Die Grenzboten. Jg. 72, 1913, Drittes Vierteljahr.Kinematograph und Seitgeschichte ist fähig oder wenigstens an allen Tagen imstande, nach acht- bis zehnstündiger Es kommen aber noch eine ganze Reihe weiterer Momente hinzu, welche Wechselt auch die Länge der Programme in den einzelnen Kinotheatern, so Nimmt man noch hinzu, daß auf diese Weise doch Hunderttausenden Ge¬ Kinematograph und Seitgeschichte ist fähig oder wenigstens an allen Tagen imstande, nach acht- bis zehnstündiger Es kommen aber noch eine ganze Reihe weiterer Momente hinzu, welche Wechselt auch die Länge der Programme in den einzelnen Kinotheatern, so Nimmt man noch hinzu, daß auf diese Weise doch Hunderttausenden Ge¬ <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0628" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/326798"/> <fw type="header" place="top"> Kinematograph und Seitgeschichte</fw><lb/> <p xml:id="ID_3070" prev="#ID_3069"> ist fähig oder wenigstens an allen Tagen imstande, nach acht- bis zehnstündiger<lb/> oder noch längerer körperlicher oder geistiger Arbeit sich weiterzubilden oder auch<lb/> nur sich durch wieder Nervenkraft und geistige Arbeit erfordernde Lektüre gehalt¬<lb/> voller Romane oder Anschauen gedankenreicher guter Dramatik zu erquicken.<lb/> Die Fähigkeit dazu ist nur den wenigsten eigen, und wohl auch ihnen nicht<lb/> immer in gleichem Maße. Wer dies nicht berücksichtigt, wird niemals die Be¬<lb/> deutung des Kinotheaters für das Volk voll verstehen können, wird kein Ver¬<lb/> ständnis für den ungeheuer schnellen Aufschwung haben, welchen die Lichtbild¬<lb/> theater in allen Kulturländern genommen haben und wird die Gefahr allzu<lb/> rigoroser Maßnahmen gegen die Kinotheater nicht richtig einschätzen können.<lb/> Daß bei dieser Erschöpfung des Gehirns nach des Tages Last und Sorgen<lb/> die kinematographische Vorführung aktueller Begebenheiten eine verhältnis¬<lb/> mäßig harmlose Rolle spielt, wird man kaum bezweifeln können. Schon dies<lb/> Moment würde unseres Erachtens genügen, um die Ausdehnung der kine-<lb/> matographischen Berichterstattung als durchaus erwünscht zu bezeichnen.</p><lb/> <p xml:id="ID_3071"> Es kommen aber noch eine ganze Reihe weiterer Momente hinzu, welche<lb/> in gleicher Richtung liegen.</p><lb/> <p xml:id="ID_3072"> Wechselt auch die Länge der Programme in den einzelnen Kinotheatern, so<lb/> handelt es sich in der Regel doch nur um geringfügige Differenzen, da schon<lb/> die Rücksicht auf seinen Geldbeutel den Kinobesttzer verhindert, die Programm¬<lb/> länge allzusehr auszudehnen. Daraus folgt, daß, je mehr Raum derartige<lb/> aktuelle Begebenheiten — und belehrende Films — auf den einzelnen Pro¬<lb/> grammen einnehmen, desto weniger Platz für andere minderwertigere Films<lb/> bleibt, deren Vorführung weit weniger erwünscht ist, insbesonderer dramatischer<lb/> Films, welche aus ethischen oder doch aus ästhetischen Gründen in der Regel<lb/> nicht als erwünscht bezeichnet werden können, ja die nicht selten sogar im<lb/> höchsten Grade schädlich wirken. Wenngleich der Kampf gegen die Schundfilms<lb/> im ethischen Sinne zunächst vor allem mit Hilfe gesetzlicher Repressivmatzregeln<lb/> geführt werden nutz, so ist damit doch keineswegs gesagt, datz nicht auch alles<lb/> versucht werden sollte, wodurch man in positiver Weise diesen Kampf gegen die<lb/> Schundftlms fördern könnte. Eines dieser Mittel, dessen Tragweite gar nicht<lb/> unterschätzt werden darf, ist das Streben nach häufigerer Vorführung zeit¬<lb/> geschichtlicher Films.</p><lb/> <p xml:id="ID_3073" next="#ID_3074"> Nimmt man noch hinzu, daß auf diese Weise doch Hunderttausenden Ge¬<lb/> legenheit gegeben wird, irgendein bemerkenswertes Ereignis, an welchem sie<lb/> Interesse haben, das zu sehen ihnen sonst aber nicht möglich wäre, in leben¬<lb/> diger Darstellung zu schauen und zwar unendlich viel besser, als auch die beste<lb/> Photographie es wiederzugeben vermöchte, so wird man zugeben müssen, daß<lb/> nichts verkehrter wäre, als wenn man diesen aktuellen Bildern unsympathisch<lb/> gegenüberstehen und, nicht im Gegenteil, alles tun wollte, um ihnen größere<lb/> Verbreitung zu verschaffen. Wer beispielsweise kürzlich die gehobene Stimmung<lb/> anläßlich der Vermählung der Prinzessin Viktoria Luise miterlebt hat, wer</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0628]
Kinematograph und Seitgeschichte
ist fähig oder wenigstens an allen Tagen imstande, nach acht- bis zehnstündiger
oder noch längerer körperlicher oder geistiger Arbeit sich weiterzubilden oder auch
nur sich durch wieder Nervenkraft und geistige Arbeit erfordernde Lektüre gehalt¬
voller Romane oder Anschauen gedankenreicher guter Dramatik zu erquicken.
Die Fähigkeit dazu ist nur den wenigsten eigen, und wohl auch ihnen nicht
immer in gleichem Maße. Wer dies nicht berücksichtigt, wird niemals die Be¬
deutung des Kinotheaters für das Volk voll verstehen können, wird kein Ver¬
ständnis für den ungeheuer schnellen Aufschwung haben, welchen die Lichtbild¬
theater in allen Kulturländern genommen haben und wird die Gefahr allzu
rigoroser Maßnahmen gegen die Kinotheater nicht richtig einschätzen können.
Daß bei dieser Erschöpfung des Gehirns nach des Tages Last und Sorgen
die kinematographische Vorführung aktueller Begebenheiten eine verhältnis¬
mäßig harmlose Rolle spielt, wird man kaum bezweifeln können. Schon dies
Moment würde unseres Erachtens genügen, um die Ausdehnung der kine-
matographischen Berichterstattung als durchaus erwünscht zu bezeichnen.
Es kommen aber noch eine ganze Reihe weiterer Momente hinzu, welche
in gleicher Richtung liegen.
Wechselt auch die Länge der Programme in den einzelnen Kinotheatern, so
handelt es sich in der Regel doch nur um geringfügige Differenzen, da schon
die Rücksicht auf seinen Geldbeutel den Kinobesttzer verhindert, die Programm¬
länge allzusehr auszudehnen. Daraus folgt, daß, je mehr Raum derartige
aktuelle Begebenheiten — und belehrende Films — auf den einzelnen Pro¬
grammen einnehmen, desto weniger Platz für andere minderwertigere Films
bleibt, deren Vorführung weit weniger erwünscht ist, insbesonderer dramatischer
Films, welche aus ethischen oder doch aus ästhetischen Gründen in der Regel
nicht als erwünscht bezeichnet werden können, ja die nicht selten sogar im
höchsten Grade schädlich wirken. Wenngleich der Kampf gegen die Schundfilms
im ethischen Sinne zunächst vor allem mit Hilfe gesetzlicher Repressivmatzregeln
geführt werden nutz, so ist damit doch keineswegs gesagt, datz nicht auch alles
versucht werden sollte, wodurch man in positiver Weise diesen Kampf gegen die
Schundftlms fördern könnte. Eines dieser Mittel, dessen Tragweite gar nicht
unterschätzt werden darf, ist das Streben nach häufigerer Vorführung zeit¬
geschichtlicher Films.
Nimmt man noch hinzu, daß auf diese Weise doch Hunderttausenden Ge¬
legenheit gegeben wird, irgendein bemerkenswertes Ereignis, an welchem sie
Interesse haben, das zu sehen ihnen sonst aber nicht möglich wäre, in leben¬
diger Darstellung zu schauen und zwar unendlich viel besser, als auch die beste
Photographie es wiederzugeben vermöchte, so wird man zugeben müssen, daß
nichts verkehrter wäre, als wenn man diesen aktuellen Bildern unsympathisch
gegenüberstehen und, nicht im Gegenteil, alles tun wollte, um ihnen größere
Verbreitung zu verschaffen. Wer beispielsweise kürzlich die gehobene Stimmung
anläßlich der Vermählung der Prinzessin Viktoria Luise miterlebt hat, wer
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