglich einem vorhandenen Bedürfnis entspricht.

Damit ist allerdings noch nicht gesagt, daß die Bestärkung dieses Bedürf¬
nisses durch die Kinotheater als erwünscht zu bezeichnen ist. Wir scheuen uns
aber uicht. auch dieses Axiom zu verfechten.

Wenn auch eingehende massenpsychologische oder Einzeluntersuchungen
darüber noch fehlen, so gehen wir doch kaum fehl, wenn wir von der Voraus¬
setzung ausgehen, daß es dem modernen Menschen wirklich ein Bedürfnis ist,
von der nervenaufreibenden rastlosen Arbeit des Tages sich in seinen Muße¬
stunden zu erholen, zum Teil gerade dadurch, daß dem Geist leichte, nicht
ermüdende, ihn angenehm ablenkende Unterhaltung geboten wird. Nicht jeder


Kinematograph und Zeitgeschichte

Vater der schwedischen Gymnastik; andere Bilder behandelten originelle Esel-
rennen auf der Bellecourer Kirmeß, das vierzigjährige Stiftungsfest eines Wiener
Veteranenvereins, sowie den begeisterten Empfang Königs Alphons bei seiner
Rückkehr aus Paris; aus Fort Williams am Ontario konnten wir die mit
kanadischen Korn beladenen Dampfer den Hafen, in dem sie bisher vom Eise
eingeschlossen waren, verlassen sehen, aus Lübeck ein Großfeuer und aus Berlin
die Ankunft zu den Hochzeitsfeierlichkeiten der Prinzessin Viktoria Luise; und die
Gaumont-Woche, nicht weniger reichhaltig und vielseitig, brachte in derselben
Zeit Bilder über die Mode in Paris, über das Bundesfest der Turner Frank¬
reichs in Vichy, über den Stapellauf des Panzers „Alfonso XIII.," in Ferrol,
Bilder aus Skutari während des Balkankrieges, über ein anläßlich der Gedenk¬
feier des Jahres 1813 veranstaltetes Volkstrachtenfest, sowie über Versuche mit
Wasseischuhen bayerischer Pioniere auf der Jsar und über die Hochzeitsfeier¬
lichkeiten der Prinzessin Viktoria Luise von Preußen mit dem Prinzen Ernst
August von Cumberland.

Man mag aber auch von der Annahme ausgehen, daß derartige bunt"
scheckige Darbietungen, die auf der weißen Wand im schnellen Wechsel im Nu
an uns vorüberhuschen, viel Gutes nicht stiften können, mag man sogar zugeben,
daß der Hang zur Oberflächlichkeit, eine gewisse seichte Auffassung, hierdurch
bestärkt werden kann, so wäre das doch keineswegs ein Grund, diesen aktuellen
Darbietungen gleichgültig oder gar unfreundlich gegenüber zu stehen.

Daß nicht erst der Kinematograph die Neigung zu seichten Zerstreuungen
geschaffen hat — wenngleich er sie vielleicht verstärkt haben mag —, dürfte
unbestreitbar sein. Wer die Entwicklung der Tagespresse, oder wenigstens eines
beträchtlichen Teiles der Tagespresse, auch zu Zeiten, wo der Kinematograph
noch nicht die große Rolle als Volksunterhaltungsmittel wie heutzutage spielte,
wer die Wiedergabe aktueller Ereignisse in den Tageszeitungen und besonders
in den wie Pilze ans dem Boden schießenden populären illustrierten Wochen-
schriften beobachtet hat, wer die Freude unserer Generation an faden Operetten
und seichten Schwanken mit Bedauern konstatiert hat, wer den Spezialitäten -
theatern und Tingeltangeln einen besonders kulturfördernden Einfluß nicht bei¬
mißt, der wird uns recht geben, daß der Kinematograph mit seinen aktuellen-
Darbietungen lediglich einem vorhandenen Bedürfnis entspricht.

Damit ist allerdings noch nicht gesagt, daß die Bestärkung dieses Bedürf¬
nisses durch die Kinotheater als erwünscht zu bezeichnen ist. Wir scheuen uns
aber uicht. auch dieses Axiom zu verfechten.

Wenn auch eingehende massenpsychologische oder Einzeluntersuchungen
darüber noch fehlen, so gehen wir doch kaum fehl, wenn wir von der Voraus¬
setzung ausgehen, daß es dem modernen Menschen wirklich ein Bedürfnis ist,
von der nervenaufreibenden rastlosen Arbeit des Tages sich in seinen Muße¬
stunden zu erholen, zum Teil gerade dadurch, daß dem Geist leichte, nicht
ermüdende, ihn angenehm ablenkende Unterhaltung geboten wird. Nicht jeder


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[0627] Kinematograph und Zeitgeschichte Vater der schwedischen Gymnastik; andere Bilder behandelten originelle Esel- rennen auf der Bellecourer Kirmeß, das vierzigjährige Stiftungsfest eines Wiener Veteranenvereins, sowie den begeisterten Empfang Königs Alphons bei seiner Rückkehr aus Paris; aus Fort Williams am Ontario konnten wir die mit kanadischen Korn beladenen Dampfer den Hafen, in dem sie bisher vom Eise eingeschlossen waren, verlassen sehen, aus Lübeck ein Großfeuer und aus Berlin die Ankunft zu den Hochzeitsfeierlichkeiten der Prinzessin Viktoria Luise; und die Gaumont-Woche, nicht weniger reichhaltig und vielseitig, brachte in derselben Zeit Bilder über die Mode in Paris, über das Bundesfest der Turner Frank¬ reichs in Vichy, über den Stapellauf des Panzers „Alfonso XIII.," in Ferrol, Bilder aus Skutari während des Balkankrieges, über ein anläßlich der Gedenk¬ feier des Jahres 1813 veranstaltetes Volkstrachtenfest, sowie über Versuche mit Wasseischuhen bayerischer Pioniere auf der Jsar und über die Hochzeitsfeier¬ lichkeiten der Prinzessin Viktoria Luise von Preußen mit dem Prinzen Ernst August von Cumberland. Man mag aber auch von der Annahme ausgehen, daß derartige bunt" scheckige Darbietungen, die auf der weißen Wand im schnellen Wechsel im Nu an uns vorüberhuschen, viel Gutes nicht stiften können, mag man sogar zugeben, daß der Hang zur Oberflächlichkeit, eine gewisse seichte Auffassung, hierdurch bestärkt werden kann, so wäre das doch keineswegs ein Grund, diesen aktuellen Darbietungen gleichgültig oder gar unfreundlich gegenüber zu stehen. Daß nicht erst der Kinematograph die Neigung zu seichten Zerstreuungen geschaffen hat — wenngleich er sie vielleicht verstärkt haben mag —, dürfte unbestreitbar sein. Wer die Entwicklung der Tagespresse, oder wenigstens eines beträchtlichen Teiles der Tagespresse, auch zu Zeiten, wo der Kinematograph noch nicht die große Rolle als Volksunterhaltungsmittel wie heutzutage spielte, wer die Wiedergabe aktueller Ereignisse in den Tageszeitungen und besonders in den wie Pilze ans dem Boden schießenden populären illustrierten Wochen- schriften beobachtet hat, wer die Freude unserer Generation an faden Operetten und seichten Schwanken mit Bedauern konstatiert hat, wer den Spezialitäten - theatern und Tingeltangeln einen besonders kulturfördernden Einfluß nicht bei¬ mißt, der wird uns recht geben, daß der Kinematograph mit seinen aktuellen- Darbietungen lediglich einem vorhandenen Bedürfnis entspricht. Damit ist allerdings noch nicht gesagt, daß die Bestärkung dieses Bedürf¬ nisses durch die Kinotheater als erwünscht zu bezeichnen ist. Wir scheuen uns aber uicht. auch dieses Axiom zu verfechten. Wenn auch eingehende massenpsychologische oder Einzeluntersuchungen darüber noch fehlen, so gehen wir doch kaum fehl, wenn wir von der Voraus¬ setzung ausgehen, daß es dem modernen Menschen wirklich ein Bedürfnis ist, von der nervenaufreibenden rastlosen Arbeit des Tages sich in seinen Muße¬ stunden zu erholen, zum Teil gerade dadurch, daß dem Geist leichte, nicht ermüdende, ihn angenehm ablenkende Unterhaltung geboten wird. Nicht jeder

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341897_326169/627>, abgerufen am 19.10.2024.